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Full text of "Aus Schloss und Hütte, Erzählungen für Kinder von 8 bis 12 Jahren;"

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The Library 


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University of Toronto 
by 


Dr, F. O. L. Fischer 


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Die Zugendſchriften der Frau Ottilie Wildermuth. 


Im Verlag von Adolph Krabbe in Stuttgart ſind ferner erſchienen und 
in allen Buchhandlungen vorräthig: 


Ottilie Wildermuth: 


Jugendg ea be. 


Mit ſechs Stahlſtichen von A. Wagenmann. 
Elegant gebunden 1 Rthlr. 12 Sgr. oder 2 fl. 24 kr. rhein. 
Inhalt: Spätes Glück. — Der kluge Bruno. — Eine alte Schuld. — Kor⸗ 


dula's erſte Reife. — Die wunderbare Höhle. — Ein einſam Kind. — Drei 
Schulkameraden. 


* 


Von Berg und Chal. 
Zweite Auflage der Erzählungen und Märchen. 
Mit ſechs Stahlſtichen von Rothbart. 

Elegant gebunden 1 Rthlr. 12 Sgr. oder 2 fl. 24 kr. rhein. 


Inhalt: Das Feenthal. — Eine Königin. — Cherubino und Zephirine. — 
Frau Luna. — Das Steinkreuz. — Peterli von Emmenthal. 


Kindergruß. 


Mit ſechs Stahlſtichen von C. Kolb. 
Elegant gebunden 1 Rthlr. 12 Sgr. oder 2 fl. 24 kr. 1 
Inhalt: Die drei Chriſtbäume. — Klärchens Geneſung. — Der Spie⸗ 
gel der Zwerglein. — Die Nachbarskinder. — Das braune Lenchen. — Der 


Kinder Gebet. — Die drei Schweſtern im Walde. — Die Ferien auf Schloß 
Bärenburg. 


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Erzählungen für Kinder von 8 bis 12 Jahren. 


Von 


Ottilie Wildermuth. 


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Mit ſechs Stahlſtichen nach Originalzeichnungen 


Zweite durchgeſehene Nuflage. 


Stuttgart. 
Verlag von Adolph Krabbe. 


Wörner, 


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Vorwort. 


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Noch einmal will ich einen Ausflug wagen in die Kinderwelt und 
verſuchen, ob ich nicht zu alt geworden bin für die fröhliche Schaar. 
Denn nicht jedem iſt es vergönnt, wie dem ſeligen Chriſtoph Schmied, 
jung zu bleiben mit den Jungen bis in's höchſte Lebensalter. 

Ich habe zwei kleine Märchen mit eingeſchmuggelt, die faſt zu 
kindiſch ſein werden für die eigentlichen jungen Leſer meines Buchs. 
Sie ſind in meinen fröhlichen Mädchentagen gewachſen, wo ich ſo gern 
einen Kreis kleiner Zuhörer um mich verſammelt habe. Auch unter 
den Geſetzten und Verſtändigen meiner jungen Leſer werden wohl Viele 
ſein, die kleinen Geſchwiſtern manchmal etwas vorerzählen ſollen; dazu 
ſeien ihnen die Märchen gegeben. 

„Ein Buch iſt ein Freund, darum wähle dir gute,“ ſagt ein 
Sprichwort; viele dieſer Freunde, mit denen man ſich eine Weile 
ergötzt und unterhält, werden leicht verlaſſen und vergeſſen; mir ſind 


VI Vorwort. 


manche der Bücher aus meiner Jugendzeit wirklich gute Freunde ge⸗ 
blieben, an die ich heute noch mit Freude denke; mein liebſter Wunſch 
wäre erfüllt, wenn auch nur Eine meiner Geſchichten Einigen meiner 


Leſer ſo lieb und eigen würde. 


Tübingen im Mai 1861. 


Ottilie Wildermuth. 


et. 


I. Bärbele's Weihnachten. Mit Bild. 
II. Kann ſein, 's iſt auch jo recht. Mit Bild. 
III. Brüderchen und Schweſterchen. Mit Bild. 

IV. Das Bäumlein im Walde. Mit Bild. 
V. Zwei Märchen für die Kleinſen 
1) Vom Hirſchlein mit den Goldhörnern 
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VI. Krieg und Frieden. Mit Bild 
VII. Emma's Pilgerfahrt. Mit Bild. 


VIII. Die Waſſer im Jahre 1824, oder: Irret euch nicht, Gott läßt fi 


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IX. Balthafars Vepfelbäume - - » >» : 2 > 2. 


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S gloß und Hütte. 2. Aufl | . | 


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Es iſt der heilige Weihnachtsabend. Da herrſcht in der Stadt 
eine emſige, ſtille Geſchäftigkeit in den Häuſern und auf den Straßen: 
die Vorbotin der fröhlichen Beſcheerung. Man ſieht Dienſtboten 
eifrig dahertrippeln, die noch etwas Vergeſſenes oder ſpät Gefertigtes 
auf den Weihnachtstiſch holen müſſen, bunte Wachslichter oder Zucker— 
waaren an den Chriſtbaum; Schuſterjungen tragen ein paar glänzende 

nagelneue Stiefeln, der Sattler bringt das neubeſchlagene Wiegen- 
pferd, die Putzjungfer ein roſenrothes Hütchen, — alles noch zur 
Verherrlichung des Feſtes. 

Oben, in der großen Stube, wo das Licht ſo verheißungsvoll 
durch die Gardinen ſchimmert, da waltet die Mutter als die Stell- 
vertreterin des lieben Chriſtkindes; ſie ordnet und rüſtet und bereitet 
und die Kinder ſitzen mit mühſam bezähmter Ungeduld in der Kin— 
derſtube, um auf den glückſeligen Augenblick zu warten, wo der Ruf 
ertönt und ihnen der Lichtglanz entgegenſtrömt. 

Auf dem Dorfe wird, in Schwaben wenigſtens, der Chriſtabend 
nicht ſo umſtändlich gefeiert: er gleicht dort mehr jener wunderbaren 
Nacht, wo in tiefer Stille im armen Stalle der Glanz der hei— 
ligen Weihnacht aufging, wo nur ſchlichte Hirten ſich ſammelten 


u. Bärbele's Weihnachten. 


um die Krippe und hoch oben vom Himmel der ſelige Feſtchor 
erklang. 

Sobald es dunkel wird, werden Kunkeln und Spinnräder, alles 
Arbeitsgeräthe bei Seite geſtellt; „ſeid ſtill, Kinder, 's iſt der hei⸗ 
lige Abend,“ ermahnt man die Kleinen in jedem ordentlichen Haus, 
der Vater liest wohl in der Bibel oder man plaudert zuſammen 
von alten Zeiten und geht bei guter Zeit zur Ruh. . 

Die einfache Beſcheerung macht den Müttern auf dem Dorfe 
wenig Sorge und Müh. Ein Weihnachtsbaum wird meiſt nur den 
kleinſten Kindern angezündet; man beſcheert da in der Stille der 
Nacht, ſo daß die Kinder früh Morgens ihre kleinen Gaben am 
Bett finden; ein Paar Aepfel und Nüſſe, wenn's hoch kommt, ein 
Lebkuchenherz! nur wer ſo glücklich iſt, einen wohlhabenden Pathen 
oder Pathin zu haben, darf am Morgen des Weihnachtsfeſtes einen 
Beſuch bei ihnen machen mit der Frage: „Guten Morgen Dote und 
Göderich, was hat's Chriſtkind gebracht?“ Gibt es dann ein 
Tellerchen mit Backwerk, ein Halstüchlein oder eine neue Weſte, ſo 
iſt das ſchon ein unerhörter Reichthum. | 

Es war ein klarer, kalter Winterabend, und die Sterne fpiegel- 
ten ſich im Neckarfluß, an deſſen Ufer der Fährmann, im Dorf der 
Fergenhannes genannt, auf- und abging, um ſich die Kälte zu ver⸗ 
treiben, bis die Stunde ſchlug, wo er ſeine Fähre verlaſſen durfte. 
Neben ihm trippelte Bärbele, ſein ſechsjähriges Töchterlein, ihre er⸗ 
ſtarrten Händchen in die Schürze gewickelt; ſie wollte durchaus 
nicht gelten laſſen, daß ſie fror, weil ſie ſo gern beim Vater an der 
Fähre blieb, um mit überzufahren, wenn Leute kamen. 

Vom Dorfe her hörte man noch die Pumpe der Brunnen, das 


Bärbele's Weihnachten. 5 


Brüllen des Viehs und von dem nahen Hügel fuhren mit lautem 
Geſchrei die Knaben blitzſchnell auf ihren Bergſchlitten herab. 

Jetzt aber erſcholl die Betglocke vom Thurm. „Bet, Bärbele!“ 
ſagte der Vater, indem er ſeine wollene Mütze abnahm und die Hände 
faltete; auch Bärbele legte die Händchen zuſammen und ſprach an— 
| dächtig den Vers, den fie die Mutter zur Betglocke gelehrt hatte: 


Lieber Menſch, was mag bedeuten 
Dieſes ſpäte Glockenläuten? 

Das bedeutet abermal 

Deines Lebens Ziel und Zahl; 

„Wie der Tag hat abgenommen, 

So wird auch der Tod bald kommen. 
Lieber Menſch, ſo ſchicke Dich, 

Daß du ſterbeſt ſeliglich. 


Die Knaben drüben waren beim erſten Schall der Betglocke 
raſch mit ihren Schlitten abgezogen, der Ferge trug feine Ruderſtaugen 
in das kleine ſteinerne Häuschen, das von einem rieſigen Wachholder 
beſchattet am Ufer ſtand, und warf noch einen langen, aufmerkſamen 
Blick über den mondbeſchienenen Fluß bis auf den Fußpfad, der vom 
jenſeitigen Ufer an's Waſſer führte. Drüben war alles ruhig, nur 
an den Fenſtern des Schlößchens, das nicht fern vom Ufer jenſeits 
ſtand, ſah man, ſeit langer Zeit zum Erſtenmal wieder, Licht. Der 
Ferg kettete die Schiffe feſt an den Pflock und ſchickte ſich mit 
Bärbele zum Heimgehen an. 

„Aber, was ich weiß, Vater!“ ſagte die Kleine. „So? was 
weißt?“ — „Ich darf heut Nacht aufbleiben bis man's Kindle 
wiegt!“ (Das Kindlein wiegen nennt man die Sitte, die ſich in 


6 Bärbele's Weihnachten. 


vielen ſchwäbiſchen Dörfern erhalten hat, wo die Schulknaben um 
Mitternacht in der Nacht vor dem Chriſtfeſt einen Weihnachtschoral 
vom Kirchthurme ſingen.) „Du?“ ſagte der Vater, „o Du wirſt 
ſchläfrig.“ — „Gewiß nicht,“ verſicherte die Kleine, indem fie fröhlich 
an ſeiner Hand hüpfte, „die Mutter hat mir's verſprochen; aber der 
Baſe ihr Chriſtoph, der hat's gut, der darf ſelber mitſingen! ich 
möcht' auch ein Bube ſein, dann könnt ich auch einmal Ferg werden.“ 
— „Da wärſt was Rechts,“ ſagte der Vater, der wie die meiſten 
Väter ſeinem Kinde einen glücklicheren Beruf wünſchte, als ihm der 
ſeinige erſchien. | 

„Ei, das ift nett, ſo im Schiff liegen, wenn die warme Sonne 
ſcheint, und immer wieder andere Leute herüber und hinüber führen, 
oder gar das große Wagenſchiff, mit ganzen Wagen oder Chaiſen!“ 

Unter dem Geplauder der Kleinen waren ſie an dem Wohn⸗ 
häuschen des Fergen angekommen, das ganz vorn, noch etwas abſeits 
vom Dorfe lag. Durch die enge, geſchwärzte Flur, die zugleich 
Küche war, trat man in die niedere Stube. Annemarie, des Fergen 
Weib, und Chriſtine, die Wittwe, die in dem Dachkämmerlein des 
Häuschens zur Miethe wohnte und der Kürze halber Baſe genannt 
wurde, ſaßen am Ofen beim Scheine des Oellämpchens beiſammen, 
die Spinnräder waren beiſeite geſtellt, ſie plauderten angelegentlich von 
all den überſtandenen Sorgen und Trübſalen ihres Lebens, während 
Chriſtoph, der Sohn der Baſe, ein etwas unmüßiger Junge, ſich in 
der Ecke der Stube damit unterhielt, der Katze den Pelz zu ſtreicheln 
bis es Funken gab. | 

„Guten Abend beiſammen,“ ſagte der Ferg, indem er eintrat 
und ſeinen dicken, groben Rock mit einem alten geſtrickten Wamms 


Bärbele's Weihnachten. 7 


vertauſchte, denn Schlafrock und Pantoffeln ſind auf dem Dorf noch 
nicht Mode, zumal in der Hütte eines armen Fergen. 

„Du kommſt wieder zuletzt,“ ſagte Annemarie, „der andre Ferg 
iſt ſchon lang daheim.“ — „Warum ſollten wir ſelbander erfrieren?“ 
ſagte gutmüthig Hannes, „es kommen heut ja wenig Leute; hab' ihn 
heimgehen laſſen, ein andermal iſt's an mir.“ — „Ja an Dich 
kommt's nie,“ murmelte das Weib, „du biſt nur zu gut.“ 

„Nichts Neues paſſirt, Hausherr?“ fragte die geſprächige Baſe. — 
„Paſſirt alleweil nichts,“ ſagte gleichmüthig der Ferg, „doch ja, 
Verwalters von drüben find ein paarmal hin- und hergefahren mit aller- 
lei Sachen; morgen kommt richtig die neue Herrſchaft.“ — „Ein ab- 
ſonderliches Gelüſten, daß ſie herziehen ſo mitten im Winter,“ meinte 
Annemarie, „und auch nicht recht ſchicklich, an einem ſo hohen Feſt 
ſo ein Gethu anzuſtellen.“ 

„Drum hat der junge Herr alles neu herrichten laſſen,“ be— 
richtete Bärbele, „Verwalters Lieſe hat mir's erzählt.“ — „Ja die 
weiß alles, der kleine Fürwitz,“ lachte wohlgefällig der Ferge, die 
pappelt wie ein Altes.“ — „So ſchöne Tapeten ſeien da,“ erzählte 
Bärbele weiter, „und goldige Kronleuchter und Teppiche, o, ich 
möcht's nur ſehen! und das alles kriegt die junge Frau zum Chriſt— 
tag. Mich läßt Verwalters Lieſe vielleicht einmal hineinſehen, wenn 
ſie wieder verreist ſind!“ und die Kleine hüpfte wieder bei dem 
bloßen Gedanken an die Herrlichkeit, die ſie möglicherweiſe noch 
ſehen dürfe. 

Annemarie brachte die Kartoffeln und Suppe; von einem Feſt— 
mahl am heiligen Abend wußte man nichts, erſt am Chriſtfeſt wur— 
den ſüße Birnſchnitze geſpeist; die Baſe wurde zu Tiſch geladen, 


8 \ Bärbele's Weihnachten. 


was ſie erſt nach vielen Umſtänden annahm und ſich zu jeder Kar⸗ 
toffel noch beſonders nöthigen ließ. Chriſtoph war nicht ſo umſtänd⸗ 
lich, der langte tapfer zu und ließ ſich's gehörig ſchmecken. Bärbele 
war viel bälder fertig und zupfte ihn ungeduldig am Wamms: 
„Singt Ihr noch nicht?“ fragte ſie leis. „Iſt noch z'bald,“ ſagte 
Chriſtoph kurz. „Komm, wir wollen 'nausgehen und ein Bisle hor⸗ 
chen, ob die andern Buben noch nicht kommen!“ bat Bärbele und Chri⸗ 
ſtoph ließ ſich endlich dazu bewegen, obgleich er lieber am warmen 
Ofen ſitzen geblieben wäre; es freute ihn, daß ihn das kleine Mäd⸗ 
chen ſo mit Reſpekt betrachtete, ſeit ſie wußte, daß er vom Thurm 
ſingen dürfe. | 

Als die Kinder fort waren, holte Annemarie aus der Schieblade 
ihrer einzigen Kommode die ſchönen rothen Aepfel, das große bunt⸗ 
verzierte Lebkuchenherz und die Nüſſe, die zu Bärbele's Beſcheerung 
beſtimmt waren, und ordnete fie auf dem weißen, blaubemalten Por⸗ 
zellanteller, dem ſchönſten Stück ihres einfachen Geräthes. „Iſt faſt 
zu Hoffärtig für uns,“ meinte Hannes, „jo ein Staatslebkuchen 
wäre ja für den Spezial (Dekan) recht.“ — „Ach was,“ entſchul⸗ 
digte Annemarie, „das arme Kind hat ja nicht einmal eine Dote, 
wie die Kinder andrer Leute, da müſſen die Eltern ein Uebriges 
thun.“ — „Ja, ſo ein Tröpflein, das die Nothtaufe erhalten, dauert 
mich nachher immer,“ ſagte die Baſe, „wenn es dann ſein Lebtag 
ohne Döte und Dote herumlaufen muß.“ (Döte und Dote, die Tauf- 
pathen, ſind nämlich auf dem Dorf in Schwaben gar eine wichtige 
Perſon für ihre Pathchen; arme Leute wählen gewöhnlich wohlhabende 
Pathen, und auch dem Aermſten wird faſt nie dieſe Bitte abgeſchlagen. 
Außer der reichlicheren Weihnachtsgabe erhält das Pathchen an der 


Bärbele's Weihnachten. a 9 


Konfirmation einen Theil des Anzugs, manchmal gar ein filberbe- 
ſchlagenes Gebetbuch vom Herrn Döte oder der Frau Dote und wird 
da zu Gaſt geladen; auch in ſpäteren Jahren nimmt ſich manchmal 
eine gute Dote noch mütterlich eines verwaisten Kindes an.) 

„Nun, was das betrifft,“ entgegnete Annemarie mit einigem 
Stolz, „ſo hätte unſer Bärbele eigentlich eine fürnehme Dote, nur 
daß fie nicht da ift.“ — „Ja, das iſt eben gerade die Hauptſache, 
Hausfrau,“ meinte die Baſe, „aber wie iſt's denn ſelbigsmal zuge⸗ 
gangen mit Bärbele's Taufe? ich hab nur ſo die Leute davon ſagen 
hören, ich war ja dazumal noch nicht hier.“ 

„Der Hannes weißt's beſſer als ich,“ ſagte Annemarie, „ich war 
dazumal ſo ſchwach, daß ich kaum aufſehen konnte.“ Hannes war 
nicht ſehr aufgelegt zum Plaudern, am Ende aber ließ er ſich doch von 
der neugierigen Baſe bewegen, mit ſeiner Geſchichte herauszurücken. 

„Heute ſind's gerade ſechs Jahr,“ hub er an, „es war faſt 
eine Nacht wie dieſe im Vollmond, ſchier ſo hell wie am Tag, ich 
mußte draußen am Neckar ſein, da der andere Ferg krank lag, und 
ich that's bitter ungern, denn das Bärbele war eben geboren worden 
und mein Weib lag gar ſchwach und krank daheim; ich wollt' aber 
doch aushalten bis zum Betglockenläuten und ſchaute als ſo hinüber 
auf die andere Seite, wo das Schlößlein ſteht, in dem ſelbigsmal 
die alte gnädige Frau noch gelebt hat, und hab weiter an nichts ge— 
dacht, als an mein Weib daheim. Da hör' ich auf einmal einen 
hellen Schrei vom andern Ufer drüben und ſeh ein Weibsbild dem 
Waſſer zuſpringen und ein paar Mannsperſonen mit Schreien und 
Johlen ihr nach. Da ſchrei ich aus aller Macht hinüber, „ich komm',“ 
und ſtoß ab, ſo ſchnell ich kann; die Kerle drüben ſpringen davon 


10 Bärbele's Weihnachten. 


und ich komm noch eben recht, daß ich das arme erſchrockene Jungferle, 
das ganz bis zum Waſſer hergeſprungen war, in's Schiff tragen 
und herüberführen kann. Es war ein junges Fräule und ſo erſchrocken, 
daß ſie lang ſchier gar nicht ſchnaufen, geſchweige denn reden konnte.“ 
— „Eine ſchöne Jungfer?“ fragte Chriſtine. „Darauf hab' ich nicht 
geguckt,“ ſagte Hannes trocken, Annemarie aber verſicherte: „Bild⸗ 
ſchön, Baſe, bildſchön! ſie hatte ſo ſchöne rothe Bäcklein und ein 
feines himmelblaues Kleid und ſo goldiges helles Haar mit lauter 
Locken und einen Pelz! die Königin kann es nicht fürnehmer haben.“ 
— „So, ich hab' geglaubt, Du habeſt vor Schwäche nichts geſehen?“ 
ſagte Hannes mit komiſcher Verwunderung. „Ach was! erzähl's nur 
weiter,“ rief Annemarie. 

„Alſo wie wir herüberkamen,“ fuhr Hannes fort, „erzählt ſie 
mir nach und nach, daß ſie auf Beſuch ſei im Schloß drüben, und 
weil der Mond ſo ſchön geſcheint habe, ſo habe ſie und noch ſo ein 
Fräulein drüben ein Bischen luſtwandeln wollen. Die vornehmen 
Leute haben oft ſo geſpäſſige Gelüſte, ſtatt daß ſie froh ſein ſollten 
in ihrer warmen Stube. Alſo, wie die Zwei da rumſpazieren, kom⸗ 
men ein paar rauſchige (betrunkene) Burſche daher, die ſie erſchrecken 
und ängſtigen mit ihrem wüſten Geſchrei. Die verzagten Jungferlein 
ſpringen aus einander und wiſſen nicht wohin: die Eine dem Schloß 
zu, die Andre gegen den Neckar, wo ich ſie dann geholt habe. Wie 
wir hüben am Ufer waren und die Burſche drüben fort, wollte ſie, 
ich ſollte ſie gleich wieder hinüberführen und bis an's Schloß beglei⸗ 
ten, ſie wolle mir ein gutes Trinkgeld geben. Aber es läutete Bet⸗ 
glocke, und eine Nachbarin kam heraus und rief mir, ich ſolle gleich 
heimkommen, mein Kindlein daheim ſei ſo ſchwach und werde ſterben. 


Bärbele's Weihnachten. 1 


Da wußt' ich nicht, was mit dem Jungferle anfangen, es war Nie— 
mand um den Weg, der ſie hätte hinüberführen können, und Jeden 
laß ich auch nicht an mein Schiff. So ſagt' ich ihr, ſie ſoll derweil 
mit mir in mein Haus kommen, ſobald ich daheim wegkönne, woll' 
ich ſie wieder heimbringen, und ſie ging gutwillig mit, weil ſie wohl 
mußte. Wie ich heimkomm', iſt das Tröpfle, das Bärbele ſo ſchwach, 
wie ein Lichtlein am Auslöſchen, und mein Weib weinte, daß es 
ohne die heilige Taufe ſterben ſollte. Ich laß das Jungferle am 
Ofen ſitzen und ſpring' zum Herrn Pfarrer, der auch gleich mit mir 
kam, wie er ging und ſtand. Er konnte nicht mehr die heiligen 
Gefäſſe mitnehmen, ich brachte eben Waſſer in unſrem Krug. Das 
Jungferle hatte das Kindlein auf dem Arm und weinte. „Wollen 
Sie Taufzeugin ſein?“ fragte der Herr Pfarrer, der ſich wohl auch 
verwunderte, wie eine ſo fürnehme Jungfer in unſer armſeliges 
Häuslein komme. „In Gottes Namen ja,“ ſagt ſie und ſtellt ſich 
mit dem Kindlein vor ihn. „Wie ſoll das Kindlein heißen?“ fragt 
er wieder. „Barbara,“ rief mein Weib, ihre Mutter ſelig hat ſo 
geheißen. — „Amalie,“ ſagt das Fräulein leiſe, und der Herr 
Pfarrer tauft es, Barbara Amalie; dann hat er ſo ſchön und an— 
dächtig dazu gebetet und das Kindlein, ob es zum Leben oder zum 
Tode beſtimmt ſei, dem Herrn jo getreulich empfohlen, daß unſere 
Herzen ganz getröſtet wurden. 

Kaum war der Herr Pfarrer fort, fo rufen mir die Nachbars- 
leute: am Ufer drüben laufe man mit Fackeln und Laternen herum 
und ſchreie herüber, es ſcheine, daß ſie Jemand ſuchen. „Ach, da 
ſucht man mich!“ rief das Fräulein, legte das Kindlein in die Wiege, 
das ſie ſeither auf den Armen gewiegt hatte und ſprang dem Neckar 


12 Bärbele's Weihnachten. 


zu, ſo geſchwind, daß ich kaum nachkam. Als ich ſie hinübergeführt, 
waren drüben Bediente vom Schloß und Mägde und Frauenzimmer, 
und es war ein Gefrage und Geküß, daß man meinte, ſie ſei eben 
von den Todten auferſtanden; ich aber fuhr in der Stille wieder 
herüber, mich trieb's zu meinem Kindlein, ich fürchtete, ich treffe es 
todt. Aber es war noch am Leben und der liebe Gott hat es uns 
erhalten bis auf den heutigen Tag.“ 

„Und die vornehme Dote hat ihm gar nichts gegeben?“ fragte 
Chriſtine. N 

„Ein goldnes Kreuzlein mit blauen Steinen, das ſie an einem 
ſchwarzen Sammtbändelein um den Hals trug, hat ſie ihm auf's 
Kiſſen gelegt,“ ſagte Annemarie, „und die alte gnädige Frau von 
drüben hat meinem Mann einen Thaler Trinkgeld geſchickt, und mir 
eine Flaſche alten Wein; die Fräulein Dote aber hat nichts mehr 
von ſich hören laſſen.“ 

„Das war aber doch nicht ſchön,“ meinte Chriſtine, „wenn's 
auch nur eine Nothtaufe war, die Dote iſt ſie doch immerhin.“ 

„Es iſt ihr nicht ſo übel zu nehmen,“ ſagte entſchuldigend 
Annemarie, „wahrſcheinlich iſt ſie bald heimgereist und vielleicht weit 
fort; die alte Frau iſt gleich nachher geſtorben, der junge Herr in 
die Fremde gereist, da iſt fie wohl nicht wieder in die Gegend ge- 
kommen; für uns war es doch ein guter Abend: das große Trink⸗ 
geld, und auch das Kind hat ja ein ſchönes Andenken. Und wie das 
ſchwächliche Kindlein ſo gediehen iſt, habe ich oft denken müſſen, das 


Fräulein habe ihm doch Glück gebracht, weil ſie ſo gar ſchön und 5 


holdſelig war und ſo andächtig gebetet hat unter der Taufe.“ 
Annemarie hatte unter dem Reden ihre kleine Beſcheerung ver⸗ 


Bärbele's Weihnachten. 13 


ſteckt, denn Bärbele und Chriſtoph waren ziemlich erfroren wieder 
hereingekommen und horchten aufmerkſam ihrer Rede zu. Bärbele 
hörte gar zu gern von der unbekannten Dote erzählen und es war 
ein Feſt für fie, wenn fie das goldne Kreuzchen ſehen oder gar ein- 
mal anziehen durfte. Sie hatte keine Feenmärchen gehört und ge⸗ 
leſen, aber wunderbar wie eine Fee erſchien das holdſelige Fräulein 
im himmelblauen Kleid in ihren Träumen, und ſie meinte oft, die 
Dote müſſe doch einmal wieder kommen. ö | 

Hannes war ſehr müd und ſchläfrig und legte ſich bald zu Bette, 
die Frauen aber hatten den Kindern verſprochen, auf zu bleiben bis 
man das Kindlein wiege; ſo ſuchten ſie ſich und die Kinder wach zu 
erhalten mit allerlei Geſchichten und Geſprächen; Bärbele hatte viel 
ſchöne Weihnachtreimlein von der Mutter gelernt, und war ſtolz, daß 
ſie faſt noch mehr wußte als der große Chriſtoph; am Ende aber 
ſchlummerte ſie doch ein auf dem Schemel zu Füßen der Mutter, 
die wie die Chriſtine auf dem Stuhl eingeſchlafen war; Chriſtoph 
hatte ſich hinausgeſchlichen, um ſich mit den andern Knaben in der 
Schule zu verſammeln, bis es Zeit ſein würde, auf den Kirchthurm 
zu ſteigen. 

Bärbele wachte auf, als es ſtill, ganz ſtill in der Stube war; 
die Mutter und Chriſtine ſchliefen noch, das Aempelein war erloſchen, 
nur das klare Mondlicht erhellte das Stüblein. Sie ſchlich leiſe 
hinaus und blickte hinauf zum Thurm, wo man einige Lichtlein fun- 
keln ſah. In dem Augenblick ſchlug die Glocke zwölf und von oben 
erklang von all den hellen Kinderſtimmen das Wiegenlied des gött- 
lichen Kindes: „Ehre ſei Gott in der Höhe, der Herr iſt geboren!“ 

Das klang dem Kinde ſo wunderbar, wahrhaftig wie eine 


14. Bärbele's Weihnachten. 


Stimme vom Himmel, ſie dachte nicht mehr an die vornehme Pathe, 
nicht an alle Herrlichkeit der Welt, die nicht für ſie beſtimmt war; 
es war ihr, als habe ſie einen Strahl von dem Glanz des Himmels 
geſehen und tief, tief drückte ſich das heilige Gefühl der Weihnacht 
in ihre junge Seele. | 


Der Morgen des heiligen Chriſtfeſts war angebrochen, ein klarer, 
friſcher Wintermorgen; wie Tauſende von Brillanten ſchimmerte der 
Schnee im Sonnenſchein. Im Dorf herrſchte die feierliche Stille, 
die auf dem Lande ſo ſchön den Sonntag vor den Arbeitstagen aus⸗ 
zeichnet. In den Häuſern rüſtete man ſich zum Kirchgang; nur 
Kinder ſah man auf den Straßen, die blaugefrornen Geſichtchen 
glänzend von der Freude des Morgens, da und dort biß eins in den 
köſtlichen Lebkuchen; aus Häuſern, wo man reichlicher beſcheerte, kamen 
kleine Mädchen mit roſenrothen Schürzchen und einer neuen Puppe 
auf dem Arm, dicke Buben, die in eine hölzerne Trompete blieſen, 
und die Andern ſammelten ſich um die Glücklichen und ſtaunten die 
neuen Schätze an. | 

Bärbele hatte keine Puppe und kein neues Schürzchen; mit dem 
verzierten Herzlebkuchen hatte die Mutter all ihre Mittel erſchöpft; 
aber ihr Winterkleidchen, aus einem alten Rock der Mutter verfer⸗ 
tigt, war ſauber und warm, ihr blondes Haar war ſchön glänzend 
und glatt gekämmt und in Zöpfchen geflochten, die zu ihrem großen 
Stolz hinten gerade wie Wegzeiger hinausſtanden, fie war fo ver- 
gnügt wie die Andern und ſtellte ſich mit dem ſchönen Lebkuchen, 
den ſie gar nicht wagte anzubeißen, ſtolz unter die kleine Schaar. 


N » 


Bärbele's Weihnachten. 15 


Aber als die Kinder zuſammenſtanden und ſich erzählten, bis 
wenn ſie zu dem Döte oder der Dote beſtellt ſeien, als nach der 
Kirche da und dort eines mit ſtrahlendem Geſicht reich beladen mit 
den Geſchenken einherzog, die kleinen Geſchwiſter neugierig und jubelnd 
hinterdrein: da ward dem Bärbele doch das kleine Herzchen ſchwer, 
und fie ſchlich ſich betrübt zu- Mutter um zum hundertſtenmal zu fra- 
gen, warum denn ſie keine Dote habe. Um ſie zu tröſten, band ihr die 
Mutter das ſchöne goldene Kreuzchen um und verſicherte ſie, das ſei 
eigentlich mehr werth, als alles, was die andern Kinder von ihren. 
Pathen bekommen; nun war die Kleine wieder vollkommen glücklich 
und hob ihr Köpflein ſo hoch ſie vermocht, nur damit Jedermann 
den neuen Schmuck an ihrem Hälschen ſehen und bewundern konnte. 

Nachmittags war im Dorf große Bewegung und die Straße 
ſtand voll Leute; der gnädige Herr vom Schlößlein drüben ſollte mit 
ſeiner neuen Frau und vielen Gäſten auf Schlitten durch's Dorf 
kommen, ſie hatten geglaubt, der Neckar werde feſt genug gefroren 
ſein, um die Fahrt auf Schlitten hinüber wagen zu können; dem war 
aber nicht ſo, und die Fergen hielten das große Wagenſchiff bereit, 
um die Schlitten hinüber zu fördern. 

Ein großer Schlitten war im Dorf eine ſeltene Erſcheinung, da 
gewöhnlich hier der Neckar den Schlittenfahrten ein Ziel ſetzte; drum 
war Alt und Jung in Bewegung, da man auch neugierig war, den 
jungen Herrn Baron wieder zu ſehen. 

Die Voreltern des Barons hatten freilich eine größere Bedeu— 
tung für die Dorfbewohner gehabt, ihnen hatte das Dorf mit eini— 
gen andern der Gegend zu eigen gehört; jetzt hatte der junge Baron 
nur noch einige Rechte, den Beſitz des Schlößchens und der ſchönen 


16 Bärbele's Weihnachten. 


Güter, die dazu gehörten; aber er war doch immer noch eine wich⸗ 
tige Perſon für die Bauern, die ihn hatten unter ſich aufwachſen 
ſehen; die alte gnädige Frau war ſehr gut gegen die Armen geweſen, 
und man freute ſich, das lang verſchloſſene Herrenhaus endlich wieder 
geöffnet zu ſehen. 

„Sie kommen, ſie kommen!“ ſchrieen athemlos ein paar Knaben, 
die vor's Dorf hinaus, der Schlittenfahrt entgegengegangen waren 
und nun mit den Pferden in die Wette hereinſprangen. | 

Unter luſtigem Schellengeklingel, mit muthigen Roſſen beſpannt, 
fuhren drei elegante Schlitten mit Tiger- und Bärenfällen bedeckt 
durch's Dorf; man erkannte den jungen Herrn an der freundlichen 
Höflichkeit, mit der er ringsum grüßte; auch die Dame neben ihm 
in dem weißen Pelz, dem blauen Sammthut mit wehenden Federn 
verneigte ſich freundlich, ihr Geſicht aber konnte man nicht recht ſehen, 
da ſie es mit einem feinen blauen Schleier vor dem Wind geſchützt 
hatte. 

Am Neckarufer gab es zum großen Vergnügen der Zuſchauer 
einen langen Aufenthalt; ein Theil der Herrn und Damen wollten 
ausſteigen und ſich im Kahn überſetzen laſſen, während man die 
Schlitten langſam auf dem Wagenſchiff überfuhr. 

Während die Andern mühſelig und langſam aus ihren Umhül⸗ 
lungen krochen, ſchlüpfte die junge Baroneſſe gewandt aus dem war⸗ 
men Fußſack und hüpfte aus dem Wagen; die Bewunderung der 
Kinder, die mit aufgeſperrten Mäulern zuſahen, wurde durch die zier⸗ 
lichen Atlasſtiefelchen, mit weißem Pelz beſetzt, auf's Höchſte ge⸗ 
ſteigert. 5 

Der Fergenhannes hatte ſeinen beſten Sonntagsſtaat angelegt, 


1 . 55 
4 


* 


Bärbele's Weihnachten. 17 | 


den dreiſpitzigen Hut jtatt der Pudelmütze aufgeſetzt und ſtand bereit, 
ſeine vornehmen Kunden überzufahren. Der Wind wehte den Schleier 
zurück von dem ſchönen, blühenden Geſicht der Dame, und dem ſonſt 
ſo ſchweigſamen Fergen entſchlüpfte ein Ausruf der Ueberraſchung. 

Die Dame beachtete es nicht, ſie blieb einen Augenblick ſtehen, 
eh ſie das Schiff betrat und blickte nachdenklich über den Fluß hin— 
über. „Da drüben bin ich einmal in großer Angſt geſtanden,“ ſagte 
ſie lächelnd zu ihrem Gemahl, „ich habe Dir's ſchon einmal erzählt, 
es war am Weihnachtsabend. Ich war immer ängſtlich und leicht 
zu erſchrecken.“ 

„Drum brauchſt du guten Schutz,“ ſagte zärtlich der Baron 
und half ihr ſorgſam in das Schiff. | 

Dem Chriſtoph hatte der Ferg erlaubt, daß er rudern helfen 
durfte; Bärbele hatte ſich ihr Vorrecht als des Fährmanns Töchter: 
lein nicht nehmen laſſen: ſie ſaß in ihrem Feſtſtaat am Schnabel 
des Schiffs, und ſchaute, halb in Angſt, halb in Freude mit ihren 
großen runden Augen nach der ſchönen Dame, die ihr wie ein leib— 
hafter Engel vom Himmel vorkam. 
Jetzt blickte auch die Dame auf das Kind und rief verwundert: 
„Das iſt ja mein blaues Kreuzchen, das ich ſo gern als Kind und 
als Mädchen getragen! Kind! woher haſt du das?“ 

„Von meiner Dote?“ ſagte Bärbele ſehr beſtimmt, in geheimer 

Angſt, man wolle ihr ihr Kleinod nehmen. 

„Was iſt eine Dote?“ fragte die Dame, der dieſe Benennung 
fremd war, die aber eine plötzliche Erinnerung überflog. „Eine 
Dote iſt eine, wo einem ein ſchönes Chriſtkindle (Weihnachtsgeſchenk) 


Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl, 2 
. . 


18 Bärbele's Weihnachten. 


gibt!“ rief Chriſtoph herzhaft herüber, erſchrak aber wieder über 
ſeine eigene Keckheit. 

Bärbele hatte die Mutter von frühſten Jahren an ſo oft und 
viel gefragt: „was iſt eine Dote?“ daß ſie die Antwort auswendig 
wußte und jetzt wie ein Sprüchlein andächtig herſagte: „Meine Dote 
hat in der heiligen Taufe für mich verſprochen, daß ich dem lieben 
Gott wolle treu ſein, ſie hat auch verſprochen, daß ſie ſich an Seel' 
und Leib um mich annehmen wolle.“ N 

„Hat ſie das?“ fragte die Dame, der nun wieder die volle Er⸗ 
innerung an jenen Weihnachtsabend erwachte, während der Ferg, der 
ſie gleich erkannt, vom Ufer ſtieß, halb verlegen, halb verwundert 
über ſein keckes kleines Mädchen. 


„Und wie heißt denn deine Dote, mein Kind?“ fragte nun die 
Baroneſſe wieder, indem ſie ſich liebevoll zu der Kleinen niederbeugte. 


„Amalie,“ erwiederte Bärbele beſtimmt, „und ſie iſt ein vor⸗ 
nehmes Fräulein und ich heiße Barbara Amalie.“ 

„Und Ihr habt mich geführt!“ rief die Dame, ſich raſch zu 
dem Fergen wendend, „und das iſt das ſchwache Kindlein, das ich 
in der niedern Stube über die Taufe hielt in jener Nacht, die mir 
nachher immer wie ein Traum vorkam.“ 


„Wenn war denn das?“ fragte der junge Baron, der nicht 
recht begriff, wovon die Rede ſei. „O, du warſt damals ſchon auf 
der Reiſe und ich war noch bei Deiner Mutter,“ ſagte die junge 
Frau, und während der Ferg unter dem Rudern dem gnädigen Herrn 
die einfache Geſchichte jener Nacht erzählte, hatte ſie das Kind zu ſich 
guf die Bank geſetzt und ſtreichelte ſeine friſchen kalten Wangen, und 


Bärbele's Weihnachten. 19 


ſagte ihm, daß ſie die Dote Amalie ſei, was dem Bärbele nun das 
Wunderbarſte von Allem erſchien. 

Sie waren am Ufer angekommen und Hannes wollte eilig ab— 
ſtoßen, um die Andern herüberzuholen; Bärbele wäre gern wie ein 
Fiſchlein geſchwind hinübergeſchwommen, um der Mutter die merk— 
würdige Geſchichte zu verkünden, die Baroneſſe ſagte nur noch im 
Ausſteigen: „Bärbele, liebes Kind, willſt Du dieſen Nachmittag mit 
Deiner Mutter zu uns herüberkommen? Bitte, komm gewiß, ganz 
gewiß!“ und ſie ging mit ihrem Gemahl zu Fuß voraus, da die 
Schlitten noch nicht übergeſchifft waren. 

Beärbele aber, ſobald der Vater am andern Ufer angefahren war, 
wollte nichts mehr ſehen von Damen und Herrn; ſie ſprang, ſo 
ſchnell ihre Füßchen gehen wollten, zur Mutter und ſchrie ganz 
athemlos, „Mutter, Mutter! die Dote, die Dote Amalie, — und 
ſie iſt ſo arg ſchön, — und ſie iſt die neue gnädig Frau, und wir 
ſollen zu ihr kommen!“ Annemarie hatte nur zu thun, bis ſie das 
Kind beruhigte und nach und nach die Sache erfuhr; da war's ihr 
denn freilich auch faſt ſo merkwürdig wie ihrem Bärbele. 

Ja es war ſo. Die neue gnädige Frau war die unbekannte 
Dote, die damals als ganz junges Fräulein in die arme Fergenhütte 
gekommen war. Die Zeit und ein raſcher Wechſel von Erlebniſſen 
hatte ſie ganz das kleine Pathchen vergeſſen laſſen, das ſie auch 
ſchon für ſterbend gehalten, als ſie es damals auf den Armen hielt; 
nun aber wollte ſie die Verſäumniß gut machen. 


20 Bärbele's Weihnachten. 


Es war beinahe Abend, als endlich Frau Annemarie ſich ein 
Herz gefaßt hatte und im allerſchönſten Putz mit ihrem Bärbele am 
Schloß drüben ankam, der Vater hatte ſie nur bis an's Ufer be⸗ 
gleitet. Mit Herzklopfen ſtiegen ſie die neuen Treppen hinauf und 
betraten das ſchöne Vorzimmer, in dem ſie die Kammerjungfer 
warten hieß. Sie durften nicht lange warten; bald kam die junge 
Frau Baronin ſelbſt, die nun, ohne die vielen warmen Hüllen, dem 
Bärbele erſt recht wie ein Engel vorkam. Sie bot der ſchüchternen 
Annemarie herzlich die Hand, freute fi, daß fie wieder jo geſund 
und rüſtig ſei, und erzählte ihr die Urſache, warum ſie ſo lange 
nicht mehr in die Gegend gekommen ſei, ſo daß die gute Frau ganz 
zutraulich wurde. | 

„Aber ich muß anzünden!“ rief plötzlich die Dame und eilte 
raſch davon; — nach einer Weile klang ein ſilbernes Glöckchen und 
Bärbele und ihre Mutter wurden von der Kammerfrau in den 
großen Saal geführt. 

Ach was für eine Herrlichkeit ging da dem armen Kinde auf! 
Zur andern Thüre waren all die Herrn und Damen eingetreten, 
aber Bärbele ſcheute ſich nicht vor ihnen, ſie meinte faſt, ſie ſei 
geradewegs in den Himmel hineingekommen, da kam es auf ein 
paar Engel mehr oder weniger nicht mehr an. 

Der große Saal war ganz neu und prächtig gemalt und von 
der Mitte der Decke hing ein kryſtallener Kronleuchter mit vielen 
hellen Kerzen, auf den Tiſchen unten brannten wieder viele Lichter in 
ſilbernen Leuchtern, und grüne Tannenbäume, die in der Eile noch 
vom Walde gebracht worden waren. Dazwiſchen ſtand prächtiges 
Zuckerwerk und allerlei reiche und zierliche Geſchenke, und die Lichter 


Bärbele's Weihnachten. 21 


und die Geſchenke und all das ſchöne neue Geräth im Saal flim- 
merte und funkelte zuſammen, daß es Bärbele war wie im Traum 
und auch Frau Annemarie nichts konnte, als ihre Hände zuſammen⸗ 
ſchlagen. 

„Sieh, Kind, das iſt Deine Beſcheerung,“ ſagte die Dame vom 
Schloß und führte Bärbele an einen eigenen Tiſch, der mit gar herr- 
lichen Dingen beſetzt war; „komm, nimm, das iſt alles Dein,“ ſagte 
ſie ermuthigend, „Deine Pathe iſt Dir ja von lange her das Weih⸗ 
nachtsgeſchenk ſchuldig geblieben.“ Bärbele nahte zagend mit gefalte- 
ten Händchen. Von der Mutter war fie gelehrt worden, eh fie da- 
heim ihre kleine Beſcheerung in Empfang nahm, vorher ein Weih⸗ 
nachtsverslein zu beten, darum legte ſie auch jetzt die Hände zuſam⸗ 
men und betete, was ihr eben im Anblick dieſer Pracht einfiel: 


Der Sohn des Vaters, Gott von Art, 
Ein Gaſt in der Welt hie ward; 

Er führt uns aus dem Jammerthal 

Und macht uns zu Erben in ſein'm Saal. 


Die Herren und Damen, die auf das Bauernmägdlein wie auf 
ein ergötzliches Schauſpiel geſehen hatten, fühlten ihr Herz ſeltſam 
bewegt von des Kindes frommen Worten, und die Dote fürchtete 
faſt, ob ſie mit ihren reichen Geſchenken nicht des Kindes einfachen 
Sinn verderben könnte. 

Sie hatte freilich nicht darauf gerechnet, daß ſie heute noch einem 
Pathchen beſcheeren werde, aber ſie hatte ein gutes, freundliches Ge— 
müth und wußte, daß ſie überall Kinder treffe, denen ſie Freude 
machen könne; darum hatte fie allerlei niedliche Kleinigkeiten mitge— 
nommen, die jetzt lauter Wunder waren für Bärbele, dazu guten 


22 : Bäbele's Weihnachten. 


warmen Kleiderſtoff und als Königin über allem ſaß eine prächtige 
Puppe, ihre eigne Puppe noch, die ſie von den Kinderjahren her auf⸗ 
bewahrt hatte und die nun dem neuentdeckten Pathchen geopfert wurde. 

Bärbele brauchte eine gute Weile, bis ihre Schüchternheit und 
Ueberraſchung ſie zu Worte kommen ließ, bis ſie wagte, ſo prächtige 
Dinge als ihr Eigenthum anzuſehen; allmählig aber wachte ihre ganze 
Lebhaftigkeit auf, ſie vergaß alles um ſich her und brach zum großen 
Ergötzen ihrer Dote in lauten Jubel aus über jedes kleine Stückchen. 
„Lueg, Mutter, lueg!“ rief ſie immer wieder, „aber wie ſchön! aber 
das iſt noch ſchöner! das iſt am allerſchönſten!“ Freilich verſtand 


fie den Gebrauch all der ſchönen Dinge nicht fo recht, hielt das zier⸗ 


liche Häubchen für einen Halskragen, die gehäkelten Schuhe für 
Handſchuh und das feine weiße Taſchentüchlein für ein Halstuch; 
aber die Puppe, die prächtige Puppe! die konnte ſie gar nicht genug 
mit ihren verklärten Augen anſtaunen. 

„Und das hat Dir Alles die gnädige Frau Dote gegeben,“ er⸗ 
mahnte ſie die Mutter. — „Ja,“ ſagte ihr Bärbele halblaut in's 
Ohr, „aber ich weiß noch was, der liebe Gott iſt eigentlich ſchuld 
dran, ich habe ſchon oft hehlingen (heimlich) gebetet, er ſoll machen, 
daß auch meine ſchöne Dote wieder komme.“ Gerührt hörte es die 
Dote und gelobte ſich im Stillen, auch durch zu viele Güte nicht 
den frommen, einfältigen Sinn des Kindes zu verwirren. | 

Als ein Wunder des Dorfs war Bärbele mit ihren Schätzen 
vom Schloß zurückgekommen, hatte aber all ihren kleinen Kamerädlein 
reichlich ausgetheilt und beſonders ihren großen Kameraden Chriſtoph 
nicht vergeſſen. 


Bärbele's Weihnachten. . 23 


So wunderbar und herrlich iſt es nun freilich nicht immer zu— 
gegangen; die vornehme Pathe lernte Maß halten in ihrer Güte. 
Aber ſie hat ſich getreulich des Kindes angenommen und ohne ihr 
die beſcheidene Heimath und den Stand zu entleiden, in den ſie Gott 
geſetzt, hat ſie ihr Vieles noch mitgetheilt, was ihren Geiſt aufhellte 
und ihr das Leben bereicherte, und was ſie geſchickt machte, Vielen 
mit ihren Kräften zu dienen. 

Bärbele wurde die freundliche, geduldige Geſpielin der kleinen 
Barone und Baroneſſinnen, die treue befreundete Dienerin ihrer 
gütigen Pathe, auf die ſie ſich verlaſſen konnte in allen Dingen. 


Viele Jahre ſind nun ſeit jenem Weihnachtsabend vergangen; 
der Fergenhannes und ſeine gute Annemarie ruhen im Grabe, die 
Baronin Amalie auch, und ihre Kinder ſind in fernen Landen. Das 
Schloß aber wird ſchön und ſorgfältig im Stande gehalten von der 
ſtattlichen Frau Verwalterin, die einmal das kleine Bärbele war. 
Bärbele iſt Wittwe und haust mit ihrem Töchterlein Amalie in 
einem untern Zimmer des Schloſſes, die ſchönen Zimmer hütet ſie 
und hält ſie in Ehren auf die Zeit, wo die Herrſchaft wieder ein— 
mal einziehen wird. 

Die Frau Verwalterin iſt weit umher geehrt und geſucht wegen 
ihrer Herzensgüte und wegen des klugen und verſtändigen Raths, 
den Arm und Reich bei ihr findet. Am Abend ſpaziert ſie oft hin— 
unter zur Fähre und plaudert da ein halb Stündchen mit dem 
Fergen; er heißt nicht mehr Fergenhannes, aber Fergenſtoffel und iſt 
Bärbele's alter Kamerad Chriſtoph. 


. Bärbele's Weihnachten. 


Wenn Weihnachten kommt, ſo erzählt ſie wohl ihrer Tochter 
manchmal von jenem wunderbaren Chriſtfeſt, wo die fremde Dote 
gekommen und ihr ſo viel Herrliches beſcheert, aber ſie ſchüttelt mit 
wehmüthigem Lächeln den Kopf dazu und ſagt: „Das iſt nun Alles 
lange vorüber;“ wenn aber in der heiligen Weihnacht um die Mit⸗ 
ternachtſtunde der Geſang vom Thurme tönt: „Ehre ſei Gott in der 
Höhe, der Herr iſt geboren!“ ſo ſchaut ſie mit freudig leuchtendem 
Blick gen Himmel und ſagt: „Das geht nicht vorüber, und die 
ſchönſte Weihnacht iſt uns noch aufgehoben.“ f 


* 


In der Vorſtadt der Stadt K. ftand ein kleines Haus mit 
einer freundlichen Werkſtatt, worin der Schreinermeiſter Müller vom 
Morgen bis zum Abend geſchäftig war. Es war ein nettes Häuschen, 
und Frau Grethe, ſein Weib, ſorgte, daß die Fenſter ſchön hell 
blieben, und das kleine Gärtchen neben dem Hauſe durch's ganze 
Jahr in ſchönem Blumenſchmucke ſtand. 

Müllers waren noch junge Leute, doch war auch ſchon manches 
Leid durch das Häuschen gegangen: ſchon dreimal hatte der Schreiner 
einen kleinen Sarg fertigen müſſen, in dem man ihm ein Kindlein 
forttrug. Wilhelm ein aufgeweckter Knabe und zwei kleine Mädchen, 
Katharine und Margarethe, waren ihnen noch geblieben. Müllers 
| Haus war ein ſtilles und friedfertiges, die Nachbarn wußten zu Lieb’ 
und zu Leid wenig von ihnen zu ſagen. Mit Müller Streit zu be- 
kommen, wäre wahrhaftig ſchwer geweſen: er war die zufriedenſte 
Seele auf der Welt. „Wer weiß, ob's nicht auch ſo recht iſt?“ 
war ſeine gewöhnliche Redensart bei Allem, was dem Anſcheine nach 
ſchief oder unglücklich ging, und fein Weib, das mehr ängſtlicher, 
ſorgenvoller Natur war, wurde bei aller Liebe oft ungeduldig, wenn 
er ſo gar gelaſſen blieb, auch da, wo ſie dachte, etwas Mißliches 


28 \ Kann fein, s iſt auch ſo recht. 


hätte ſich noch abändern laſſen. Solche Gelaſſenheit iſt eine Tugend; 
ſie kann aber auch zum Fehler werden, wenn man darüber verſäumt, 
ſich, ſo wie es nun einmal in der Welt nöthig iſt, um ſein Fort⸗ 
kommen zu bemühen. 

„Wilhelm, gehſt Du nicht heut' in den Wald?“ fragte Grethe, 
„es wird am Eingang ein ſchöner Nußbaum verkauft; vielleicht 
könnteſt Du billig dazu kommen.“ | 

„Warum nicht?“ ſagte der Schreiner gelaſſen und aß gemäch⸗ 
lich ſeine Morgenſuppe weiter. i 

„Du mußt Dich ein Bischen tummeln,“ trieb Frau Grethe, 
„ſonſt kommſt Du zu ſpät; ſoll ich Dir Deinen Rock holen?“ 

„Wird nichts ſchaden,“ meinte der Schreiner mit unerſchütter⸗ 
licher Ruhe, ſtopfte ſein Pfeiflein, zog den Rock an, guckte in den 
Kalender, nahm ſeinen Zollſtab, ſchaute noch in die Werkſtatt, eh' er 
ſie ſchloß, alles ſo gemächlich und ſtet, daß Grethe faſt verging vor 
Ungeduld und wie ein Hündlein unruhig hin und her ſprang. End⸗ 
lich und endlich war er auf dem Wege, und Grethe ſah ihm erleich⸗ 
tert nach, — da erſchien er auf einmal wieder auf der Schwelle. 

„Ei, ei, Mann, aber was thuſt Du wieder da?“ | 

„Mein Nastuch!“ ſagte der Schreiner ruhig. 

„Ei, daß Dich! hätteſt nicht auch Deine Naſe einmal ohne 
Schnupftuch putzen können?“ 

„Muß Alles ſäuberlich ſein,“ ſagte der Mann und zog endlich ab. 

Nach einer Stunde kam er wieder, klopfte die Pfeife aus, bür⸗ 
ſtete den Hut ab, hängte den Rock an den Nagel; Grethe ſprang 
immer ungeduldiger um ihn herum. „Nun, was iſt's?“ fragte ſie 
endlich, „haſt den Baum?“ 1 


Kann fein, s iſt auch ſo recht. 29 


„Der Thorſchreiner hat ihn,“ ſagte Wilhelm geruhig und 

ſchickte ſich an, in die Werkſtatt zu gehen. | 
„Aber nein! Du biſt gewiß wieder zu ſpät gekommen! gelt, 
ſo iſt's?“ 

„Kann ſein, e iſt auch ſo recht,“ ſagte der Schreiner und ging 
an fein Geſchäft. 

War er d'ran, ſo konnte er ſo viel leiſten als irgend ein 
Anderer; wenn er vielleicht weniger flink war, ſo machte er um ſo 
ſteter fort. | 

„Hör', geſtern iſt der Oberamtmann vorbeigegangen,“ ſagte ihm 
Grethe ein andermal; „er hat mich gefragt, ob Du ſo neumodiſche 
Möbel mit krummen Füßen machen könneſt.“ 

„Warum nicht?“ ſagte der Meiſter. 

„Ich hab's gleich gedacht, daß Du's wohl könneſt,“ ſagte Grethe; 
„jetzt ſollteſt Du aber hinauf gehen zum Herrn Oberamtmann und 
es ſagen, er wird die Ausſteuer für ſeine Tochter beſtellen.“ 

„Mit dem Herumlaufen iſt nichts gethan,“ meinte der Schreiner; 
„wenn ſie das Zutrauen zu mir haben, jo werden ſie ſchon ſelber 
kommen.“ 

„Du weißt nicht,“ ſagte die beſorgte Grethe, „wie man ſich 
wirklich um ſeine Nahrung wehren muß! Der Thorſchreiner hat 
ſchon geſtern ein Spuckkäſtchen zum Präſent hinauf geſchickt, um ſich 
zu empfehlen; gib Acht, der ſchnappt Dir die Kundſchaft wieder weg.“ 

„Kann nichts machen,“ ſagte Müller ergeben, „kann ſein, 's iſt 
auch ſo recht.“ ' 

Da kam denn Grethe oft in rechten Jammer und konnte ſich 
nicht enthalten, einer Nachbarin zu klagen, wie ſie eben doch nicht 


1 Kann fein, 's iſt auch fo recht. 


recht vorwärts kommen können, trotz ihres Mannes Fleiß, weil er 
nicht verſtehe, ſich zu rühren. | 

„Schreinerin, verſündig' Sie ſich nicht!“ ſagte die Nachbarsfrau, 
„kein rechtſchaffenerer Mann als der Ihre, ſo fleißig beim Geſchäft, 
ſo ſtill und friedfertig, ſo ein guter Vater zu ſeinen Kindern und ein 
chriſtlicher, frommer Mann! Das ſtete Weſen muß Sie ihm laſſen, 
„Jedes trage des Andern Laſt“ ſteht in der Bibel; das iſt noch 
lang kein Kreuz; man muß ſich hüten vor unnöthigen Klagen, ſonſt 
ſchickt uns unſer Herrgott erſt ein rechtes Kreuz zu. Der kleine 
Wilhelm wird vifer (lebhafter) als ſein Vater.“ 

Der kleine Wilhelm war wirklich ein ordentlicher Junge. Er 
lernte fleißig, obgleich ſein Lehrer meinte, einen ausgezeichneten Lern⸗ 
kopf habe er gerade nicht, es ſei mehr Fleiß als Talent; er hütete 
die Schweſterlein, wenn die Mutter zu arbeiten hatte, und konnte in 
freien Stunden dem Vater zur Hand gehen. Sein Sinn aber ſtand 
eigentlich nicht nach dem Schreinerhandwerke; — nicht daß er begehrt 
hätte, ein vornehmer Herr zu werden, — nein, Wilhelm hatte ein 
genügſames Gemüth, aber er hatte ſich in den Kopf geſetzt, er möchte 
Steinhauer werden. Der Vater hatte einmal die Schreinerarbeit an 
einem großen, neuen Hauſe übernommen; Wilhelm half hie und da 
und war überhaupt gern auf dem Bauplatze, wie denn ſo ein neues 
Haus, wo alle Thüren und Thore noch offen ſind, immer ein luſti⸗ 
ger Tummelplatz für Kinder iſt. Alles war ſchön und gut an dem 
neue Gebäude, aber am ſchönſten erſchien ihm doch ein fein und 
kunſtreich ausgehauenes Portal, das ein fremder Steinhauermeiſter 
gefertigt hatte. Seitdem ging Wilhelm fortwährend mit dem Ge⸗ 
danken um, einmal Steinhauer zu werden. Der Vater wollte es 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 31 


ihm ausreden: „Maurerei iſt ein unſicheres Handwerk, hat eben im 
Sommer zu ſchaffen, das gibt im Winter leichtſinnige Leute; unge⸗ 
ſund iſt's auch, und Du könnteſt lang Steine hauen, bis es einmal 
an Dich käme, ſo künſtliche Sachen auszuhauen, Du einfältiger 
Bub'!“ Wilhelm aber probirte es oft in der Stille, beſonders gern 
zeichnete er die Grabſteine ab, die auf dem Kirchhofe der kleinen 
Stadt ſtanden; es kam ihm gar zu ſchön vor, nach dem Tode noch 
ſeinen Namen ſo in Stein gehauen zu haben. Der Vater hatte auf 
die kleinen Gräber der Geſchwiſter hölzerne Kreuze gemacht, aber die 
fielen jetzt ſchon zuſammen. 

Das wirkliche Kreuz, vor dem die Nachbarin der Frau Grethe 
bang gemacht hatte, ſuchte bald und unverſehens das friedliche Häus- 
chen heim. Ein ſchweres Nervenfieber brach in der Stadt aus, der 
Schreiner und ſein Weib wurden faſt zugleich davon befallen. Das 
war eine große und ſchwere Noth. Arme Leute können keine Kran: 
kenwärterin halten, auch war in der ſchwer heimgeſuchten Stadt eine 
ſolche kaum mehr um theures Geld zu finden; die gute Nachbarin 
war ſelbſt krank, andere Weiber, die ab und zu gingen, trugen mehr 
aus dem Hauſe fort, als ſie brachten. Wilhelm that ſein Möglich— 
ſtes, die Eltern zu pflegen und die Schweſtern zu hüten; aber er 
war ſolcher Sorgen ungewohnt, und oft ſchlich er ſich hinter's Haus 
in das kleine Gärtchen, um ſich recht auszuweinen, weil er ganz rath— 
los war. Grethe jammerte und ſeufzte viel, der Vater aber ſagte nur 
manchmal mit einem müden Lächeln zu Wilhelm: „kann ſein, 's iſt 
auch ſo recht.“ Seine Ruhe lag nicht allein in ſeiner Gemüthsart, 
er hatte wirklich gelernt, von Herzen ſein Anliegen auf den Herrn zu 


a Kann ſein, e iſt auch ſo recht. 


werfen, und er betete viel in der Stille, da er wohl ahnte, daß noch 
Leid genug über ſein Haus kommen würde. | 

Und jo war's auch, — ein Unglück kommt ſelten allein. 
Grethe wurde allmälig, wenn auch langſam, wieder geſund. Der 
Schreiner aber konnte ſich nicht mehr recht erholen; er ſtand auf, 
ſchlich müde und matt von einem Stuhle zum andern, — an Ar⸗ 
beiten war nicht mehr zu denken. Nun dachte er freilich wohl 
manchmal in der Stille, es wäre doch beſſer geweſen, wenn er früher 
etwas rühriger geweſen wäre und für einen Sparpfennig geſorgt 
hätte; bis jetzt hatte es noch nicht einmal gereicht, das kleine Häus⸗ 
chen ſchuldenfrei zu machen. N 

Grethe machte ihm keine Vorwürfe, ſie hatte unbeſchreibliches 
Mitleid mit ihm und pflegte ihn, ſo gut ſie konnte. Der Erwerb 
ſtand ſtill, ſie konnte wenig verdienen, da ſie den kranken Mann zu 
pflegen hatte, — die wenigen Güterſtückchen mußten nach und nach 
verkauft werden, die Noth und Sorge war groß. 5 

Wilhelm war dreizehn Jahre alt, groß genug, um die Sorge 
ſeiner Eltern begreifen zu können; wie gern hätte er Geld verdient, 
aber er wußte ja nicht wie, das Betteln war ihm noch nicht einmal 
eingefallen. | ! 

Einmal war die Noth befonders groß, die Mutter hatte den 
letzten Kreuzer um einen Wecken für den Vater ausgegeben und kein 
Brod mehr für die kleinen Mädchen; ihr klägliches Rufen: „Mutter, 
Brod!“ drang ihr durch's Herz. Wilhelm konnte es vor Jammer 
nicht mehr aushalten, er ging hinaus und wollte Brod ſchaffen, aber 
woher? Borgen wollte der Bäcker nimmer; ſollte er's wagen, ſollte 
er mitleidige Leute anſprechen? Während der ſchwerſten Krankheit 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 33 


hatten die Eltern oft Speiſen aus der Stadt bekommen; jetzt dachten 
die Leute nicht mehr daran, — o, faſt beneidet er ein paar freche 
Buben, die neben ihren Brodſäcken an einer Straßenecke ſpielten, 
daß ihnen das Betteln ſo leicht wurde. 

Er ging weiter und betete im Stillen, Gott möchte ihm helfen; 
ſo kam er bis vor's Thor, wo ein neuer Bierwirth einen ſchönen 
Garten hat. Da ſaßen viele luſtige junge Herren beim Bier und 
Kegelſpiel, — die würden ihm ſchon vielleicht ein paar Kreuzer 
geben, dachte er. Noch immer aber blickte er verzagt durch die Thüre. 
„Komm' herein, Bub'!“ rief einer der Herren, kannſt uns Kegel 
ſetzen.“ Glückſelig ſprang Wilhelm hinein. Bis jetzt freilich war 
ihm Kegelſetzen nur wie ein Geſchäft für faule, zerlumpte Bettelbuben 
vorgekommen; aber in dieſem Augenblicke war's ihm eine Hilfe vom 
Himmel, das war doch nicht gebettelt. So flink und geſchickt 
bediente er die Herren, daß ſie ihm nach beendigtem Spiel einen 
Sechſer und noch ein großes Stück Brod und Käſe ſchenkten; auch 
hießen ſie ihn am nächſten Abend wieder kommen. 

Nun aber eilte er im Galopp nach Hauſe mit einem kleinen 
Laibe. Die Schweſterlein, die im Gärtchen nach Rüben ſuchten, em— 
pfingen ihn mit Jubel, die Mutter zuerſt mit Angſt: ſie dachte, er 
habe gebettelt, und hätte doch nicht mehr gewagt, es ihm zu verbieten. 

„Verdient, Mutter, verdient!“ rief er triumphirend. Als nun 
die Mutter hörte, womit er es verdient hatte, gefiel ihr das nicht 
beſonders; „Kegelſtellen iſt kein Geſchäft,“ meinte ſie. 

„Aber weißt, Mutter, Holz ſpalten könnt' ich doch noch nicht,“ 
ſtellte ihr Wilhelm vor; „man muß Alles lernen, iſt doch nicht ge— 

Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 3 


34 Kann fein, s iſt auch ſo recht. 


bettelt und nicht geſtohlen! kann ſein, 's iſt auch ſo recht.“ Dabei 
beruhigte ſich die Mutter, beſonders wenn ſie ſah, wie die Mädchen 
mit Luſt in das Brod bißen und einander anlachten. | 

Das Kegelſetzen blieb nun freilich ein kleiner Verdienſt; doch 
reichte es alle Tage zu einem Laibe Brod, ſo lange gute Jahreszeit 
war, — das war ſchon etwas; hie und da durfte er auch eine kleine 
Handreichung in der Wirthſchaft thun und bekam von der Wirthin 
Fleiſch oder übrige Speiſen für ſeine Mutter mit nach Hauſe 
oder ein abgelegtes Kleidungsſtück von ihrem Mädchen für die 
Schweſtern. | 

Im Herbite ſtarb der Schreiner; er löſchte aus wie ein Licht, 
immer freundlich, geduldig, mit Allem zufrieden, aber zu ſchwach und 
zu müde, um nur viel Sorge um die Seinigen zu haben. „Wird 
Alles gut werden, kann ſein, 's iſt auch ſo recht,“ ſagte er zu ſeinem 
weinenden Weibe, eh' er die Augen ſchloß. Seine Handwerksgenoſſen 
ſchenkten der Wittwe den Sarg und begleiteten ihn ehrenvoll zu 
Grabe, Wilhelm legte des Vaters Maßſtab, Winkelmaß und Hobel 
auf den Sarg, was die Andern nicht zugeben wollten. „Laßt es 
liegen,“ bat er, „man legt dem Soldaten ja ſein Schwert und 
Waffe auf ſeinen Sarg, mit dem Werkzeug hat ſich mein Vater 
auch redlich durch's Leben gefochten.“ Sie lächelten und ließen den 
Knaben gewähren. 

Das Häuschen und die Werkſtatt mußten verkauft werden. Eh' 
ſie es verließen, zimmerte Wilhelm, ſo gut er's konnte, ein Kreuz 
zurecht, das er auf des Vaters Grab ſteckte. „Es iſt nur, daß 
man's kennt,“ ſagte er zu den Schweſtern; ich kann vielleicht noch 
einmal einen Grabſtein darauf machen.“ Die Mädchen hielten alles 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 35 


für möglich, was ihr Wilhelm thun wollte, zu dem ſie mit großer 
Bewunderung aufblickten. 

Grethe zog mit den Kindern in eine Dachſtube und ſuchte ſich 
mit Stricken und Waſchen zu ernähren. 


Ein ſaurer Winter für die Schreinerin war vorüber gegangen. 
Sie war viel krank geweſen, und die anhaltende Kälte hatte den 
letzten Nothpfennig aufgezehrt, den ſie zu Wilhelms Confirmation und 
zu einem Lehrgelde für ihn aufgeſpart hatte. Einen guten anſtändigen 
Anzug für ihn hatte ſie noch aus alten Kleidern von ihrem Manne 
machen laſſen, — das war Alles, was ſie für ihn thun konnte. 

In ſeinem neuen Rocke, der ihm bis auf die Knöchel ging und 
reichlich zu weit war, ſtellte ſich Wilhelm dem Herrn Stadtpfarrer 
dar, der gern mit jedem Confirmanden vor der heiligen Handlung 
noch allein reden wollte. Er mochte Wilhelm gern leiden, der ſich 
immer als geſitteter und aufmerkſamer Schüler gezeigt hatte. 

„Und was haſt Du im Sinne zu werden, Müller?“ fragte 
der Geiſtliche. 

„Weiß nicht,“ ſagte Wilhelm langſam und traurig, „ich wär' 
gern ein Steinhauer geworden; aber 's langt nicht bei uns zu einem 
Lehrgelde, weil eben mein Vater ſo lange krank geweſen iſt und ſo 
bald geſtorben ...“ Er ſchluckte das Weinen gewaltſam hinunter, 
weil er dachte, das ſchicke ſich doch nicht vor dem Herrn Stadtpfarrer, 


36 Kann ſein, e iſt auch fo recht. 


„Kann ſein, 's iſt auch ſo recht,“ hat allemal mein Vater g'ſagt,“ 
ſagte er mit betrübtem Lächeln. 8 ' 

„Dein Vater hat Recht gehabt, wenn er's im rechten Sinne 
gemeint hat,“ ſagte ernſt und wohlwollend der Pfarrer; „ich will Dir 
Deines Vaters Wahlſpruch in einen Bibelſpruch überſetzen: ‚denen, 
die Gott lieben, müſſen alle Dinge zum Beſten dienen, das 
erwäge in Deinem Herzen, möge es auch an Dir zur Wahrheit 
werden!“ | 

Dem guten Pfarrer that das Herz weh, daß er dem Knaben 
kein Verſprechen für ſeine Zukunft geben konnte, aber er hatte ſelbſt 
für ein Haus voll großer und kleiner Kinder zu ſorgen, und die 
Stadtgemeinde war arm und konnte nicht viel thun; zudem waren 
der Schreiner und ſeine Frau nicht aus dem Orte gebürtig. An 
ſeinem Confirmationstage hatte Wilhelm, wie das ſo Sitte iſt, bei 
ſeiner Dote, der verwittweten Frau Kaſtenknecht, geſpeist, bei der 
ſeine Mutter vor Zeiten in Dienſten geſtanden war. Sie war eine 
gute Frau und hätte ihm, obwohl nicht reich, doch gewiß gern ge⸗ 
holfen, denn Wilhelm war ihr Vorleſer, der ihr am Sonntag nach 
der Kirche die Zeitung von der ganzen Woche her gegen eine Beloh⸗ 
nung von einem Kreuzer und einem Wecken leſen mußte; aber ſie 
hatte längſt ihr kleines Vermögen an einen Schwiegerſohn abgegeben, 
der keineswegs zu den Freigebigen gehörte. So war auch von dieſer 
Seite her für den armen Wilhelm nichts zu hoffen. 

Den Tag der erſten Abendmahlsfeier hatte er in der Stille 
daheim bei ſeiner Mutter zugebracht; ſie waren mit einander auf des 
Vaters Grab gegangen, das außer dem hölzernen Kreuze mit einem 
Roſenſtock bezeichnet war. „O Mutter,“ ſagte Wilhelm mit glän⸗ 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. i 37 


zenden Augen, „ſiehſt Du, was da der alte penfionirte Herr Oberſt 
für einen ſchönen Grabſtein hat, ein Schwert und eine Fahne darauf!“ 
nein, aber was das ſchön iſt! O Mutter, wenn ich hätte können 
ein Steinhauer werden und dem Vater ſo einen Grabſtein hauen! 
Das müßt ihn noch im Himmel freuen.“ 

„O Büble, wie ſchwäzſt!“ ſagte die Mutter, „was hätte Dein 
Vater mit einem Säbel und einer Fahne zu ſchaffen?“ 

„Ei, das braucht er auch nicht; ich wollt' ſein Schreinerwerk— 
zeug ganz nett und fein aushauen, und Dir, Mutter, ach was wollt' 
ich Dir erſt einen ſchönen machen!“ Die Mutter mußte in aller 
Betrübniß hell auflachen, daß ihr der Wilhelm in ſeinem Eifer noch 
bei Lebzeiten einen Leichenſtein ſetzen wollte. 

Sie gingen endlich in der Stille nach Hauſe und mit leiſem 
Herzweh an ihrem ehemaligen Häuschen vorüber. Die Mutter ſah 
ſich noch einmal darnach um und ſagte ſeufzend: „Das wär' mir 
lieber als der ſchönſte Grabſtein!“ 

Daheim ſaßen ſie ſtill beiſammen in dem kleinen Dachſtübchen: 
es war ſchon Dämmerung, als es an der Thüre klopfte. „Herein!“ 
rief die Mutter verwundert und ſah mit Erſtaunen Herrn Kohlmeier, 
den Bierwirth, eintreten, in deſſen Garten Wilhelm hie und da 
Dienſte that. 

„Wollte fragen, was Sie mit dem Buben im Sinne hat?“ 
jagte der Wirth nach herablaſſendem Gruße. 

„Weiß nicht, Herr Kohlmeier,“ ſagte die Wittwe, „ſein Herz 
ſtünde nach einem Maurer; ich meinestheils hätte gern einen Schrei» 
ner aus ihm gemacht, aber Lehrgeld haben wir zu keinem.“ 

„Weiß Sie was?“ ſagte noch gnädiger der Wirth, „laß Sie 


38 Kann ſein, s iſt auch ſo recht. 


den Buben mir! wir haben ihn nicht ungern, er iſt alert und ehr⸗ 
lich, man braucht in einer Wirthſchaft das ganze Jahr ſo einen 
Buben zu allerlei, und lernen kann er in alle Weg da und dort 
etwas; Lehrgeld koſtet's bei mir nicht, ich will ſogar noch für ſeine 
Kleider ſorgen. Bis morgen verlange ich Antwort,“ ſagte der Wirth, 
indem er aufſtand; „beſinn Sie ſich nicht zu lang, es wird Ihr nicht 
zweimal ſo geboten werden.“ 

Die Mutter ſchlief dieſe Nacht wenig; der neue Gedanke wollte 
ihr nicht in den Kopf, und am andern Morgen in aller Frühe war 
ſie beim Herrn Stadtpfarrer, um ihm ihre Bedenken vorzutragen. 
Poſſelbub' in einem Wirthshaus! Das kam ihr doch gar zu gering 
für ihren Wilhelm vor, der ſo brav in der Schule gelernt hatte. 
Und was ſollte dann ſpäter aus ihm werden, und wie viel Schlechtes 
konnte er in einem Wirthshauſe mit anhören? Auch dem Pfarrer 
that es leid, und doch redete er der Wittwe zu, es anzunehmen, 
nachdem er ſich näher erkundigt hatte. Die Wirthsleute ſtanden in 
Achtung, beſonders war die Frau gutmüthig und rechtſchaffen; der 
Wirth verſprach auch ihn ſpäter das Brauhandwerk zu lehren, und 
— andere Auskunft wußte Niemand. Ä 

So zog denn Wilhelm, von tauſend Thränen und Ermahnungen 
ſeiner Mutter begleitet, bei dem Wirthe ein. Ihm ſelbſt war es 
eben nicht ſo leid, wenn er doch einmal kein Steinhauer werden 
ſollte; ſie waren im Hauſe meiſt freundlich gegen ihn geweſen, und 
eben das Vielerlei, was es da zu thun gab, war für einen 
muntern Burſchen unterhaltend. „Kann ſein, 's iſt auch ſo recht!“ 
ſagte er beruhigend zu der Mutter, als er ihr zum Abſchiede die 
Hand gab. 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 39 


Wenn Frau Müller gefürchtet hatte, ihr Wilhelm werde beim 
Brauer zum Müßiggange angehalten, ſo war wenigſtens dieſe Furcht 
eine grundloſe geweſen. Der Wirth hatte geglaubt, der Burſche ſei 
eigentlich ganz überzählig. Aber man hätte denken ſollen, Wilhelm 
ſei die wichtigſte Perſon des Hauſes, der eigentliche Schluß- und 
Eckſtein des ganzen Anweſens; denn Wilhelm ſchrie es den ganzen Tag 
von der Bühne, aus der Stube, aus der Küche, aus dem Stalle, 
vom Keller! Jedes im Hauſe hielt es, wie es ſchien, für ſeine be— 
ſondere Aufgabe, den Wilhelm zu beſchäftigen. „Wilhelm, geh' und 
hol' den Küfer!“ rief der Herr; „Wilhelm, Du könnteſt auch Youis- 
chen im Wägele fahren!“ ſagte die Frau; „Wilhelm, hol mir ge— 
ſchwind Schnittlauch und Peterſilie!“ befahl die Köchin; „Wilhelm, 
warm' Waſſer in die obere Stube!“ wünſchte das Stubenmädchen; 
„Wilhelm, bring' den Herren drunten im Garten Zündhölzchen!“ 
verlangte der Kellner; „Wilhelm trag mir ein paar Flaſchen!“ bat 
die Kellnerin; „Wilhelm, hol' Wagenſchmiere!“ ſchrie der Haus⸗ 
knecht. Dazu kamen noch die kleinen Buben des Hauſes, denen er 
Pfeifen ſchnitzen und Schifflein machen ſollte, und Louischen, dem er 
Goldkäfer fing; er wußte in Wahrheit oft gar nicht, wo ſein Kopf 
ſtand und war am Abend abgehetzt wie ein Windhund, wenn er dem 
Hausknechte noch helfen ſollte Stiefelwichſen und der Hausmagd die 
Spüllumpen vor's Fenſter hängen. 

Er war aber geſund, munter und gutwillig, ſo hatten ſie ihn 
Alle gern; Hunger leiden durfte er nicht, obgleich er ſelten zu ordent— 
licher Zeit eſſen konnte, und bekam noch manchmal für ſeine Mutter 
etwas geſchenkt oder ein kleines Trinkgeld. Seine glücklichſten Zeiten 
waren, wenn er das kleine Louischen im Wägelchen fahren durfte; da 


40 Kann fein, s iſt auch ſo recht. 


fuhr er auf eine freie grüne Wieſe oder auf den Friedhof, der ſein 
liebſter Gang war. Die Schweſtern kamen mit ihrem Strickzeuge 
dazu; fie ſpielten zufammen mit dem Kinde und plauderten davon, 
was ſie thun würden, wenn ſie reich wären. „Ich würde euch ſo 
ſchöne Kleider bringen,“ verſprach Wilhelm, „und der Mutter ein 
warmes, wollenes Kleid und einen gepolſterten Lehnſeſſel, und auf 
des Vaters Grab da ließe ich ſo einen ſchönen Stein ſetzen!“ Er 
probirte auch immer noch Zeichnungen zu Grabſteinen, die oft wun⸗ 
derlich genug ausfielen, da er ſtets den Handwerkszeug eines Schrei⸗ 
ners darauf anbringen wollte. 

Nur mit dem Lernen ſah es fatal aus, und die Mutter ſeufzte 
oft im Stillen, wenn ſie an die Zukunft dachte. Er lernte freilich 
gar viel und mancherlei, vor Allem ſich in die Leute ſchicken, freund⸗ 
lich, gefällig und nachgiebig ſein, was eine nützliche und oft ſchwere 
Kunſt iſt; er lernte von der Mutter ſeinen Dienſt mit willigem 
Herzen thun und das Kleinſte nicht veruntreuen, wozu er ſo oft 
Gelegenheit gehabt hätte. Aber ein rechtes nützliches Gewerbe, einen 
ordentlichen Beruf für ſeine Zukunft erlernte er doch nicht; Niemand 
hatte Zeit, ihm etwas in Ruhe zu zeigen, von jeder Arbeit wurde 
er wieder an eine andere geſchickt, und die Mutter, ſelbſt eine ehr⸗ 
bare Handwerkstochter, hielt eben viel mehr auf ein ordentliches 
Gewerbe als auf das Kellner- und Bedientenweſen. 

Wenn ſie ſich lang genug darüber abgegrämt hatte, ſo fiel ihr 
ihres Mannes Sprüchwort wieder ein und des Pfarrers Auslegung, 
und ſie dachte: „der liebe Gott wird ſchon einen Ausweg für mein 
Büblein finden, wo ich keinen weiß.“ 

Eines Abends war Wilhelm auf einen Sprung bei ber Mutter. 


Kann ſein, ’8 ift auch ſo recht. 41 


Katharine, die älteſte Schweſter, die nun auch bald confirmirt wurde, 
nähte emſig. „Nicht wahr, Mutter,“ fragte ſie, „wenn ich mit dem 
Hemde fertig bin, und noch mit einem, ſo langt's zu einer neuen 
Schürze?“ 

„Nicht ganz,“ ſagte die Mutter; „für eins bekommſt Du zwölf 
Kreuzer, da mußt Du wenigſtens drei fertig machen.“ 

„Weißt was, Mutter?“ flüſterte dieſer Wilhelm in's Ohr, 
„morgen, am Feiertag, iſt Scheibenſchießen; da muß ich zeigen, das 
gibt ein Extra⸗Trinkgeld, der Herr hat's ſchon geſagt, — dann kauf' 
ich dem Kathrinle einen Schurz!“ 

Die Mutter ſeufzte wieder; ſie konnte nun und nimmer an 
ſolchem Verdienſt eine Freude haben, es kam ihr nicht recht wie ein 
ehrlicher Erwerb vor, doch wollte ſie ihm die Freude nicht verderben. 
„Nimm Dich nur in Acht, daß Dir nichts geſchieht bei der Schieße— 
rei!“ rief ſie ihm noch nach, als er ging. 


Es war prächtiges Wetter am Feiertag, und eine zahlreiche Ge— 
ſellſchaft hatte ſich in dem großen Garten des Bierbrauers zu dem 
feſtlichen Scheibenſchießen verſammelt. Allerlei werthvolle Gewinnſte, 
ſilberne Löffel, ſchöne Deckelgläſer ꝛc. waren als Preiſe für die 
beſten Schützen bereit gelegt, und da die Frauen nicht immer gut 
ſehen zu ſolchen Beluſtigungen, dachten ſich die Männer doch ein 
freundliches Geſicht zu erwerben, wenn ſie einen hübſchen Gewinn 
mit nach Hauſe brächten. 


42 i Kann ſein, 's iſt auch ſo recht. 


Wilhelm ſtand hinter der Scheibe und zeigte durch eine aufge⸗ 
ſteckte Nummer an, was getroffen worden war; die Schützen lachten 
und jubelten, je nachdem Einer eine beſonders hohe oder ſehr niedrige 
Nummer getroffen hatte; in's Schwarze hatte noch Keiner geſchoſſen. 
Unter den Schützen war auch Guſtav Brand, ein junger Kaufmanns⸗ 
ſohn, der zum erſten Mal ſein Heil verſuchen wollte. Er war kein 
glücklicher Schütze, und die Andern begleiteten ſeine Fehlſchüſſe mit 
lautem Gelächter; dadurch wurde er immer ärgerlicher, immer hitziger. 
Ohne das Zeichen zum Schuß abzuwarten, drückte er wieder los; ein 
Jammergeſchrei erſcholl hinter der Scheibe, — Wilhelm hatte nicht 
Zeit gehabt, bei Seite zu ſpringen, und lag getroffen in ſeinem Blute. 

Das war ein plötzlicher Schlag unter Luſt und Lachen. Der 
junge Brand war faſt ohnmächtig und lehnte bleich wie eine Leiche 
an einem Baume, Andere ſprangen dem winſelnden Knaben zu Hülfe. 
„Todt iſt er nicht,“ ſchrieen Einige; „der Fuß iſt's!“ rief ein junger 
Apotheker, der unter der Geſellſchaft war, „legt ihn nur auf eine 
Bank, daß er zu Bette getragen wird.“ Inzwiſchen hatte ſich nicht 
nur die Schützengeſellſchaft um den Verwundeten verſammelt, die 
ganze Wirthſchaft: Hausfrau, Brauknechte, Köchin, Stubenmädchen, 
Hausmagd, was Füße hatte, rannte herbei; alle Kinder und ſonſtiges 
Volk, das ſich auf der Straße in der Nähe des Schießplatzes umge⸗ 
trieben hatte, brachen in den Garten. Es war ein fürchterlicher 
Tumult, und der arme Wilhelm wäre vielleicht vor lauter mitleidi⸗ 
gen und hilfebereiten Händen zu Grunde gegangen, wenn nicht der 
Chirurg des Orts, ein ehemaliger Feldſcheerer, ein Mann von ge⸗ 
waltiger Stimme und Geſtalt, Ruhe geboten Bor commandirt hätte, 
den Kranken wegzutragen. 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 43 


„Nur hinauf in eine Gaſtſtube,“ rief die mitleidige Wirthin, 
„wo ein Bett überzogen iſt!“ 

8 „Zu meiner Mutter!“ rief kläglich flehend der Kranke mit 
ſeiner letzten Kraft. 

„Dummheit!“ ſagte der Chirurg, „was kann ein armes Weib 
noch einen Kranken pflegen?“ 

„O, zu meiner Mutter!“ bat er noch einmal, „ich will bei 
meiner Mutter ſterben.“ 

So trugen ſie ihn denn mit ungeheurem Geleite zu der armen 
Mutter; natürlich war ſchon ein Trupp Gaſſenbuben vorausgejagt, 
athemlos wetteifernd, wer zuerſt der Wittwe die Kunde bringen könne: 
„Shen Wilhelm hat man geſchoſſen! den Fuß ab oder todt! Jetzt 
bringt man ihn!“ 

Den Leuten, die den Knaben trugen, war's bang geweſen auf 
das Geſchrei, Schimpfen und Klagen der Wittwe; das aber war ihre 
Sache nicht, auch war ihr der Schreck bis in's Herz gedrungen und 
hatte fie faſt gelähmt. Ganz ſtill führte fie die Leute mit dem äch⸗ 
zenden Knaben herauf, ganz ſtill deckte ſie mit zitternden Händen 
ihr Bett auf; aber ſie war todbleich, ſah ſo jammervoll aus, daß 
Wilhelm ſelbſt in all ſeinen Schmerzen ihr gern etwas zum Troſte 
geſagt hätte, es fiel ihm aber nichts ein, als des Vaters Sprichwort. 
„Kann fein, es iſt auch jo recht!“ ſagte er mit ſchwacher Stimme 
und ſchloß ohnmächtig die Augen. 


44 Kann ſein, e iſt auch ſo recht. 


Der Kranke war verbunden und lag in guter Hut und Pflege 
in der Mutter reinlichem Bette, die Tag und Nacht nicht von ihm 
wich. Wohl hatte er noch in Schmerz und Todesſchwäche richtig 
gefühlt, daß ſein Platz bei der Mutter war; ſo gut der Wille war 
im Wirthshauſe, er hätte nie die Pflege haben können wie bei ihr, 
und wenn ſie auch zu ihm gekommen wäre, ſie hätte ja doch A 
Schweſtern nicht mitnehmen können. 

Wilhelm litt freilich viel Schmerzen, aber eigentlich war's ihm 
doch in ſeinem Leben nie beſſer gegangen als in dieſer Krankheit. 
Der herumgeſchobene Poſſelbube war auf einmal eine wichtige Per⸗ 
ſon geworden, die Herzensgüte und Dienſtfertigkeit, die er gegen alle 
gezeigt, trug jetzt Zinſen. Nicht nur die Wirthin ſchickte gute Betten 
und kräftige Suppen für ihn, die Köchin ſelbſt, obgleich ſie nicht 
leicht zu Fuß war, keuchte die Treppen der Wittwe herauf, um ihn 
zu tröſten und ihm gute Biſſen zuzuſtecken; auch der Hausknecht ſah 
nach ihm und brachte ihm von ſeinen Erſparniſſen ſüßes Biskuit 
und alten Wein, den er zwar nicht trinken durfte, der aber der 
Mutter um ſo beſſer kam. 

Nach dem Unglück waren viele gute Bekannte und Sith zu 
der Wittwe gekommen und hatten ihr gerathen, klagend gegen den 
Urheber des Unglücks, den jungen Brand, aufzutreten und eine recht 
hohe Entſchädigungsſumme zu verlangen. „Nein, Nachbarin, das 
müßt Ihr nicht thun!“ rieth ein alter Pfiffikus von Nachbar, „Ihr 
geht nicht vor Gericht, Ihr geht zu Brands und droht mit der 
Klage; da könnt Ihr Geld genug von ihnen herausſchlagen, ſo reiche 
Leute fürchten ſich vor Gericht zu kommen!“ | 

„Mutter, das Alles thuſt Du nicht,“ bat Wilhelm, als der 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 45 


Nachbar fort war; „der junge Herr Brand iſt immer freundlich ge— 
gen mich geweſen, er hat's nicht mit Fleiß gethan und war ihm ſel⸗ 
ber leid genug, — wir wollen thun, was wir können, um ihm 
keinen Verdruß zu machen.“ 

So unterblieb, auf die herzliche Bitte des Sohnes und der 
Wittwe, die gerichtliche Unterſuchung. Die reiche, angeſehene Familie, 
die alles Aufſehen fürchtete, war ſehr dankbar dafür, und der junge 
Brand, dem es von ganzem Herzen leid that, wußte gar nicht, was 
Alles er dem Kranken zu Liebe und zur Erquickung thun ſollte. Die 
ganze kleine Stadt wurde aufmerkſam auf die Schreinerswittwe, Je— 
dermann wußte Gutes von ihr, ſchickte etwas für den Kranken und 
verſprach Arbeit und Beiſtand für die Zukunft. 

Noch lange, ehe Wilhelm ſich ſelbſt an den guten Biſſen er⸗ 
quicken konnte, die man ihm ſchickte, ſah er mit leuchtenden Augen, 
wie in der Mutter ärmlicher Stube nun faſt Ueberfluß einkehrte, 
wie die Schweſtern ſich labten an den guten Dingen, wie die viele 
Liebe und Theilnahme der Mutter ſo wohl that. „Gelt, Mutter,“ 
ſagte er lächelnd, „kann ſein, 's iſt auch ſo recht? wie ſind doch die 
Leute ſo brav!“ 

„O Büble,“ ſeufzte die Mutter, „das geht bald vorbei; nach— 
her denken ſie Alle nicht mehr an uns, und was ſoll's mit Dir 
werden, wenn Dein Fuß nicht mehr recht wird?“ 

„Kommt gewiß recht, Mutter!“ tröſtete Wilhelm, „weißt ja, 
was der Herr Stadtpfarrer ſagt; freu' Dich doch derweil, daß die 
Leute ſo brav ſind!“ 

Wilhelm lag lange krank; alle Koſten ſeiner Verpflegung wur— 
den aber reichlich aus dem Brand'ſchen Hauſe beſtritten. Endlich 


46 Kann ſein, 's iſt auch ſo recht. 


war er hergeſtellt, aber ſein Fuß war nicht wieder ganz und gerade 
geworden: er konnte nur langſam mit Hülfe eines Stockes gehen. 

Was nun thun? Die vielen Leute, die während ſeiner Krank⸗ 
heit für ihn geſorgt, hatten nun wieder Anderes zu thun und zu 
ſorgen; der Stadtpfarrer dachte daran, ihn zu einem Lithographen 
in eine größere Stadt zu bringen, da er viel Talent zum Zeichnen 
zeigte, — aber unentgeltlich würde ihn keiner nehmen. 

Da ließ eines Tages der alte Herr Brand Wilhelm rufen. 
Mit großem Reſpekte trat dieſer in das ſchöne Zimmer und vor den 
alten Herrn im grünſaffianenen Lehnſtuhle, den er immer wegen 
ſeines goldenen Stockknopfes und ſeiner ſilbernen Tabacksbüchſe von 
weitem bewundert hatte. | 

„Höre, mein Sohn,“ begann recht wohlwollend der alte Herr, 
„ſetz' Dich da auf den Stuhl, das Stehen geſchieht Dir doch ſauer, 
— Du und Deine Mutter, Ihr habt Euch bei dem Unfall, der 
meinem Sohne zugeſtoßen ift, recht brav benommen, recht ordentlich, 
ich muß geſtehen. Du weißt, daß Deine Pflege- und Kurkoſten von 
uns beſtritten worden ſind; aber wir wollen noch mehr thun. Was 
willſt Du jetzt anfangen? Herr Kohlmaier würde Dich ſchon wieder 
aufnehmen, aber Du ſiehſt wohl ein, — ein Laufbube, der am Stocke 
geht, der taugt nicht. Ebenſo wär's, wenn ich Dich in meiner 
Handlung beſchäftigen wollte. Wie wär's, wenn Du nach Amerika 
gingeſt?“ | 

Das kam dem Wilhelm jo verwunderlich vor, als wenn man 
ihn hätte in den Mond ſchicken wollen; er ſelbſt hatte ſein Lebtage 
nie daran gedacht, und er blieb ganz ſtumm. 

„Mein Sohn iſt ſo gar weichherzig,“ fuhr der alte N fort, 


Kann fein, es iſt auch ſo recht. 47 


„er ſagt, das Herz thue ihm weh, ſo oft er Dich ſehe; da möchte 
ich ihm nun die Laſt abnehmen, wenn Dir zugleich ein Gefallen da- 
mit geſchähe, — ſiehſt Du ...“ Und der Kaufmann nahm aus 
einer Commode zwei Rollen und zählte auf den rothen Tiſchteppich 
zweihundert baare Guldenſtücke. „Sieh, ſoviel ſollſt Du haben,“ 
ſagte er; „das reicht zur Ueberfahrt und bleibt ein ſchöner Ueber— 
ſchuß, dazu wollte ich Dich noch an einen Freund in New-Pork em⸗ 
pfehlen; nun geh' nach Hauſe und rede mit Deiner Mutter!“ 

Der alte Herr hatte es gut berechnet, daß er den Vorſchlag 
zuerſt dem Knaben machte. Der Mutter kam der Gedanke ſchreck— 
lich vor, ihren einzigen Sohn, ihren Liebling über's Meer zu laſſen; 
dem Wilhelm aber war bereits die Heimat über'm Meere als gol- 
denes Hoffnungslicht aufgegangen, da mußte Alles noch gut werden! 

Auch andere, nüchterne Leute redeten der Wittwe zu; ſie ſah 
es ſelbſt für Pflicht an, ihr Mutterherz zum Opfer zu bringen und 
nahm des Kaufmanns Anerbieten dankend an. 

Wilhelm wurde von verſchiedenen freundlichen Händen ganz gut 
ausgeſtattet, „wie ein Prinz,“ meinte die kleine Margarethe, die ſich 
eigentlich viel einbildete, daß ſie einen Bruder habe, der nach Amerika 
gehe, während Katharinchen immerfort weinte. 

Im Frühling reiste Wilhelm ab; am Abend vor ſeiner Abreiſe 
beſuchte er noch des Vaters Grab mit den Schweſtern und nahm 
ein grünes Zweiglein mit. „Ihr werdet ſehen,“ ſagte er leiſe, als 
ſie gingen, „ich halt doch noch Wort.“ Seine Mutter begleitete 
ihn bis Heilbronn, ſie konnte ihn einer braven Familie empfehlen, 
die auch die Ueberfahrt machte; Wilhelm blieb ziemlich getroſten 
Muthes, aber die Mutter meinte, wenn ſie nur ſterben dürfte auf 


48 ; Kann fein, ’8 ift auch ſo recht. 


der Stelle, wo fie ihren Knaben ziehen laſſen mußte. „Sei ruhig, 
Mutter!“ tröſtete fie Wilhelm unter Thränen, „kann fein, s iſt 


auch ſo recht.“ 


Zehn Jahre waren vergangen, ſeit die Schreinerin ihren Sohn 
hatte ziehen ſehen, und nur zweimal hatte ſie in dieſer Zeit kurze 
Nachricht von ihm erhalten. Es betrübte ſie oft, aber die Leute 
ſagten ihr, daß es die Amerikaner nicht anders machen; „aus Ame⸗ 
rika ſchreiben ſie nur, wenn ſie Geld wollen, und Euer Wilhelm 
weiß wohl, daß bei Euch nicht viel zu holen iſt.“ Grethe konnte 
nicht glauben, daß ihr Wilhelm auch ſo Einer geworden ſei; eher 
fürchtete ſie, er ſei todt, oder es gehe ihm ſchlecht, und er wolle ſie 
nicht betrüben. 

Ihr ſelbſt und ihren Töchtern ging es nicht eben ſchlimm: 
Katharine hatte einen guten Dienſt, Margarethe hielt mit ihrer 
Mutter eine Strickſchule für kleine Bürgermädchen und verdiente 
daneben noch Manches mit Nähen. Es war faſt, als ob ſeit Wil⸗ 
helms Unglück beſſere Tage bei ihnen eingekehrt wären, und die 
Mutter ſagte oft, es ſei ihr eigentlich betrübend, daß das Büble 
mit ſeinem Fuß habe das Opfer für ſie werden müſſen. | 

Da kam eines Tags der Herr Kaufmann Brand ſelbſt keuchend 
und puſtend in großer Wichtigkeit zu der Wittwe: „Frau Müller, 
man ſchreibt mir aus Heilbronn, daß allda eine Kiſte an Sie aus 
Amerika angelangt ſei, ſo ſchwer, daß man ſie kaum an's Land 
ſchaffen könne; es ſoll ſelbſt Jemand auf den Platz, um den weiteren 


Kann fein, 's iſt auch ſo recht. 49 


Transport zu beſtimmen. Natürlich,“ wandte er ſich zu der be— 
ſtürzten Frau, die in ſtummem Erſtaunen die Hände zuſammenſchlug, 
„darf Sie ſich keinen thörichten Einbildungen hingeben, als ob Geld 
in einer ſolchen Kiſte käme, das ſchickt man aus Amerika nicht in 
Kiſten! Ich habe ohnehin ein Reislein nach Heilbronn vor, da 
kann Sie meinetwegen mitfahren.“ Den alten Herrn ſtach ſelber 
der Vorwitz, was denn der Schreiner-Wilhelm in einer ſo ſchweren 
Kiſte ſchicke. 

Obgleich er der Wittwe empfohlen hatte, zu ſchweigen, ſo brei— 
tete ſich doch alsbald im Städtchen die Kunde aus, daß in Heil— 
bronn eine Kiſte voll Gold an die Schreinerin angekommen ſei, fo 
ſchwer, daß ſie zehn Roſſe nicht fortſchaffen können. Man bot ihr 
bereits Häuſer und Grundſtücke zum Kauf an, jedermann war von 
jeher „der beſt Freund zu ihr“ geweſen und erinnerte ſie vielfältig 
daran, wie viel er ſeiner Zeit an ihrem Wilhelm gethan habe, „wo 
er ſeinen Fuß gehabt habe.“ Wenn es nicht doch etwas weit ge— 
weſen wäre, die Leute wären haufenweiſe nach Heilbronn gelaufen, 
um die Goldkiſte zu ſehen; Margarethe und Katharine aber liefen 
die Nacht durch, um am andern Vormittage zugleich mit dem Gefährt 
des Herrn Brand in Heilbronn einzutreffen. So halb und halb 
glaubte Katharinchen doch auch an die Goldkiſte; die Mutter nicht, 
ſie dachte nur, daß ihr Sohn noch lebe und an ſie denke. 

Die Kiſte war ausgeladen und lag auf dem Zollamte, es war 
auch ein Paket ſammt Briefen dazu da. Die Wittwe mußte ſich 
ſetzen vor Bewegung und Rührung, — Alles ſtand in athemloſer 


Spannung umher, als die Kiſte geöffnet wurde. „Ein Stein! ein 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 4 


50 Kann ſein,? iſt auch ſo recht. 


Leitbenſtein!“ rief Katharine, „ein Grabſtein für den Vater!“ rief 
M arethe. „Wilhelm hat Wort gehalten!“ 

Ja, es war ein Leichenſtein für den verſtorbenen Scrüsk 
Ueber dem ſchön gearbeiteten Fuße waren auf's Feinſte gemeißelt 
und maleriſch geordnet die Werkzeuge des Schreiners; darüber ſtand 
der Name des Vaters in ſchönen Goldbuchſtaben, auf der andern 
Seite aber ſtand der Spruch: „Der Gerechten Seelen ſind in Gottes 
Hand und keine Qual rühret ſie an.“ Ein goldenes Kreuz erhob 
ſich auf dem Steine. 

Alle bewunderten die ſchöne, reine, kunſtvolle Arbeit, nur die 
Kaufler te fanden es unſinnig, die hohen Frachtkoſten an etwas zu 
wenden das man ja im Lande auch hätte hübſch ausfertigen können, 
wenn er das Geld dazu geſchickt haben würde. Die Wittwe zer⸗ 
floß in Thränen der Rührung, — 1 mußte ihr den Brief 
vorleſen. | 

„Endlich iſt's gelungen, liebe Mutter,“ ſchrieb Wilhelm, „und 
ich kann auf des Vaters Grab das Denkmal ſetzen, wie es mein 
Wunſch geweſen iſt von Kind auf. Ich habe mir's oft ſauer wer⸗ 
den laſſen müſſen und habe mir vorgenommen, ich wolle nicht mehr 
ſchreiben, bis mir's auch recht gut gehe. Das iſt jetzt ſo, Gott ſei 
Lob und Dank! ich bin jetzt Bildhauer allhier in New⸗Jork, mache aber 
nichts als lauter Grabſteine und kann damit nicht fertig werden, ſoviel 
habe ich zu thun. Ich darf nur noch die feine Arbeit daran machen, 
und das kann ich wohl, trotz meinem Fuß, der auch beſſer geworden 
iſt. Ich verdiene ſo viel Geld, daß ich gar keine Sorge mehr habe. 
Ich ſchicke Euch hier ein Weniges, zweihundert Dollar in einem 
Wechſel, und will aber mehr ſchicken, wenn Ihr zu mir kommen 


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IL, Pe 
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Kann fein, 's ift auch ſo recht. 51 


wollt nach Amerika, Ihr ſollt es gut bei mir haben. Auch ſchicke 
ich kleine Geſchenke für die Schweſtern und an alle meine guten 
Freunde, das feine Petſchaft mit ſeinem Namen an den jungen Herrn 
Brand, zum Zeichen, daß ich ihm nichts nachtrage; er hat gut und 
rechtſchaffen gegen uns gehandelt, und Gott hat Alles zum Beſten 
gewendet! 

„Machet mir die Freude und kommet zu mir! ich kann Dir, 
liebe Mutter, noch gute Tage machen, und laſſet meinem Vater den 
Stein von einem rechten Meiſter auf ſein Grab ſetzen.“ 

Die Einwohnerſchaft von K. war freilich getäuſcht, als ſtatt der 
Goldkiſte ein Leichenſtein ankam; doch wurde auch dieſer gehörig be- 
wundert, und es gab eine wahre Wallfahrt zu dem Grabe des lang 
vergeſſenen Schreinermeiſters, um das Denkmal der Kindesliebe zu 
beaugenſcheinigen. 8 

Zum Zuge nach Amerika wollte ſich Frau Grethe nicht ent— 
schließen. „Ich bleib’ zweimal fo gern hier, lieber Wilhelm,“ ſchrieb 
ſie ihm, „ſeit des Vaters Grab ſo zu Ehren kam; es iſt mir faſt 
eine Verlegenheit, weil nicht einmal die Frau Speziälin ſo ein ſchönes 
Grabmal hat. Daß Du aber ja keinen ſo koſtbaren Stein mehr 
ſchickſt, wenn ich einmal ſterbe! das thäte Dich ja ſo viel Porto 
koſten. Der Stadtrath hat mir verſprochen, daß ich einmal neben 
Deinem Vater ſelig begraben werde, da gilt dann des Vaters Grab— 
ſtein auch für mich. Gott ſegne Dein treues Herz und laſſe Dir's 
wohl gehen in Zeit und Ewigkeit!“ 

Sie erlebte aber auch die Freude, daß ihr Wilhelm ſie beſuchte, 
nachdem er ihr vorher ſchon das eigene Häuschen wieder gekauft und 
ihre alten Tage leicht gemacht hatte. Er war ein ſtattlicher, hübſcher 


52 | Kann fein, z iſt auch ſo recht. 


Mann, obgleich er an einem Stocke gehen mußte. Er wurde bei 
dem jungen Herrn Brand, der ſich verheirathet hatte, zu Gaſte ge⸗ 
laden, und Kohlmeiers Luischen, obwohl eine ſchöne Jungfer, hat 
ſich doch entſchloſſen, als ſeine Frau mit ihm nach Amerika zu gehen. 

Die Schweſtern wollten die Mutter nicht verlaſſen, ſo lang ſie 
lebe. „Kann fein, 's iſt auch jo recht,“ ſagte der Schreiner-Wilhelm. 


Der Mutter Tod. 


Es war einmal ein Brüderchen und ein Schweſterchen. So hat 
ſchon manche ſchöne Geſchichte angefangen, und ſo wird noch gar 
manche anfangen, ſo lange die Welt ſteht, denn beim Lichte betrachtet, 
beſteht ja doch die ganze Welt aus nichts als Brüderchen und Schwe— 
ſterchen, wenn ſie auch oft groß gewachſen ſind und gar weit aus— 
einander geführt werden und nicht mehr ſo einträchtig miteinander 
durch den Wald gehen wie Brüderlein und Schweſterlein im Mährchen. 

Ein Brüderchen und ein Schweſterchen war es denn auch, die 
im goldnen Abendſonnenſchein beiſammen ſaßen in dem Gärtchen, das 
vor einem einſamen kleinen Hauſe am Eingang eines Waldes ſtand. 
Das Büblein ſaß auf einem alten hölzernen Schemel und das Mäd— 
chen auf der Erde zu den Füßen einer bleichen Frau, die recht müde 
auf einem alten Strohſtuhl ſaß, den ihr Lottchen, ſo hieß das Mädchen, 
in die Sonne herausgetragen hatte. Aber ſo warm die Sonne ſchien, 
die Frau ſchien doch zu frieren, fröſtelnd hüllte ſie ſich in den alten 
verblichenen Shawl, den ihr Lottchen umgegeben hatte, ſo daß dieſe 
ängſtlich nach ihr aufblickte und fragte: „Mutter, biſt du kränker?“ 
Richard, das Büblein, war gar nicht ängſtlich, er hatte ſich eben ein 
Thürmchen von Kieſelſteinen gebaut und ein Schneckenhaus oben drauf 


56 Brüderchen und Schweſterchen. 


geſetzt, das ihm ungemein wohl gefiel, nur wollte es immer wieder 
einfallen, was ihm viel zu ſchaffen machte. 

„Ja, Lottchen, ich glaube, ich bin ſehr ſchwach,“ ſagte leiſe die 
Mutter auf des Kindes Frage. „Willſt Du nicht lieber wieder in's 
Bett gehen?“ bat dieſe. „Laß mich nur, Kind, es iſt mir ſo wohl 
im Freien,“ ſeufzte die Kranke. Lottchen mußte dem Bruder helfen, 
dem der Schneckenthurm ſchon wieder eingefallen war; mit tiefer 
Wehmuth ſah die bleiche Frau auf die Geſchwiſter und der ſchwere 
Seufzer: „o meine armen Kinder!“ entrang ſich laut, faſt unwillkür⸗ 
lich ihrer Bruſt. Erſchrocken ſahen die ſpielenden Kinder auf, „Mut⸗ 
ter, ſtirbſt du?“ fragte arglos der kleine Richard, „die Milchbäbel 
hat geſtern zu mir geſagt, du ſtirbſt; iſt's wahr?“ Lottchen wußte 
ſchon mehr, was Sterben heißt, ſie ſah angſtvoll, ohne ein Wort 
ſprechen zu können, auf in das blaſſe Geſicht der Mutter. „Es wird 
ſo kommen, Kind,“ ſagte die Mutter ſchmerzlich, und mit gefalteten 
Händen im Tone tiefſten Jammers ſtöhnte ſie: „o Gott, wer ſorgt 
für meine Kinder!“ „Mutter, ich will für das Brüderlein ſorgen,“ 
verſicherte Lottchen, nur bemüht, die arme Mutter zu beruhigen. 
„Und wer ſorgt für dich?“ fragte die Mutter ſchmerzlich lächelnd. 
„Der liebe Gott,“ ſagte Lottchen zuverſichtlich; „geb' nur Acht, wenn 
du im Himmel biſt, wirſt du's ſchon ſehen, daß ich dem Brüderlein 
nichts geſchehen laſſe.“ „Das gebe Gott,“ ſagte die Frau mit mat⸗ 
tem Lächeln, aber du biſt noch fo jung . ..“ „Mutter, die Bäbel 
hat geſagt, ich ſei wie ein Altes,“ verſicherte Lottchen, und die Mutter 
ſtreichelte leiſe mit matter Hand ihre dunklen geſcheitelten Haare; fie 
war ſo müd, ſo ſterbensmüde, daß ſie nicht mehr ſorgen und denken 
konnte, nur die Sprüche, die ſie als Kind ſchon gelernt und ſeitdem 


Schwesterchen 


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Brüderchen und Schweſterchen. 57 


ſchon oft wieder in dem heiligen Buche nachgeleſen hatte, klangen ihr 
noch durch den Sinn: „ich will euch nicht verlaſſen, noch verſäumen,“ 
„ich will ein Vater ſein der Waiſen,“ „der Herr behütet die Fremd⸗ 
linge und Waiſen.“ 

„Lottchen,“ fing die Mutter wieder an, „kommt der Vater noch 
nicht? es wird ſo dunkel.“ „Es iſt noch ganz hell, Mutter, erſt fünf 
Uhr,“ ſagte Lottchen, ſie fürchtete ſich ein wenig; „ich wollte, er 
könnte den Herrn Pfarrer rufen, mir wird ſo ſchwach,“ ſagte die 
Mutter. „Soll ich ihn holen?“ fragte Lottchen, „oder den Chirurg?“ 
„Nein, o nein, der liebe Gott iſt bei mir,“ ſagte die Mutter und 
faßte wie hilfeſuchend feſt des Kindes Hand, die ihrige fühlte ſich 
ganz kalt an, die andere legte ſie auf Richards blondes Köpfchen, 
das dieſer bange in der Mutter Schoß geborgen. „Der Herr ſegne 
euch,“ klang es matt und leiſe von den bleichen Lippen; „Lottchen, 
kannſt du nicht beten? ich bin ſo müd.“ 

Angſtvoll beſann ſich Lottchen auf ein Gebet, die Mutter hatte 
fie ſchöne Morgen⸗ und Abendgebetchen gelehrt, aber die paßten doch 
jetzt nicht; ſie hatte auch ſchon gelernt, ihre kleinen Bitten und An⸗ 
liegen ſelbſt vor den lieben Gott zu bringen, aber laut aus dem 
Herzen gebetet hatte ſie doch noch nie, da fiel ihr das alte Lied ein, 
das ſie die Mutter gelehrt beim Klang der Abendglocke zu ſprechen, 
und obwohl es noch nicht Betglockenzeit war, hub ſie doch in ihrer 
Herzensangſt an ſo gut ſie's wußte: 


Ach bleib bei uns, Herr Jeſu Chriſt, 
Dieweil es Abend worden iſt; 

Dein göttlich Wort, das helle Licht, 
Laß ja bei uns auslöſchen nicht. 


58 Brüderchen und Schweſterchen. 


In dieſer letzten betrübten Zeit 
Verleih uns, Herr, Beſtändigkeit. 
Laß uns in guter ſtiller Ruh 
Das zeitlich Leben bringen zu; 
Und wenn das Leben neiget ſich, 
Laß uns einſchlafen ſeliglich. 


Aber die Hand der Mutter war ſo gar kalt und ſchwer, er⸗ 
ſchrocken blickte Lottchen auf, die Mutter ſchien zu ſchlafen, aber kein 
Athem ging durch die halboffnen Lippen; ein ſanftes, müdes Lächeln 
lag auf dem Geſicht, die Wangen waren noch röthlich, aber ſie war 
ſo gar ſtill und ſo kalt. Auch Richard war bang und ſchlüpfte dicht 
an Lottchen, die ſich zu ihm auf den Schemel ſetzte und nicht wagte, 
ſich zu rühren. 

Da ſprang ein ſchöner brauner Jagdhund in das Gärtchen. 
„Waldmann!“ rief fröhlich und erleichtert der kleine Richard und 
Lottchen ſprang dem Vater entgegen, der nach dem Hunde den Wald⸗ 
ſteig herunter auf das Gärtchen zu kam; „o Gottlob, daß du kommſt, 
Vater!“ rief ſie, „die Mutter war ſo ſchwach und iſt jetzt ſo kalt, 
und ſie ſchläft doch nicht recht.“ 

Raſch und erſchrocken trat der Vater zu der Frau, und ſah 
mit Einem Blick, daß hier alles vorüber war. „O Kathrine, Kathrine,“ 
rief furchtbar erſchüttert der ſonſt rauhe Mann, „o wach' auf, wach' 
nur ein einzigesmal auf, ich will Dir's ja beſſer machen, Du haſt 
nicht viel Gutes gehabt, o, was thun wir denn, ich und die Kinder, 
wenn Du todt biſt?“ Jetzt löste ſich auch die angſtvolle Stille 
der Kinder in lautes Weinen und Klagen, ſo daß es ſelbſt Leute 
in den ziemlich entfernt gelegenen Hauffe des Dorfes hörten; ſie 


Brüderchen und Schwefterchen, 59 


kamen und beklagten in ihrer gutmüthig rauhen Weiſe den Mann 
und die armen Kinder und trugen ſachte die Leiche in's Haus, eine 
Bäurin ſprang zum Herrn Pfarrer, zwei Männer erboten ſich, 
Wache bei der Todten zu halten. 


Drei Tage nachher ging langſam ein langer Zug durch's Dorf; 
voraus zogen die Schulkinder und fangen mit lauter, nicht ſehr wohl- 
klingender Stimme ein Sterbelied, nach dem Sarge kam der Vater 
der zwei Waiſen, Forſtwart Kraus, in ganz ſchwarzen Kleidern 
gingen dieſe ſtille an ſeiner Hand, der ſtarke Mann war ganz wie 
zuſammengebrochen, „wie alt der Forſtwart geworden iſt,“ flüſterten 
ſich die Leute zu, er konnte nicht aufblicken. Lottchen wußte wohl, 
welch? traurigen Gang fie machte, fie drückte das Geſicht in ihr 
weißes Tüchlein und weinte und weinte bitterlich; das Brüderlein 
ſah immer nur wieder ſie und den Vater verwundert an und wußte 
nicht recht, ob es auch weinen ſollte: der Sarg mit den Blumen, die 
ſingenden Kinder und die lange Reihe Leute, der er vorausgehen 
durfte, erſchien ihm ſo gar merkwürdig, daß ihm das Weinen wieder 
verging, auch hatte Lottchen zwei ſchöne Blumenſträuße gebunden für 
ſich und ihn, die ſie in der Mutter Grab legen durften, — das alles 
war ihm ſo wichtig, daß er nicht recht zum Weinen kommen konnte, 
doch ſah er gar ernſthaft und betrübt aus und die Leute blickten 
gerade den Kleinſten beſonders mitleidig an. 

Faſt vor jedem Haus im Dorfe ſtand ein Mann, eine Frau 
oder Tochter in ſchwarzer, ſonntäglicher Kleidung und ſchloß ſich dem 
Leichenzuge an; der ain zwar war nicht beſonders beliebt bei 


60 Brüderchen und Schweſterchen. 


den Leuten, weil er ein rauher Mann war und weil er, was freilich 
ſeines Amtes war, gar Manchen ſchon hatte wegen Waldfrevel ſtrafen 
müſſen, aber Kathrine, ſeine Frau, war eine Schulmeiſterstochter vom 
Ort und eine gar ſanfte gute Frau geweſen, die jedermann lieb hatte, 
und der thaten ſie gern die letzte Ehre an. 

Am Grabe ſchrien die Schulkinder noch einmal ein Lied aus 
vollem Halſe; Lottchen hielt ihr Brüderlein bei der Hand, ſie ver⸗ 
ſtand nicht recht alles, was der Herr Pfarrer ſagte, nur die Worte 
behielt ſie aus ſeiner Rede: „ich will Euch tröſten, wie Einen ſeine 
Mutter tröſtet;“ und fie dachte, das müſſe ſchön fein, die Mutter 
hatte ſie allemal gar ſo lieb getröſtet, wenn ſie mit einem Kummer 
auf ihrem kleinen Herzen zu Bette gegangen war; ſie ſenkten den 
Sarg hinunter, Jedes warf eine Hand voll Erde darauf, die Kinder 
ihre Blumen, als aber Lottchen zu Richard ſagte: da unten liege die 
Mama, da legte das Kind ſich weinend auf den Rand des Grabes 
und wollte nicht gehen, nur als Lottchen ihm leiſe ſagte: „komm', 
Brüderlein, wir wollen heim und noch ein recht ſchönes Kränzlein 
für die Mama flechten,“ da ſtand er auf und ließ ſich von ihr heim⸗ 
bringen; es war ſo müde das Kind, von dem langen Weg und vom 
Weinen, daheim dachte er nicht mehr an das Kränzlein, Lottchen 
kleidete ihn ſorgfältig aus, und er ſchlief tief und feſt ein. 

Draußen ſchaufelten die Todtengräber das Grab zu, die treuen 
Mutteraugen waren geſchloſſen und lagen tief, tief unter der Erde, 
aber hoch oben war das Auge des lieben Gottes offen, und wachte 
über den verlaſſenen Kindern. 


Brüderchen und Schweſterchen. 61 


Die Waiſen daheim. 


Es iſt überall ſchwer und traurig, wenn eine Mutter ſtirbt, 
doch kann es an einem Orte noch viel ſchwerer ſein als am andern. 
Manchmal iſt eine gute Tante da, die die Pflege verwaister Kinder 
übernimmt, eine gewiſſenhafte Erzieherin, eine treue Haushälterin, 
oder doch eine brave alte Magd; Forſtwart Kraus aber konnte ſeinen 
Kindern keine Erzieherin halten, nicht einmal eine Magd fand er für 
den Augenblick; die Milchbäbel, die etwas einfältige Schweſter einer 
Bäurin vom Dorf, verſtand ſich dazu, Waſſer zu holen, wie ſie 
ſchon in der letzten Zeit für die kranke Frau gethan, ein Bischen 
Kochen verſtand der Forſtwart ſelbſt, Lottchen konnte ſich wenigſtens 
allein die Zöpfe flechten und ankleiden; aber der Kleine, der ſo gar der 
Mutter gewöhnt und kaum vier Jahre alt war, was ſollte mit dem 
Kleinen werden? „Für den Kleinen ſorge ich,“ verſicherte Lottchen, und 
als der Vater trübſelig den Kopf ſchüttelte und ſagte: „Du biſt ja ſelber 
noch ein Kind,“ da lächelte ſie ganz getroſt, ſie hatte ja den lieben 
Gott gebeten, daß er ihr helfen ſolle, da mußte es gewiß gehen! 

Als die erſten Trauertage vorüber waren, mußte Lottchen wieder 
in die Schule. Vielleicht hätte der Lehrer noch länger ein Auge zu— 
gedrückt, aber ſie war ſelbſt geſcheidt genug, um zu wiſſen, daß ſie 
etwas lernen müſſe, wenn ſie ein brauchbares Mädchen werden wolle; 
aber was mit dem Brüderlein thun? Der Vater mußte in den 
Wald, da konnte er ihn nicht mitnehmen, und allein daheim laſſen 
wollte ſie ihn noch weniger. „Du gehſt eben mit in die Schule,“ 
ſagte ſie; „bei der Mama a hatte Richard zuerſt geſagt, er 


62 | Brüderchen und Schweſterchen. 


war das ja ſo gewöhnt, aber dann blickte er hinüber zu dem alten 
Lehnſtuhl, in dem die kranke Mutter ſonſt geruht, ſchüttelte ſein Köpf⸗ 
chen und ſagte betrübt: „keine Mama mehr da, Mama im Himmel.“ 
„Du darfſt mit in die Schule,“ ſagte ihm Lottchen, die eben ihr 
Schultäſchchen gerüſtet hatte, da war er denn voller Freude: „Ich bin 
groß, ich geh' auch in die große Schule!“ rief er höchſt vergnügt; aber 
einen Schulſack mußte er haben und ein Buch und eine Feder. Zum 
Glück fand Lottchen einen alten Strickbeutel von der Mutter, ein 
Scherben von einer Schiefertafel und ein Blättchen Papier fand ſich 
auch; da ſie nicht zwei Federn hatte, ſo ſchnitt ſie den langen Schwanz 
von der ihrigen ab, und ganz ſtolz und glücklich ſchritt der kleine 
Schüler an ihrer Seite hinaus. „Ich geh' jetzt in die Schul', ich 
hab keine Zeit,“ ſagte er vornehm und wichtig zu der Bäbel, die 
im Vorbeigehen ihren Spaß mit ihm haben wollte. Aber, o weh, 
wie eben das geſchäftige Lottchen froh war, daß ſie nun ſo weit fertig 
waren, entdeckte ſie einen bedeutenden Riß an Richards Höschen! 
Das hatte ſonſt immer die Mama beſorgt, ſie hatte wohl ſchon ein 
Puppenkleidchen genäht, aber niemals Hoſen geflickt; ſie ſuchte in Eile 
in der Mutter Nähkörbchen nach Nadel und Faden und zog das Loch 
zuſammen ſo gut ſie konnte, freilich hatte ſie Richard ein wenig in's 
Füßchen geſtochen und ſein Hemdchen mit angenäht: das that aber 
nichts, waren ſie doch endlich fertig und trippelten mit einander in's 
Dorf hinunter, wo die Leute ſie mitleidig anſahen und grüßten. 
Der Schulmeiſter kam in die Schule, die Kinder waren ſchon 
alle ordentlich an ihren Plätzen, der kleine Richard ſaß nahe bei ſeinem 
Lottchen auf dem hölzernen Tritt am Katheder. „Was thut der Kleine 
da? ich ſag's euch, die Schule iſt nicht zum Kleinkinderhüten,“ ſagte 


Brüderchen und Schweſterchen. 63 


er etwas ärgerlich. „Es iſt ja das Brüderlein!“ ſchrien die Kinder 
zuſammen. „Was Brüderlein,“ ſagte der Lehrer ärgerlich, „ſo kleine 
Burſche geben Unfug in der Schule,“ „dem Forſtwart ſei'm Lottchen 
ihr Brüderlein,“ erläuterten die Kinder; „ja ſo,“ ſagte er milder, 
mit einem Blick auf die Trauerkleider des Kleinen, und als Lottchen 
mit Thränen in den Augen ſagte: „es iſt niemand daheim, Herr 
Schulmeiſter, der nach dem Kinde ſieht.“ Da erlaubte er freundlich, 
daß der Kleine, der mit angſtvollem Reſpekt zu ihm aufſah, bleiben 
dürfe, ſo lange er ſich ruhig verhalte. 

Richard war eben kein lärmendes Kind; ſo lange die Schulkinder 
ſchrieben, krizelte er ruhig auf ſeine Tafel, wenn ſie laſen, ſchaute 
er höchſt ernſthaft in ſein kleines Büchlein und beim Singen ſang er 
mit ſeinem feinen Stimmchen nach Herzensluſt mit. So durfte denn 
von nun an das Brüderlein immer mit zur Schule kommen, bei 
ſchönem Wetter ſpielte er im Gärtchen des Schulmeiſters, auch nahm 
ihn manchmal die Frau Schulmeiſterin ein bischen zu ihren eignen 
kleinen Kindern in die Stube. „Das Brüderlein“ hieß er bei allen 
Schulkindern, und alle meinten es gut mit ihm, ſie brachten ihm 
hie und da Aepfel, Nüſſe oder Oelkuchen; wenn man ſpielte in den 
Freiſtunden, durfte er in der Mitte unter dem Apfelbaum ſitzen, 
der im Schulhof ſtand, und dem Spiel zuſehen; das Brüderlein war 
überall eine kleine Hauptperſon, und wenn ein Kind unvorſichtig an 
ihm vorbeiſprang, ſo ſchrien die andern: „thu dem Brüderlein nichts!“ 

Daheim in dem Haushalt des Forſtwarts ſah's freilich betrübt 
aus; er zwar hatte gemeint, er könne ſelbſt kochen, ſeine Kochkunſt 
beſtand aber darin, daß er ein Stück Wildpret bereiten und Kartoffel 
ſieden konnte; da es nun aber ſehr ſelten Wild gab und in dieſem 


9 


64 Brüderchen und Schweſterchen. 


Frühling die Kartoffel rar wurden, ſo beſtand die Mahlzeit meiſtens 
nur aus Brod und etwas Moſt, wenn nicht hie und da die Bäbel 
eine Suppe an's Feuer geſetzt hatte; auch mit der Sauberkeit der 
kleinen Hütte ſah es betrübt aus, Lottchen bemühte ſich zwar ein 
wenig zu kehren und zu putzen, aber ſie war doch noch zu klein und 
konnte kaum einen Waſſerkübel heben; das Brüderlein wollte dann 
„auch ſchön machen“ und rutſchte neben ihr auf dem Boden herum, 
was ſeinen breſthaften Höslein gar nicht gut kam, auch ſtreute er 
einmal im Eifer Aſche ſtatt Sand auf den Boden, ſo daß ſich das 
arme Lottchen oft nicht zu helfen wußte. Die Höslein bekamen neue 
Riſſe, die ſie immer wieder zuſammenzog; die ſchönen ſchwarzen 
Sonntagskleidchen konnte ſie ihm doch nicht für Alltage anziehen! 
Das erbarmte Urſel, die alte Nähterin im Dorfe, die den Kin⸗ 
dern einmal begegnete: „ei du meine Güte, wer hat die Löcher ſo 
zugeſtochen, die ſind ja wie eine Fiſchſchnauze!“ „Ich,“ ſagte Lott⸗ 
chen etwas verlegen, „ich kann's nicht beſſer.“ „Glaub Dir's, Kind, 
glaub Dir's, Du armer Tro;f, wo keine Mutter iſt; ja, höret Kin⸗ 
der, den Jammer mit dem Geflick kann ich nicht mehr mit anſehen, 
das muß anders werden.“ Und die Nähterin Urſel ging zu dem 
Forſtwart und bot ihm an, zu ihm zu ziehen, da ihr Hausbauer 
eben ihr Stübchen ſelbſt brauchte und gegen den Genuß der Wohnung 
und warmen Stube ſeine Kinder und ſein Haus ein bischen zu ver- 
ſorgen. Dem Forſtwart war das zweimal lieb; die Urſel zog ein 
mit ihrem Nähkiſſen, darauf eine Menge Stecknadeln ſteckten mit 
rothen Knöpfen, zerbrochene Nähnadeln, die mit Siegellack zu Steck⸗ 
nadeln gemacht waren, mit ihrem Bett, einer Truhe, darauf eine 
Tulipane gemalt war, und mit einem Rosmarinſtock. Es war nun 


Brüderchen und Schweſterchen. 65 


freilich nicht mehr die liebe Mama, aber doch war's viel behaglicher 
für die Kinder ſeit Urſel da war; ſie flickte ihre Kleider, ſie lehrte 
Lottchen nähen und ſtricken, und bei ſchlechtem Wetter ſaßen ſie bei 
ihr; Richard baute ſeine Häuſer und Thürme aus Holzblöckchen, die 
ihm der Vater geſägt hatte, und die Alte horchte mit auf, wenn 
Lottchen dem Kleinen ſo ſchöne bibliſche Geſchichten erzählte und ſah 
lächelnd zu, wie ſie ſo nett für ihr Brüderlein ſorgte. 

Eine Köchin war die Urſel gerade auch nicht, doch verſtand ſie 
außer dem Kartoffelſieden noch eine Suppe und einen Brei zu kochen, 
das war ſchon einige Abwechslung. 

Im Sommer da blieb nun freilich Urſel oft allein daheim ſitzen, 
da mochte das Brüderlein eben viel lieber draußen ſein, wenn die 
Schule vorüber war, und Lottchen ſetzte ſich mit dem Strickzeug 
in das Gärtchen, wo damals die ſelige Mutter an ihrem letzten Abend 
geſeſſen, oder ſie ſtiegen bis auf die Waldecke dem Vater entgegen; 
da war ein weicher, mooſiger Stein unter einem Baum, auf dem 
ſaß Lottchen gar gern mit ihrem Sti kzeug, aber fie durfte nicht 
immer ſitzen bleiben: bald mußte ſie ein Hund fein und das Brüder- 
chen jagen, das ein Häschen war, dann mußte ſie in eine alte 
Schützenhütte ſchlüpfen, das war das zuckerne Häuschen, das Brü— 
derlein krazte draußen und ſie mußte rufen: 


Knupper, knupper, knäuschen, 
Wer knuppert an meinem Häuschen? 


Am liebſten aber war dem Brüderlein, wenn ſie eine Gräfin 


war, und er kam zu ihr mit ſeiner Schiefertafel unter dem Arm, 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl, 5 


66 | Brüderchen und Schweſterchen. 


dann mußte Lottchen ſagen: „hören Sie, Herr Baumeiſter, ich möchte 
gern ein recht ſchönes Schloß machen laſſen, können Sie mir eines 
bauen?“ „Ja, da habe ich ſchon eines hingemalt,“ ſagte der Herr 
Baumeiſter, und zeigte etwas auf ſeiner Tafel, das faſt gar einem 
Schloſſe gleich ſah, wenn man es einem ſagte. „Ganz ſchön,“ ſagte 
Lottchen, „gerade ſo bauen Sie mir ein Schloß.“ Und dann fing 
er eifrig an zu bauen mit Hölzchen und Steinen, Moos und Baum⸗ 
rinde, und wenn er ungeduldig wurde, ſo half die Frau Gräfin ſelbſt 
nach, bis endlich das Schlößchen fertig war, das dieſe dann hoch be— 
wunderte und dem Baumeiſter ſeinen Lohn zahlte in lauter ſchönen 
blanken Kieſelſteinen. 

Der Kinder liebſter Spielplatz war das Grab der Mutter: da⸗ 
hin gingen ſie meiſt nach der Abendſchule, weil es vom Schulhaus 
aus nicht mehr ſo weit war; anfangs hatten ſie nur Sträußchen 
darauf gelegt und Blümlein aus dem Gärtchen hinein geſteckt, aber 
die verwelkten ſo bald. Urſel zeigte dem Lottchen, wie ſie rechte Blumen 
einſetzen könne, und ſie pflanzte in die Mitte einen ſchönen Roſenſtock, 
den pflegten Brüderchen und Schweſterchen wie man ein Kindlein pflegt; 
oft wanderten ſie früh morgens hinaus, um ihn zu begießen, Brüder⸗ 
chen durfte die Gießkanne tragen und Lottchen ſchöpfte Waſſer am Bach, 
im Winter banden fie ihn ſorgſam ein mit Stroh; der Roſenſtock 
trug aber auch ganz wunderſchöne Blumen, und die beiden Kinder 
glaubten, ſolche Roſen wachſen auf der ganzen Welt nicht mehr, das 
ſeien Himmelsroſen, die die liebe Mama herunter geſchickt. Auch 
Maiblumen und Vergißmeinnichtſtöcke holten fie aus dem Walde, der 
Vater ſetzte ihnen ein junges Tannenbäumchen zu Häupten des Gra⸗ 
bes und Lottchen pflanzte einen Epheuzweig dabei. „Gelt,“ fragte 


Brüderchen und Schweſterchen. 67 


Richard, „da iſt jetzt der Mutter ihr Chriſtbäumchen? und nicht 
wahr, im Himmel iſt's immerfort Chriſttag, aber weiß denn der 
liebe Gott immer wieder etwas, das er der Mama ſchenken kann?“ 
„Im Himmel hat die Mama alles genug,“ ſagte Lottchen, „da iſt 
ſie beim lieben Heiland, das iſt ſo ſchön, als ob lauter Chriſttag 
wäre.“ „Ach ja, und fie kann dann mit ihren ſchönen Sachen ſpie— 
len, auch wenn fie nicht immer wieder neue bekommt, ſagte Brüder— 
lein beruhigt. 

Mangel leiden durften die Kinder nicht, faſt noch weniger als 
zur Zeit, wo die Mutter lebte; jedermann im Dorf hatte ſeine 
Freude daran zu ſehen, wie einträchtig die Geſchwiſter zuſammen 
gingen, wie Lottchen ſich des Brüderleins annahm, und ſich kein Spiel 
und keine Freude gönnte, die es nicht theilen konnte. Wo ſie zur 
Obſtzeit an einem Garten vorbeigingen, da rief ihnen ſicher der 
Bauer herein, ſchüttelte ihnen einen Baum und ließ Pflaumen oder 
Frühbirnen auf ſie herunterprazeln, daß Richard laut aufſchrie vor 
Freude und Schreck. Dann durfte Lottchen die Schürze füllen und ſie 
freute ſich an Urſels Verwunderung, wenn ſie den Reichthum vor ihr 
gusſchüttete auf den Tiſch. Urſel konnte freilich nur die weichen 
Pflaumen beißen und wurde einmal recht ärgerlich als Richard fragte: 
„Du, Urſel, hat man Dir Deine Zähne ausgerupft wie die Rettiche 
im Garten?“ Der Forſtwart freute ſich, daß man ſo gut gegen ſeine 
Kinder war, er wurde weniger barſch und rauh gegen arme Leute, 
die Laub holten im Wald, ja, er legte oft ein gutes Wort für ſie 


ein beim Förſter, daß ſie dürres Holz brechen durften. 


ä — ENG 


68 Brüderchen und Schweſterchen. 


Ein Abenteuer im Walde. 


Die Zeit war gekommen, wo auch Richard als ein rechter 
Schüler zur Schule gehen durfte, es ging ihm gut da; Lottchen hatte 
ihn daheim ſchon ein wenig Leſen und Schreiben gelehrt, jo daß er 
über viel größern Buben ſeinen Platz hatte, er ging auch recht gern 
und freute ſich am Lernen. Seine Schulſtunden fingen ſpäter an 
als Lottchens, er ging aber doch früh morgens mit ihr; in die große 
Schule wollte er jetzt nicht mehr als Gaſt, ſo ſetzte er ſich auf das 
Hausbänkchen und zeichnete immer ſchönere Schlöſſer und Thürme. 

Aber am liebſten waren ihm doch die freien Nachmittage, be⸗ 
ſonders zur Zeit, wo die Maiblumen blühten und die Erdbeeren reif 
wurden. Urſel brummte freilich, daß ſo ein großes Mädchen ſo lang 
draußen herumlaufe, denn wenn auch Lottchen ihr Strickkörbchen mit⸗ 
nahm, gar zu viel wurde nicht geſtrickt, aber das junge Lottchen war 
darum doch ein fleißiges Kind: früh, früh am Tage, wenn der Vater 
in den Wald hinaus ging und die Urſel noch ſchlief, ſtand ſie ſchon 
auf, ſetzte ſich auf der Urſel Nähſtühlchen, handthierte mit ihrem 
Nähgeſchirr und flickte ihre Schürzen und Brüderchens Wämmschen 
und Höschen, nicht mehr mit Fiſchſchnauzen, ſie hatte es jetzt beſſer 
gelernt, und wenn die Alte herauskam und ſah, was alles ſchon ge⸗ 
ſchehen war und ſagte: „was? ich glaube die Erdleutlein find dage⸗ 
weſen,“ da lachte Lottchen ganz ſchelmiſch und vergnügt. | 

Es war zur Zeit der Maiblumen und der Erdbeeren, da hatte 
Lottchen und Richard den Vater begleitet, der bei einem Holzverkauf 
im Walde war, und waren weiter hinein gegangen, um nach den beſten 


Brüderchen und Schweſterchen. 69. 


„Plätzen“ zu ſehen; fie hatten zuerſt nur einzelne, halbreife Erdbeeren 
gefunden und ein Sträußlein daraus gemacht mit ein paar Blüthen 
dabei, aber es waren gar wenig, Lottchen ging weiter und immer 
weiter voran, „o Du! Brüderlein!“ ſchrie ſie auf einmal in höchſtem 
Jubel, was war da für ein prächtiger Platz! an einem kleinen freien 
Hügel, wo die Sonne wärmer hinſchien, war es wie ein rothes Tuch, 
und Brüderlein ſchlug im Entzücken die Händchen zuſammen: „ah, 
aber wie prächtig! gelt, ſo viel wachſen nicht in's Königs Schloß?“ 
„Dumm's Brüderlein, in einem Schloß wächſt gar nichts, aber in 
des Königs Garten wachſen Erdbeeren wie die Pflaumen, das weiß ich 
von der Urſel, die hat ein Bäschen, und die hat eine Freundin, die 
hat Wäſche getragen zu einer Kammerjungfer von der Königin ihrer 
Hofdame.“ „Oh? und in des Kaiſers Garten, da werden fie wach— 
ſen wie die Aepfel?“ fragte Brüderlein, „aber wohin thun wir alle 
die Erdbeeren?“ Lottchen hatte vergeſſen, Töpfchen mitzunehmen, 
weil ſie nicht gehofft hatte, ſo viel zu finden; ſie wußte ſich zu helfen, 
ſie ſchob ihr Strickzeug in die Taſche und legte das Strickkörbchen 
ſorgfältig mit Blättern aus, da gingen viele, viele hinein. „Da 
bringen wir der Urſel davon mit,“ plauderte er dazwiſchen, „gelt, 
die kann ſie beißen?“ „Und der Frau Schulmeiſterin,“ ſagte Lott— 
chen. „Und dem Steinbauer, weißt, der uns einmal ſo ſchöne Aepfel 
gegeben hat.“ „Ach, der alte, große, dicke Bauer will keine Erdbee— 
ren, weißt, der Vater ißt auch keine.“ „Aber ich,“ ſagte Richard 
ſchelmiſch, und ſchob ein Händchen voll in den Mund; „nicht ſo,“ 
verbot Lottchen, „erſt muß das ganze Körbchen voll und voll fein —“ 
„Und oben noch ein Berglein drauf,“ ſetzte Richard hinzu; „dann 
aber ſitzen wir dort unter das Tannenbüſchlein,“ ſagte Lottchen, „und 


70 Brüderchen und Schweſterchen. 


nehmen unſer Brod und ſchmauſen. „Aber wie!“ rief Richard in 
lautem Jubel und ſie zupften ſo emſig und eifrig, daß bald das 
Körbchen voll war und noch ein Berglein drauf, wie Richard befohlen 
hatte. Dann pflickten ſie erſt noch auf ein Blatt zum Schmauſen; 
ſie ſetzten ſich oben auf dem Hügel unter die Tannenbüſche, glänzend 
grüne Eidechſen ſchlüpften unter ihren Füßen durch und frühe gelbe 
Schmetterlinge flogen vorüber, und Richard ſagte: „gelt, jetzt ſind 
wir der König und die Königin, und das iſt unſer Land.“ | 
„Aber es wird ſpät,“ ſagte Lottchen etwas ängſtlich, „der Vater 
wird bald heim wollen,“ und ſie machten ſich auf und ſtiegen vor⸗ 
ſichtig herab; Lottchen trug die Erdbeeren und führte das Brüderlein, 
ſie gingen raſch, raſch, um gewiß bald zum Vater zu kommen. Aber 
ſie hatten den rechten Weg nicht eingeſchlagen, Lottchen ſah bald, daß 
ſie nicht an der großen Buche vorbeikamen, und nicht an den zwei 
langen Holzbeugen; „komm, wir müſſen einen andern Weg probiren,“ 
ſagte ſie. „Wir hätten ſollen Kieſelſteinchen auf den Weg ſtreuen, 
wie Hanſel und Grethel,“ meinte Brüderchen, etwas ängſtlich, „und 
gelt, wenn wir an das zuckerne Häuschen kommen, ſo gehen wir 
nicht hinein, auch wenn die Alte lockt?“ „Dumm's Büble,“ lachte Lott⸗ 
chen, „das alles iſt ja nicht wahr; wir wollen den lieben Gott bitten, 
daß er uns den rechten Weg finden läßt;“ und das Brüderlein legte 
ſeine Händchen zuſammen und betete: „lieber Gott, mach Du, daß 
das jetzt der rechte Weg iſt! Nicht wahr, der liebe Gott kann alles?“ 
fragte er ſein Lottchen. „Gewiß,“ ſagte dieſe, war aber doch im 
Zweifel über den neuen Weg, den ſie eingeſchlagen hatten, es war 
wieder nicht der, den ſie gekommen. Sie ging immer ſchneller, ſo daß 
Richard kaum nachkommen konnte; der merkte ihre innerliche Angſt 


Brüderchen und Schweſterchen. 1 


und ſagte tröftend: „gib nur acht, Lottchen, der liebe Gott macht's 
gewiß.“ 

Und ſiehe da, der neue Weg führte heraus, nicht auf den Platz 
wo der Vater war, aber auf den breiten, holperigen Fahrweg, der von 
der untern Seite in's Dorf führte; da hatten ſie nun freilich einen 
weiten Heimweg, aber fehlen konnten ſie gar nicht mehr. „Gelt, 
ich hab's geſagt, der liebe Gott kanns machen?“ ſagte triumphirend 
das Brüderlein und trippelte fröhlich weiter. „Aber ſiehſt Du, 
Lottchen!“ rief er auf einmal mit höchſter Verwunderung. Lottchen 
ſah ſich um, und ſieh, da fuhr eine Kutſche, eine wirkliche rechte 
Kutſche, ſo ſchön wie ſie noch nie eine geſehen hatten, mit zwei 
Schimmeln mit glänzendem Geſchirr beſpannt, und ſie gaukelte und 
wiegte hin und her in den tiefen Furchen des Wegs, auf dem noch 
nie ein ſolches Gefährt gefahren war. Die Kinder hörten von 
weitem ein Kind kreiſchen und den Kutſcher fluchen und ſchimpfen 
über „den heilloſen Weg.“ Ein Herr, eine Dame und ein Kind ſaßen 
in dem Wagen; „halt, Kutſcher!“ rief der Herr, „wir wollen lieber aus— 
ſteigen, da iſt's gräulich zum Fahren und die Kleine fürchtet ſich.“ 

Nicht weit von den Kindern ſtiegen ſie aus; die Kleine war 
wunderhübſch gekleidet in einem violetten Sammtkleidchen und einem 
roſenrothen Atlashute mit weißem Schleier; die ältere Dame, ihre 
Gouvernante, war ſehr einfach in grauem Kleid und dunklem Hut. 

„Nun, da ſind ja Kinder, die werden wir nach dem Weg fragen 
können!“ rief der Herr erleichtert; die Kleine aber ſah mit glänzen— 
den Blicken auf das Erdbeerkörbchen. „Da ſehen Sie, Fräulein Pau- 
line,“ rief ſie, „ein ganzes Körbchen voll Erdbeeren! und Johann 
ſagte, es gebe faſt noch keine reifen im Walde.“ „Willſt Du?“ 


72 Brüderchen und Schweſterchen. 


fragte Richard und ſetzte mit Stolz hinzu, „die habe ich helfen 
pflücken,“ und Lottchen bot ſchüchtern, aber in lauterer Freude dem 
ſchönen Kinde das Körbchen an. „Darf ich, Papa?“ fragte Fanny. 
Der Papa zog ſeinen ſeidnen Geldbeutel, Lottchen aber ſagte ſchnell 
mit dunkelrothem Geſicht: „o nein, wir verkaufen keine Erdbeeren 
aber es freut mich, wenn Sie alle eſſen.“ Es waren nur die ärm⸗ 
ſten Kinder im Ort, die Erdbeeren zum Verkauf ſammelten. 

„Nun, wenn ſie die Kleine Dir ſchenkt, ſo ſetz' dich dort auf 
die Ruhbank,“ ſagte der Herr, „und laß Dir's ſchmecken; Fräulein 
Pauline findet vielleicht etwas im Wagen, was den Kindern ſchmeckt, 
ſie ſollten bei uns bleiben und dem Kutſcher den rechten Weg zeigen. 
Wir wollten auf Schloß Einſtein, Kleine,“ erklärte er Lottchen, „und 
ſind ſcheint's irre gefahren.“ „Freilich,“ ſagte Lottchen, die ein ver⸗ 
ſtändiges Kind war und die Umgegend wohl kannte, „Sie hätten den 
Weg außen am Walde hin fahren ſollen, jetzt müſſen Sie hier fort⸗ 
fahren bis zum Dorfe, da geht der Weg nach Einſtein rechts.“ 

Indeß hatte Fräulein Pauline Mandeltörtchen und andres feines 
Backwerk aus der Wagentaſche geholt und den Kindern angeboten; 
da machte der kleine Richard große Augen bei ſo guten Sachen, wie 
er ſie noch gar nie geſehen; er und Lottchen griffen aber nur ganz 
ſchüchtern und beſcheiden zu, während die kleine Fanny mit vollen 
Händen ſchmauste aus dem Erdbeerkorb; ſo friſch und duftig und in 
ſolcher Menge hatte ſie noch nie Waldbeeren gekoſtet, da ſie mit 
dem Vater ſonſt in einer großen Stadt lebte, und heute zum erſten⸗ 
mal mit ihm einen Beſuch auf dem Lande machen ſollte. Der Vater 
ſah ihr mit Luſt zu und flüſterte der Fräulein Pauline, ihrer Er⸗ 
zieherin, etwa in's Ohr, auf das dieſe freundlich nickte. 


Brüderchen und Schweſterchen. 73 


Der Schmaus war vorüber, die ganze Geſellſchaft ging dem 
Wagen nach, der, obgleich leer, unter beſtändigem Schimpfen des 
Kutſchers immer noch hin- und herſchwankte. 

Graf Erbach, ſo hieß der fremde Herr, unterhielt ſich indeß mit 
den Kindern; „ſo, eure liebe Mutter iſt geſtorben?“ ſagte er mitleidig, 
„ſo geht es meinem kleinen Mädchen auch.“ „Aber mein Lottchen 
ſorgt für mich,“ ſagte altklug der kleine Richard; der Graf lächelte 
und klopfte Lottchen auf das Köpfchen. „So, das iſt brav, ſorge 
Du nur, Kleine,“ ſagte er wohlwollend. 

Nun wurde der Weg eben, „die gnädige Herrſchaft kann ein⸗ 
ſteigen!“ rief der Kutſcher; Richard und Lottchen mußten mit einſitzen, 
was dem Kutſcher ein großes Aergerniß war, denn er hatte eine 
bedeutende Verachtung gegen Kinder aus einem Dorf, bei dem die 
Wege ſo ſchlecht waren. Richard ſchaute mit leuchtenden Blicken um 
ſich und blickte dann wieder verſtohlen ſein Lottchen an, ob's denn 
auch wahr ſei, daß er in einer rechten Kutſche fahre mit zwei leben- 
digen Schimmeln; Lottchen war kaum ſo keck, recht zu ſitzen auf dem 
prächtigen rothen Wagenpolſter. „Was willſt Du denn einmal wer- 
den, kleiner Mann?“ fragte der Graf das Brüderlein, „Baumeiſter,“ 
erwiderte Richard ſehr beſtimmt. „So, ſo, Du haſt's gut im Sinn,“ 
ſagte lächelnd der Graf, „lern' nur inzwiſchen ſchön leſen und ſchrei— 
ben.“ „Lottchen lehrt mich alles,“ verſicherte ernſthaft Richard, der 
gewiß der Meinung war, es könne Niemand auf der Welt klüger 
ſein als ſein Lottchen. „Das iſt brav von Lottchen,“ ſagte der Graf 
und blickte wohlgefällig auf das erröthende Mädchen. 

Sie waren nun am Dorfe und Lottchen zeigte dem Kutſcher 
den Weg, den er nach Einſtein zu fahren habe; Fräulein Pauline 


74 Brüderchen und Schweſterchen. 


hatte inzwiſchen eifrig in den Reiſetaſchen gekramt, ſie zeigte dem 
Grafen heimlich etwas, dieſer nickte und ſie gab es der kleinen 
Fanny. „Da, Lottchen, da, Richard, das nehmt von mir als An⸗ 
denken,“ ſagte dieſe und gab Lottchen ein ſchönes rothes Kiſtchen, 
innen von blauem Sammt, und ein blankes Scheerchen, Nadelbüchſe, 
Fingerhut und Seidenröllchen zierlich eingefügt, Richard aber bekam 
ein hübſches Buch mit Bildern, das die kleine Comteſſe auf der 
Reiſe ſchon ausgeleſen hatte. Die Kinder waren ganz beſtürzt vor 
Freuden; eh' aber Lottchen recht wußte, wie ſie danken ſollte, waren 
ſie herausgehoben, der Wagen fuhr fort, Fanny winkte noch mit 
Tüchlein und Schleier, und weg war alles wie ein Traum. 

Es war ſchon Abend und Lottchen eilte, mit Richard nach Haus 
zu kommen, das ging aber nicht ſo ſchnell; Richard ſtreckte ſein 
ſchönes Buch in die Höh', daß es jedermann ſehen mußte, und jeder⸗ 
mann fragte: „Brüderlein, was haſt denn Du?“ und dann zeigte er 
es und ſagte: „das iſt von einem Graf oder König, und mein Lott⸗ 
chen hat noch etwas Schöneres.“ Endlich aber kamen ſie doch nach 
Hauſe, da wollte eben der Vater wieder in den Wald hinaus, der 
ſehr in Unruhe war, als er die Kinder daheim nicht gefunden; Urſel 
wollte gewaltig zanken, aber als Lottchen die wunderbare Begebenheit 
erzählte und Richard dazwiſchen half, und als ſie ihr ſchönes Kiſtchen 
zeigte und Richard ſein Buch, da war eine Freude und Verwunde⸗ 
rung im ganzen Häuschen; es war ein rechtes Glück, daß die Milch⸗ 
bäbel noch kam und auch die Herrlichkeiten ſehen durfte; die tanzte 
vor Verwunderung im Oehrn herum und rief immer: „ei Du Lieberle, 
ei Du Lieberle! aber das iſt fein ſchön!“ Dieſe Verwunderung ſtei⸗ 
gerte noch das Vergnügen der Kinder auf's Höchſte. 


Brüderchen und Schweſterchen. 75 


Jetzt war Lottchen erſt recht eifrig mit Nähen bei der Urſel; 
wenn ſie ſich auf ihr Stühlchen ſetzte und ihr zierliches Nähkiſtchen 
neben die alte Pillenſchachtel ſtellte, in der Urſel einen eiſernen Fin⸗ 
gerhut ohne Deckel, eine alte roſtige Scheere, ein Stück gelbes 
Wachs und ein paar Gansgurgeln mit grobem Faden verwahrte, 
dann konnte ſie nicht laſſen, recht wohlgefällig auf ihr ſchönes Ge— 
räthe hinzuſehen, ſie folgte aber auch der Ermahnung der Urſel, die 
ſagte: „mit ſo ſchönen Sachen muß man recht ſchön nähen,“ und 
Richards Höschen wurden ſo ſauber geflickt, daß Urſel ſagte: „der 
ſchönſt Schneider könnt' es nicht ſchöner.“ 

Sie gingen noch manchmal zuſammen in den Wald, aber ſie 
ſind keinem Grafenkind mehr begegnet. 


Der Tod kehrt ein. 


Lottchen war fünfzehn Jahre alt und Richard zehn, da nahm 
das ſtille, friedliche Leben in dem Forſthäuschen ein gar trauriges 
Ende. Die alte Urſel war geſtorben, ſie war in der letzten Zeit gar 
ſchwach geworden, Lottchen hatte ihr Bett in die warme Stube ge— 
macht, von da war ſie noch mühſam herausgekommen auf ihren ver- 
ſeſſenen Nähſtuhl, da ſie immer noch arbeiten wollte. Lottchen hatte 
ihr immer die Nadel einfädeln müſſen und nur noch ganz grobes 
Zeug zum flicken gegeben, ſie war faſt blind. Alle Abend und alle 
Morgen, nachdem Lottchen das Gebet geleſen, hatte Urſel noch halb— 
laut das Verslein für ſich geſprochen: 


. Brüderchen und Schweſterchen. 


Herr, meine Leibeshütte 

Sinkt nach und nach zum Grab, 
Gewähre meine Bitte 

Und brich ſie ſtille ab. 


Eines Morgens früh hörte man ſo gar nichts von der Urſel, 
Lottchen wollte ihr wie gewöhnlich die Morgenſuppe an's Bett brin⸗ 
gen, da lag ſie gerade ausgeſtreckt mit gefalteten Händen, ruhig wie 
im Schlaf, aber ſie athmete nicht mehr. Das offne Geſangbuch lag 
neben ihrem Bett und Lottchen, der's noch war wie im Traume, 
mußte weiter leſen an dem Liede: 


Gib mir ein ruhig Ende, 
Der Augen matten Schein, 
Und die gefalt'nen Hände 
Laß ſanft entſeelet ſein. 


Laß meine letzten Züge 
Nicht zu gewaltſam geh'n, 
Und gib, daß ich ſo liege 
Wie die Entſchlafenen. 


Der liebe Gott hatte das Gebet der guten Alten erhört und ſie 
im Schlummer hinübergenommen, ſie lag ſo gar ſtill und friedlich 
da; der Forſtwart, als er hereinkam, nahm ſeine Mütze ab, faltete 
die Hände und betete ein ſtilles Vaterunſer, Lottchen ſchnitt einen 
Zweig von ihrem Rosmarin und gab ihn in die Hand der Todten, 
wie Urſula ſonſt gethan, wenn ſie zum heiligen Abendmahl gegangen 
war. Ihr Leichenhemd und Leichentuch hatte ſie lange ſchon bereit 
gelegt; nach zwei Tagen trug man ſie hinunter zum Kirchhof und es 


Brüderchen und Schweſterchen. 77 


freute Lottchen, daß die getreue Freundin nicht weit von ihrer lieben 
Mutter zu liegen kam. Aber es war den Kindern recht ſtill und 
betrübt zu Muthe, ſeit die gute, alte Urſel fort war. 

Man ſagt: das Unglück kommt ſelten allein, und ſo war auch 
den armen Kindern ein viel ſchwereres Leid beſchieden, als das fried— 
liche Scheiden der alten Urſel. Der Forſtwart ging früh an einem 
kalten Herbſtmorgen hinaus zu einem großen Treibjagen, Richard 
wäre gar zu gern mit geweſen, der Vater gab aber ſeinen Bitten 
nicht nach. „Bleib' da,“ ſagte er, „es hat mir heut Nacht ſo 
ſchwer geträumt, es iſt mir als ob's ein Unglück geben könnte.“ Er 
hatte ſchon das Haus verlaſſen, als er wieder umkehrte und zu Lott- 
chen ſagte: „wir haben den Morgenſegen vergeſſen.“ Lottchen wußte 
es, war aber ſchüchtern geweſen, den Vater daran zu mahnen; fo 
beteten ſie noch miteinander, der Vater nahm ſeine Flinte, pfiff dem 
Waldmann und ging hinaus, nachdem er den Kindern die Hand 
gegeben, was er ſonſt nie zu thun pflegte. 

Richard und Lottchen ſtanden Nachmittags am Fenſter und 
horchten auf die Schüſſe, die draußen im Walde fielen; Lottchen ſuchte 
ihre allerſchönſten Geſchichten hervor, um den unmüßigen Buben in 
der Stube zu halten, der eben durchaus auch nur an den Rand des 
Waldes hinaus wollte, um etwas von der Jagd zu ſehen, obgleich 
er ſonſt nicht viel Luſt und Geſchick zu einem Jäger zeigte. Das 
Schießen hörte auf, „ich glaube jetzt wird der Vater kommen, heut 
ſind ſie bald fertig,“ ſagte Lottchen. Der Vater kam, aber nicht 
rüſtig zu Fuß wie ſonſt, vier Männer brachten ihn auf einer Bahre 
getragen, ein unvorſichtiger Schuß war ihm in die Seite gegangen. 

Acht Tage lang lebte Kraus noch unter großen Schmerzen, 


78 Brüderchen und Schweſterchen. 


Lottchen pflegte ihn treulich Tag und Nacht; Richard konnte nicht 
viel helfen bei dem Kranken, aber er that, was er konnte, um Lott⸗ 
chen alle Mühe im Hauſe zu erſparen; er war froh, wenn er dem 
Kranken auch nur friſches Waſſer bringen durfte, und wollte nicht 
zu Bette gehen, wenn Lottchen wachte, ſie mußte ihm ſein Bett auf 
dem alten Kanape im Zimmer machen. 

Der Kranke war zu Anfang gar ungeduldig, der ſtarke Mann, 
der nie zuvor krank geweſen war, und nun ſo hilflos und in Schmer⸗ 
zen liegen mußte, verharrte meiſt in finſterem trotzigem Schweigen. 
Lottchen hatte den Herrn Pfarrer gebeten, ihn zu beſuchen, ſeit der 
zu ihm kam und ihm freundlich und tröſtlich zuſprach, wurde er 
ſtiller und ruhiger. Nur ſeine verlaſſenen Kinder waren ſein einziger 
Kummer. „Was wird aus Euch werden?“ ſeufzte er eines Nach⸗ 
mittags, als die ſpäte Herbſtſonne noch durch das niedere Fenſterlein 
ſchien und Lottchen mit der Bibel der Mutter an ſeinem Bette ſaß, 
laut zu leſen wagte ſie nicht, wenn es der Vater nicht verlangte. 

„Was wird aus Euch werden?“ fragte er mit einem tiefen 
Stöhnen, „wie werdet Ihr in der Welt herumgeſtoßen werden? ſo 
ganz verlaſſen!“ Da fing Lottchen an laut weiter zu leſen an der 
Stelle, wo ſie eben war in dem heiligen Buche: „Kauft man nicht 
zwei Sperlinge um einen Pfenning? Noch fällt derſelben keiner 
auf die Erde ohne euren Vater. Nun ſind aber auch eure Haare 
auf eurem Haupte alle gezählet. Darum fürchtet euch nicht; ihr 
ſeid beſſer denn viel Sperlinge.“ 

Das ſchien dem kranken Manne wunderbaren Troſt zu geben; 
er lag viel ruhiger da als zuvor und wenn er wieder ſeine Kinder | 
anſah, fo fagte er leiſe vor ſich hin mit friedlichem Lächeln: „ihr 


Brüderchen und Schweſterchen. 79 


ſeid beſſer denn viele Sperlinge.“ Und ſo wurde ihm vergönnt zu 
ſterben, wie ein Kind einſchläft, das da weiß: die Mutter wird alles 
beſorgen, in fröhlichem Glauben an den Heiland, der dem Tode die 
Macht genommen hat. 


Aus dem Vaterhaus. 


Wenige Wochen darauf zogen die Kinder aus dem Häuschen, in 
dem es recht betrübt geworden war, ſeit ſie ſo allein waren. Richard 
trug ſeinen Bücherranzen, eine kleine Flinte, die ihm der Vater ein- 
mal geſchenkt, und ein Weidenkäfig, das er ihm geflochten, mit einem 
ſchönen Diſtelfink darin, Lottchen hatte viel mehr zu tragen, obwohl 
man all die geringe Habe des Forſtwarts verkauft hatte, außer den 
Betten der Kinder. Der Schulmeiſter im Dorfe wollte auf Lottchens 
Bitte Richard gegen ein kleines Koſtgeld zu ſich nehmen, das der 
Prinz bezahlte, auf deſſen Jagd der unglückliche Schuß gefallen war. 
Lottchen aber hatte die Frau Schulmeiſterin ſo herzlich gebeten, ſie in 
ihre Dienſte zu nehmen, daß dieſe es ihr nicht abſchlagen konnte. 
„Ich habe noch nie eine Magd gehabt,“ meinte ſie freilich zuerſt, 
„nur ſo ein Mädchen vom Dorf, die Morgens und Abends kam; zu 
einer Magd biſt du mir erſt zu jung und ſiehſt ein Bischen zu fein 
aus.“ „O probiren Sie's,“ hatte Lottchen gebeten, „ich habe ja beim 
Vater daheim auch alles gethan.“ So probirte es denn die Frau 
Schulmeiſterin und Lottchen war wirklich ein fleißiges Mägdlein, früh 
guf und ſpät zu Bette, zu allem willig; Schulmeiſters Kinder hatten 


80 Brüderchen und Schweſterchen. 


ſie alle lieb, der kleine wilde Karl wollte ſich nur von ihr waſchen 
laſſen; Minchens Puppe, die in einem greulichen Zuſtande geweſen 
war, richtete ſie wieder ganz ordentlich her, und während ſie das 
Kleinſte in der Wiege ſchaukelte und den Größern Kleider flickte, er⸗ 
zählte ſie die ſchönen Geſchichten, die ſchon ihr Brüderlein entzückt 
hatten. Das Brüderlein konnte nicht ſo oft mehr dabei ſein; ein 
Gehilfe des Schulmeiſters, der Latein verſtand, hatte angefangen, ihm 
lateiniſche Stunden zu geben, weil er ſo große Freude daran hatte, 
auch zeichnen lehrte er ihn, und viele Knaben, die mit Murren und 
Seufzen ihr mensa und amo lernen, würden ſich wundern, wenn 
ſie hätten ſehen können, wie vergnügt Richard über ſeine Lehrſtunden 
war, wie ſtolz und froh, wenn er Lottchen Abends von ſeiner neuen 
Weisheit mittheilen konnte. Er wollte ihr ſogar ſelbſt lateiniſche 
Stunde geben, aber das gute Lottchen hatte ſo viel andere Dinge zu 
lernen, an ſo mancherlei zu denken, daß ſie ihre Lektionen nicht recht 
auswendig behielt, ſo daß der Lehrmeiſter bald ungeduldig wurde. 
Lottchen aber blieb geduldig; ſie blieb wach bis tief in die Nacht, 
um Richards Kleider zu flicken, ſie tröſtete und beruhigte ihn, wenn 
er den Lehrer zu ſtreng fand und die Brodſtückchen der Frau Schul⸗ 
meiſterin zu klein; nach dem Abendeſſen, wenn aufgeſpült war und 
der Kleine ſchlief, da wandelten an ſchönen Abenden Brüderchen und 
Schweſterchen wieder wie ſonſt hinaus und ſetzten ſich im Walde 
oben, wo ſie hinunter ſehen konnten auf ihr altes Häuschen, und Lott⸗ 
chen erzählte ihm von der ſeligen Mutter, die ſich Richard kaum 
mehr denken konnte und ſprach mit ihm von der ſeligen Zeit, wo ſie 
mit Vater und Mutter wieder beiſammen ſein dürfen im Himmel; 
dann ſtreichelte ſie ihm das blonde Haar von der Stirn und ſah ihn 


Brüderchen und Schweſterchen. 81 


liebevoll an und fragte: „gelt, Du bleibſt brav, Richard, auch wenn wir 
einmal nicht mehr beiſammen ſind?“ Und Richard verſicherte fie: 
„o freilich, und groß und geſchickt werde ich auch und wahrſcheinlich 
ein Baumeiſter, und dann baue ich mir ein recht ſchönes Haus, und 
komme in einer Kutſche und hale dich darein.“ Bei dem Baumeiſter 
ſchüttelte Lottchen leiſe und wehmüthig den Kopf; ſie war ſchon alt 
genug, um zu wiſſen, 8 daß das nicht ſo leicht geht für ein armes 
Büblein. Hie und da durfte Lottchen auch die Frau Pfarrerin be— 
ſuchen, die ſie noch manche Arbeiten lehrte, die ſie bei der alten Urſel 
nicht gelernt hatte; ſie konnte recht hübſch Kinderhäubchen und Jäck— 
chen ſtricken, und die Pfarrfrau war ſo freundlich, ihr Garn zu be— 
jorgen, damit ſie in ihren ſeltnen Freiſtunden daran arbeiten konnte; 
die fertigen Sächlein ſandte ihr die gute Frau dann an einen Kauf— 
mann in die Stadt, und Lottchen ſammelte ſich heimlich einen kleinen 
Schatz, der für ihren Richard beſtimmt war. 

So vergingen Jahre; Lottchen war ein erwachſenes Mädchen, 
geſchickt, fleißig und brauchbar, aber gar ſtillen Sinnes, Richard war 
vierzehn, was ſollte aus dem Knaben werden? „Ein Baumeiſter,“ 
ſagte er beharrlich, aber der Lehrer und alle ältern Leute erklärten 
das für Unſinn. „Ein Maler,“ meinte Herr Maier, der Lehrer, der 
ihn bis dahin im Zeichnen unterrichtet, „er zeichnet ſo ſchön.“ „Ach 
was, das gibt kein Brod,“ meinte der Schulze und der Schulmeiſter, 
„das alles koſtet zu viel und trägt nichts; zum Steinhauer und 
Zimmermann iſt er nicht robuſt genug, zum Jäger taugt er auch nicht, 
man kann ihn ja ein ordentlich Gewerbe lernen laſſen —.“ „Schrei— 


ner?“ meinte der Schultheiß; „er iſt zu ſchwächlich,“ ſagte der Schuls 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 6 


82 Brüderchen und Schweſterchen. 


meiſter, „Drechsler, das iſt ein nettes ſtilles Gewerbe, da kann er, 
wenn er will, allerlei künſtliche Sachen erfinden, ich weiß einen Lehr⸗ 
meiſter, der nimmt ihn ohne Lehrgeld.“ „Aber ſein nettes Latein?“ 
fragte Herr Maier. „Nun, man weiß nicht, wo es ihm auch noch 
wohl kommen kann,“ ſagte der Schulze; „ich bin auch mit dem 
Drechsler einverſtanden.“ Richard gefiel es am Ende auch nicht 
übel, künſtliche Sachen auf der Drehbank zu machen, nur Lottchen 
war nicht ſo recht zufrieden, ſie hatte immer noch andere Träume 
von ihres Richards Zukunft gehabt. Sie fragte auch den Herrn 
Pfarrer. „Liebes Kind, bleibe gern im niedrigen Stande,“ hatte der 
ihr geſagt. „Umſtände ſind Gottes Boten, wenn Eure Mittel nicht 
reichen zu einem andern Berufe, ſo ſorge Du, daß Dein Bruder 
dieſen gut ausfüllt.“ „Aber er hatte eine ſolche Freude am Lernen 
und zeichnet ſo ſchön, Herr Pfarrer, und er hat ſein Herz darauf 
geſetzt, daß er Baumeiſter werden will, und — er iſt ein wenig 
empfindlich, ich fürchte, in einer ſtrengen Lehre hält er's nicht aus.“ 
„Es iſt ein köſtlich Ding dem Manne, daß er das Joch trage in 
ſeiner Jugend,“ ſagte der Herr Pfarrer, und Lottchen fügte ſich mit 
einem leiſen Seufzer. Sie wendete all ihre heimlichen Erſparniſſe 
auf, um ihr Brüderlein ordentlich in ſeine neue Lehre auszuſtatten 
und bat ihn beim Abſchied mit tauſend Thränen: „gelt, Richard, 
Du bleibſt brav und hältſt Dich gut!“ „Lottchen, ohne Dich kann 
ich nicht ſein,“ bat Richard, „mach', daß Du auch in die Stadt 
kommſt.“ EN 

Lottchen hatte bis jetzt der Frau Schulmeifterin getreu und fleißig 
gedient, gekocht, geputzt, genäht, gewaſchen, anfangs umſonſt, zuletzt 
gegen ganz geringen Lohn. Jetzt eröffnete ſie ihr, daß ſie eine Stelle 


Brüderchen und Schweſterchen. 83 


in der Stadt ſuchen wolle, um näher bei ihrem Bruder zu ſein. 
Die Frau nahm das ſehr übel und hielt es für Unrecht und Un⸗ 
dank. „Ich habe der ſterbenden Mutter verſprochen, daß ich ſorgen 
wolle für mein Brüderlein,“ ſagte Lottchen weinend; „bitte, nehmen 
Sie mir's doch nicht übel, ich kann ja nicht anders.“ „Laß das 
Kind im Frieden ziehen,“ ſagte der Lehrer, „ſie meint es gut und 
hat uns treu gedient.“ 


In der Welt draußen. 


Lottchen fand einen Dienſt bei einer Kleidermacherin, wo ſie 
neben den häuslichen Geſchäften beim Nähen helfen durfte; ſie that 
das gern, ſie konnte da recht viel Schönes lernen und neidlos und 
vergnügt ſaß ſie in ihrem abgetragnen Kleidchen unter prachtvollen 
Stoffen, unter Seide und Sammt und nähte Ballkleider und Staats⸗ 
roben für elegante Damen. Der Lohn war nicht groß, aber fie be- 
kam oft kleine Geſchenke von Damen, denen ſie die Kleider probirte 
und brachte; der kleine Schatz fing ſchon wieder an zu wachſen. Da 
ſie eine geſchickte Hand hatte, ſo bezahlte ſie die Kleidermacherin be— 
ſonders für jede Stunde, die ſie Nachts nach zehn Uhr noch arbeitete 
bei ſehr dringenden Geſchäften, denn die Frau war berühmt in ihrem 
Fach und mußte weit in der Umgegend Kleider machen. 

Die andern Nähterinnen hatten Lottchen gern, weil ſie freund⸗ 
lich und gefällig war; „aber ſie iſt ſchandlich geizig,“ flüſterten ſie 
zuſammen, „ſie wendet und flickt ihre Kleider ſiebenmal, ehe ſie ein 
neues kauft,“ ſagte Nanette. „Und alle Kreuzer ſperrt ſie in ein 


* 


84 N Brüderchen und Schweſterchen. 


Büchslein, und das Büchslein leert ſie in einen Beutel; ich habe 
einmal geſehen, wie ſie es heimlich bei Nacht gezählt hat,“ ſagte 
Friederike. „Ich glaube ſie hängt alles ihrem Bruder an, der ein 
Lehrjunge iſt,“ wußte die Jette. „Bewahre,“ ſagte Nanette wieder, 
„der kriegt auch nicht viel von ihr, höchſtens eine Wurſt; alles geizt 
und ſpart ſie zuſammen.“ 

Am Sonntag putzten ſich die Schneidermamſells auf's aller⸗ 
ſchönſte und machten Spaziergänge in einen Geſellſchaftsgarten oder 
mit guten Bekannten in ein Dorfwirthshaus in der Nähe. Lottchen 
in ihrem einfachen Kleidchen, das aber immer paſſend und zierlich 
gemacht war, wartete auf ihren Richard, ſie hatte ein Körbchen am 
Arm, in das er ja nicht hineinſehen durfte. Sie lenkten bald ab 
von den breiten Straßen, auf denen der große Zug der Spazier⸗ 
gänger wandelte; Lottchen hakte ein glückliches Auge, hübſche verbor⸗ 
gene Plätzchen zu entdecken, an denen die Gegend reich war. Einmal 
gings in ein kleines Tannenwäldchen an einer Anhöhe, wo ſie auf 
weichem Mooſe einen königlich bequemen Sitz mit ſchöner Ausſicht 
fanden, oder ließen ſie ſich überſchiffen auf die kleine grüne Blaich⸗ 
inſel, wo am Ufer eine Bank im ſchattigen Weidengebüſch war; an 
ſolch einem Ruheplätzchen packte dann Lottchen ihre Schätze aus, im⸗ 
mer wieder etwas andres für Richard, der ein bischen ein Leckermaul 
war. Bald war es allerdings die Wurſt, von der Nanette ſo ver⸗ 
ächtlich geſprochen, oder war es ſchönes Obſt, ein paar Bretzeln und 
Butter, hie und da ſogar ein Stückchen Kuchen, womit ſie ihn trak⸗ 
tirte, dazu ein Fläſchchen Wein oder Apfelmoſt, den ſie ſich in der 
Woche am Munde abgeſpart hatte; da tafelten ſie mit einander und 
redeten von alten Zeiten, von jener wunderbaren Begegnung mit dem 


Brüderchen und Schweſterchen. 85 


fremden Herrn, den ſie ſeither nicht mehr geſehen hatten, und von 
Richards Zukunft. 

Aber der arme Junge wollte gar keine Zukunftsplane mehr 
machen; oft verging der ganze ſchöne Nachmittag nur mit bittern 
Klagen von ſeiner Seite und mit Lottchens Tröſtungen. 

Der Meiſter war hart und wunderlich, die Meiſterin bös und 
geizig, der Geſelle rauh und grob. „Und ich lerne nicht einmal 
viel,“ klagte Richard, „da ſoll ich der Meiſterin die Kinder hüten 
und Brod holen und Gemüſe waſchen, die feinſten Sachen macht 
der Meiſter gar nicht ſelbſt, die läßt er kommen, ich darf nur hand— 
langen.“ Lottchen wußte keine Hilfe, ſie tröſtete und beruhigte ihn, 
ſo viel ſie konnte; Herr Maier, der Unterlehrer, war jetzt in der 
gleichen Stadt angeſtellt, er erbot ſich, dem Richard, wenn er ab— 
kommen konnte, noch Stunden im Zeichnen und Latein zu geben, 
aber das war ſelten. Die Sorge um des Bruders Zukunft lag 
ſchwer auf Lottchens Seele. 

Es war früh am Morgen, da ſaß Lottchen mit den andern 
Mädchen emſig an der Arbeit, ſie ſah ein wenig blaß und war ſehr 
ſtill. „Nun, Lotte, was haſt Du?“ fragte Jette, „hat Dir was 
Böſes geträumt?“ „Nicht gerade,“ ſagte Lottchen leis, „aber ich 
habe heute Nacht dreimal meinen Namen rufen hören, da ſagt man 
bei uns der Tod habe gerufen.“ „O Du? Du wirſt Dir's einbil— 
den!“ riefen die andern Mädchen und rückten näher zuſammen. „Nein, 
nein,“ ſagte Lottchen beſtimmt. „Ich lag noch im tiefen Schlaf wie 
ich's das erſtemal hörte, und es war mir wie ein Traum, da rief's 
noch einmal leiſe und wie in Angſt „Lottchen,“ daran wachte ich auf, 
aber noch nicht recht, da rief's zum drittenmal „Lottchen!“ wie von 


86 Brüderchen und Schweſterchen. 


der Straße herauf, ich wachte auf, aber ich fürchtete mich ein wenig; 
zuletzt dacht ich aber doch, nein, du mußt ſehen wer ruft, wie ich 
aber aufſtehe und hinaus ſehe, iſt kein Menſch unten.“ 

Ehe noch die Mädchen ihre Vermuthungen über die geheimniß⸗ 
volle Stimme ausſprechen konnten, klopfte es raſch an die Thür, 
Lottchen fuhr zuſammen. Richards Lehrherr, der Drehermeiſter, trat 
herein. „Iſt das Bürſchchen bei Ihnen, Jungfer Kraus?“ fragte 
er haſtig. „Wen meinen Sie, Herr Kneller?“ „Nun, den Bur⸗ 
ſchen, Ihren Bruder, von dem ich ſchon Aerger genug gehabt habe.“ 
„Mein Bruder war ſonſt immer ein braver Knabe,“ ſagte Lottchen 
etwas gekränkt, — man griff ihr in's Herz, wenn man etwas gegen 
den Bruder ſagte —.“ „Nun ja,“ brummte der Drechsler; „er 
war ja meinetwegen ſtill und manierlich, aber ſo verdrießlich und 
empfindlich, er wollte ſchon alles ſelbſt thun und wiſſen, da hat ihm 
der Geſell, der nicht Spaß verſteht, ein paar Ohrfeigen gegeben.“ 
„Aber, Herr Kneller, eine ſolche Behandlung iſt mein Bruder nicht 
gewöhnt.“ „Nun ja, geſtorben wär' er aber auch nicht daran, und 
durchzugehen hätte er deshalb nicht brauchen.“ „Fort?“ fragte 
Lottchen, bleich vor Schreck. „Ja, durchgegangen, heut Nacht muß 
er fort ſein, ſein Bett ſteht noch ganz ungebraucht. Ich will nichts 
davon, ich kann's beweiſen, daß ihm nicht mehr geſchehen iſt, als 
was ſich jeder Lehrjunge muß gefallen laſſen; ich will ihn nicht 
mehr, auch wenn er wieder kommt, ſo ein poſtpapiernes Bürſchlein! 
und am Lehrgeld zahle ich auch nichts heraus, bin das nicht ver⸗ 
pflichtet, wenn er fortgelaufen.“ | 

Lottchen ſaß ganz betäubt von Schreck und Jammer; die Stimme, 
die ihr gerufen, war alſo kein Traum geweſen, auch nicht eine Todes⸗ 


Brüderchen und Schweſterchen. 87 


ahnung; es war ihr armer, verirrter Bruder, der hinausgegangen 
in die weite Welt, allein und hilflos ohne alle Mittel, und ſie hätte 
ihn vielleicht beruhigen und zurückbringen, oder ihm doch helfen können! 
Ihr Brüderlein, das ſie der Mutter verſprochen hatte zu hüten und 
zu verſorgen! Sie hatte kaum ſo viel Faſſung, daß ſie den Meiſter 
bitten konnte, keinen Lärm von der Sache zu machen, ſie wolle mit 
Richards Vormund reden. Der Mann hatte ſelbſt Mitleid, als er 
das todtbleiche Geſicht, die thränenvollen Augen der treuen Schweſter 
ſah; „ich weiß wohl, Sie ſind eine brave Perſon, Jungfer Kraus,“ 
ſagte er begütigend, „wenn das Bürſchlein nur ſo viel Einſicht und 
Demuth hätte wie Sie! Nun, ich denke, der Hunger treibt ihn bald 
wieder zurück, wer weiß, vielleicht nehme ich ihn wieder, Ihnen zu lieb.“ 

Der Schulmeiſter, zu dem Lottchen Nachmittags ging, meinte 
auch, man ſolle nicht viel Lärm von der Sache machen, es könnte 
dem Buben ſchaden, er ſei ja alt genug, um den Weg zurückzufinden, 
und wiederkommen müſſe er doch. Lottchen war deß nicht ſo gewiß, 
ſie ſchloß kein Auge in der nächſten Nacht, ſie ſaß wach und halb 
angekleidet auf ihrem Bette, ob ſie nicht wieder die Stimme des 
Bruders höre; ſie war ſo tief bekümmert, immer meinte ſie das 
bleiche Geſicht ihrer ſterbenden Mutter zu ſehen und hörte ſie fragen: 
wo iſt dein Brüderlein? wie haſt du es behütet? 

Da tönte durch die ſtille Nacht der Wächterruf, der elf Uhr 
verkündete, zu ihr herauf: 


„Menſchenwachen kann nichts nützen, 
Gott muß wachen, Gott muß ſchützen, 
Gib uns, Herr der Huld und Macht, 
Gib uns eine gute Nacht!“ 


88 Brüderchen und Schweſterchen. 


ſang der Wächter nach dem Stundenruf und ging weiter. Lottchens 
Seele hatte der Ruf wunderbar bewegt und ſie mußte ſich fragen: 
haſt du denn auch genug an Gottes Hut gedacht und nicht zu viel 
auf dich ſelbſt und deine Schweſterliebe vertraut? Du haſt geſchafft, 
genäht, geſtrickt, geſpart, geſorgt für dein Brüderlein, haſt du aber 
daneben auch genug für ihn gebetet? Haſt du ihn nicht vielleicht 
durch deine ſorgende Liebe zu weich und empfindlich für das Leben 
gemacht, ſtatt mit Gottes Hülfe ſeine Seele zu kräftigen zum Er⸗ 
tragen? Da betete ſie recht von Herzensgrund, und befahl ihren 
Bruder in die Hand des Herrn, deſſen Augen offen ſtehen über 
Meer und Land; eine wunderbare Ruhe kam über ſie und ſie ſchlief 
friedlich ein. | 
Still war das Lottchen freilich an den nächſten Tagen, und 
wenn ſie einen Ausgang zu machen hatte, ſo ging ſie jedesmal an 
der Poſt vorüber und fragte ſchüchtern, ob kein Brief für ſie da ſei? 
Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Brief von der Poſt be⸗ 
kommen, und doch bildete ſie ſich ein, ſie wußte kaum warum, ſie 
müſſe daher etwas von ihrem Richard erfahren, und ſiehe, am vierten 
Tag endlich bekam ſie einen Brief, mit dem ſie in ihr Kümmerlein 
eilte und ihn unter tauſend Thränen las. 
Es war dem ungeduldigen Büblein hart genug gegangen auf 
ſeiner freiwilligen Wanderſchaft und er hatte ſich mehr gefallen laſſen 
müſſen, als die Ohrfeigen des groben Geſellen. „Ich habe bittern 
Hunger gelitten, liebes Lottchen,“ ſchrieb er, „weil ich doch nicht bet⸗ 
teln konnte und hatte nur zwölf Kreuzer in der Taſche und Du hatteſt 
mich nicht gehört in der Nacht als ich vor Dein Fenſter kam, und 
umkehren wollte ich nicht mehr. Ich wußte aber gar nicht wohin in 


Brüderchen und Schweſterchen. 89 


der weiten Welt, und wußte nicht was ſagen? wenn mich jemand 
fragte, wohin ich wolle, da fiel mir ein, daß ein Vetter von Herrn 
Maier Bauführer in Ulm ſei; der war früher ſchon ſehr freundlich 
gegen mich geweſen, ſo ſagte ich, ich wolle zu dem. Einmal kam 
ich mit einem Jäger zuſammen, der ſprach freundlich mit mir, und 
als er hörte, daß ich auch ein Jägerskind ſei, gab er mir Brod 
und Fleiſch genug aus ſeiner Taſche und Wein, das hat mir auf 
lange gut gethan. 

„Ich habe richtig hier den Herrn Bauführer gefunden; er war 
gut gegen mich und läßt mich auf dem Sopha in ſeiner Stube 
ſchlafen, aber er meinte, ich ſolle eben wieder nach Hauſe gehen. Das 
kann ich aber nicht, liebes Lottchen, bei Dir kann ich nicht ſein und 
bei dem Dreher könnten ſie mich wieder ſchlagen, und das kann ich 
nicht ertragen. Da ſagte der Herr Bauführer, er wolle mir einen 
Brief geben an einen reichen, vornehmen Herrn, der ſchon öfter 
arme Knaben habe unterrichten laſſen: ich thu es nicht gern, daß 
ich mich ſo um Gotteswillen herumſchicken laſſe, aber was ſoll ich 
thun? ich kann nicht mehr zurück. 

„Aber, liebes Lottchen, es iſt weit bis dorthin und der Herr 
Bauführer, der ſelbſt nicht reich iſt, kann mir das Geld zur Reiſe 
nicht geben, auch wenn ich ganz zu Fuße gehe; er meint, vielleicht 
habe doch mein Vormund noch etwas von meinem Vermögen, das 
er mir ſchicken könne, bitte, frage Du ihn darum und ſchicke mir ſo 
bald Du kannſt, was Du von Geld für mich bekommſt und meine 
Kleider; und ſei nicht böſe, liebes Lottchen, wenn ich Dich in Angſt 
gebracht, ich habe nicht anders können, das kann ich mir nicht ge— 
fallen laſſen. Der Herr Bauführer läßt mich einſtweilen etwas 

7 | 


90 Brüderchen und Schweſterchen. 


abſchreiben oder Zeichnungen machen, und ſagt, ſie ſeien nicht ſchlecht. 
Lebe wohl, wer weiß, wenn wir uns wiederſehen. 
„Dein getreuer Bruder 
Richard.“ 

Lottchen war glücklich, daß ſie nun doch etwas wußte von ihrem 
Brüderlein; aber der Vormund wollte nichts wiſſen von Geld ſchicken. 

„Der Burſch hat keinen Heller mehr als die vierzig Gulden, 
mit denen wir die zweite Hälfte des Lehrgeldes bezahlen müſſen, 
gibt man die her, ſo hat man gar nichts mehr; er ſoll nur wieder 
kommen und ſich ducken lernen, das ſchadet jungen Leuten gar nichts.“ 

Lottchen aber wußte wohl, daß ihr Brüderchen, das ſanft und 
weich ausſah, doch ſeinen ſtarren eignen Willen hatte, und wenn ſie 
auch ſein Entlaufen für Unrecht hielt, ſo konnte ſie doch nicht wün⸗ 
ſchen, daß er zurückkehre, ſie meinte, er könne dort mehr und Beſſe⸗ 
res lernen als hier. 

So ſandte ſie ihm denn ihren ganzen geheimen Schatz und 
ſchrieb: „Gott geleite Dich, mein lieber Bruder, und wache über Dir, 
wo meine Augen nicht mehr wachen können! Ich ſchicke Dir hier 
alles, was ich ſeit Jahren zuſammengeſpart, um Dir einmal damit 
forthelfen zu können, damit Du nicht als ein armer Handwerks⸗ 
burſche in die Welt hinaus dürfeſt. Madame Bärmann war ſo 
gut und hat mir einen ganzen Jahrslohn vorausgegeben: ich will 
ihr gewiß doppelt darum arbeiten, daß ſie keinen Schaden hat; Herr 
Kneller gibt mir Deine Kleider nicht, da mußt Du Dich ja auch 
neu kleiden. Gott vergelte dem Herrn, bei dem Du biſt, was er 
an Dir thut! „Deine getreue Schweſter. 

Lotte.“ 


Brüderchen und Schweſterchen. 91 


Noch einen Brief erhielt Lottchen von ihrem Richard, den letz⸗ 
ten; er ſchrieb: 

„Vergelte Dir Gott taufendmal Deine Treue, liebes Lottchen! 
Es iſt mir jetzt erſt, wo Du mir Dein Einziges und Letztes ge— 
ſchickt, wie Schuppen von den Augen gefallen, was Du immer für 
mich gethan und wie Du Dich geplagt um meinetwillen und wie 
ich nichts geweſen bin als eine Laſt und eine Sorge für Dich; aber 
das ſoll anders werden, ſo Gott mir helfe. 

„Wieder kommen will ich nicht, ich könnte da nie etwas Rechtes 
werden, ſo daß ich Dir zur Hilfe ſein könnte; aber ich will mich 
vor keiner Arbeit fürchten und vor keiner Mühe, um es zu etwas 
Rechtem zu bringen, und Du ſollſt erſt wieder von mir hören, wenn 
etwas aus mir geworden iſt; ich will nicht mehr ſchreiben, nur um 
Dir Sorge zu machen. Auch darf ich es nicht mehr, liebes Lott— 
chen, da Du lieber nicht wiſſen ſollſt, wo ich bin. 

„Mein Vormund hat mir nemlich geſchrieben: ich müſſe zurück 
und wenn ich nicht komme, ſo laſſe er mich mit Landjägern holen; 
von Dir wolle er ſchon erfahren, wo ich ſei. So bete denn für 
mich und glaube gewiß, daß ich immer an Dich denke, auch wenn Du 
gar nichts von mir hörſt. Das Geld, das Du mir geſchickt haſt, 
will ich gewiſſenhaft anwenden; es iſt ein Dukaten dabei, ich weiß, 
daß den die ſelige Mutter an einem Schnürchen am Halſe getragen, 
und weiß, wie er Dir lieb und heilig war. Den will ich nicht aus⸗ 
geben, wenn mich nicht die alleräußerſte Noth drängt, und den 
Spruch, der auf der einen Seite ſteht, will ich mir in's Gedächtniß 
rufen, wenn ich in Gefahr käme, etwas Unrechtes zu thun, er heißt: 
„Bleibe fromm und halte dich recht, denn ſolchen wird es zuletzt 


92 Brüderchen und Schweſterchen. 


wohl ergehen.“ Doch das weißt Du wohl. Lebe wohl, mein liebes 
Lottchen, Gott vergelte Dir, was Du an mir gethan. 
„Bis in den Tod Dein treuer Bruder, 
Richard.“ 

Der liebe Gott allein weiß, wie viele Thränen Lottchen weinte 
um ihr Brüderlein, in ſtiller Nacht und bei Tage, wenn ſie ein ein⸗ 
ſam Stündchen hatte. — Es war und blieb der letzte Brief, den 
ſie von ihm erhielt. 


Lottchen allein. 


In dem vierten Stock eines Hauſes in einer ſchmalen Seiten⸗ 
gaſſe der Reſidenz wohnte eine Kleidernähterin, von der die vorneh⸗ 
men und eleganten Damen der Stadt aber nicht viel wußten. Es 
war Lottchen Kraus, die nach dem Rath ihrer Bekannten nach dem 
Tode ihrer früheren Herrin hier ein eigenes kleines Geſchäft ange⸗ 
fangen hatte. Zu thun hatte ſie genug, wenn ſich auch nicht viel 
Sammt- und Seidenſtoffe, nicht viel ſpinnewebige Ballkleider in ihr 
hohes Stübchen verirrten: beſcheidne Bürgerfrauen, Mütter mit 
vielen Töchterlein, Dienſtmädchen, wer immer wohlfeil, gut und 
pünktlich bedient ſein wollte, kam zu Lottchen; ſie theilte den Stoff 
ſo ſorgfältig ein, ſie ſchneiderte die alten Kleider der Mama oder 
der ältern Schweſtern noch ſo hübſch paſſend zurecht für die 
jüngeren Töchterlein und verſteckte die Nähte mit zierlichen Falbeln, 
daß die Mütter und die Kinder gleich vergnügt damit waren. 

Sie ſelbſt war nun freilich kein Bild aus dem Modejournal, 


Brüderchen und Schweſterchen. | 93 


die ſtille alte Jungfer: ein hochanſchließendes Kleid von dunkler 
Farbe, ein ſchneeweißes Häubchen, ſeit ihre Haare etwas dünner 
wurden, und ein gefälteltes weißes Tuch war ihre unveränderte 
Tracht. „Gerade wie eine Nonne,“ meinten die jungen Mädchen, 
die zu ihr kamen. Denn junge Mädchengeſellſchaft hatte fie, jo viel 
ihr Stübchen faſſen konnte; ſie gab Unterricht im Kleidernähen und 
niemand wollte man lieber die luftigen jungen Vögelein anvertrauen 
als dem guten Fräulein Lottchen. 

Die Mädchen ſelbſt kamen auch gern und hatten ſie alle lieb. 
Zwar war ſie ſtreng und genau im Unterricht und ließ keinen ungleichen 
Stich paſſiren, auch duldete ſie kein unnöthiges Geſchwätz, zumal 
nicht über andre Leute. Aber ihre ſtillen Augen blickten herzlich ver— 
gnügt über das muntere Häuflein hin, wenn ſie emſig ſtichelten und dazu 
fröhlich plauderten und ſangen; ſie ſelbſt hatte noch eine ſchöne, klare 
Stimme, mit der fie freilich am Liebſten ein frommes Lied anftimmte, 

Bisweilen ließ ſie ſich ſogar bewegen, etwas zu erzählen, was 
ſo in ihrem ſtillen Leben an ihr vorüber gegangen war; den kleinen 
Kindern der vielen Hausbewohner, die ſo gern zum Jungfer Lottchen 
hinaufkletterten, erzählte ſie die alten Geſchichten, die ſie vor Zeiten 
ihrem Brüderlein erzählt, aber ſie wurde nachher oft gar ſtill und 
traurig; in den Mährchen, da fanden ſich doch Brüderlein und 
Schweſterlein immer wieder zuſammen, — wo aber war ihr Brü⸗ 
derlein geblieben? 

Es ging Lottchen nicht ſchlimm, ſie hatte einen guten Verdienſt, 
obſchon ſie beſcheiden in ihren Forderungen war und viele Leute 
hatten ſie gern; aber gar einſam und allein kam ſie ſich doch auf 
der Welt vor und es wurde ihr oft bange, wenn ſie an alte und 


94 Brüderchen und Schweſterchen. 


kranke Tage dachte. Sie war erſt vierzig, aber ihre Augen waren 
ſehr ſchwach, ſie hatte von zarter Jugend auf ſo viel bei Nacht ge⸗ 
arbeitet und ſo viel geweint um ihr Brüderlein. 

Armuth und Mangel für ihre alten Tage hätte Lottchen frelich 
nicht fürchten dürfen; der Herr Kanzleirath unten im Hauſe wußte 
allein, was ſie ſchon für ein ſchönes Sümmchen in der Sparkaſſe 
hatte, und daneben verwahrte ſie noch in einer Büchſe viel ſchöne 
Gold- und Silbermünzen, denn fie ſelbſt war fo einfach und ſpar⸗ 

ſam, ſie konnte faſt von gar nichts leben. | 

Aber all dies mühſelig erworbene, ſorgſam erſparte Geld ſah fie 
nicht für ihr Eigenthum an, und hätte gar ungern etwas davon ge⸗ 
nommen. Sie glaubte gewiß, daß ihr Richard noch lebe und fürchtete, 
daß es ihm ſchlecht gehe, ſonſt hätte er ihr ja gewiß einmal geſchrieben. 
Da mußte ſie ſich denn immer denken, wie er noch eines Tags vor 
ihre Thür kommen werde, müde, arm und hungrig: dann aber wollte 
ſie ihren kleinen Schatz aufthun und ihn kleiden und nähren, und ſie 
wollten dann ſchon zuſammen noch zufrieden und glücklich leben! — 
Aber er kam nicht. Wenn ihr zu bange werden wollte vor den ver⸗ 
dunkelten Augen, ſo ſchlug ſie in der Mutter Bibel auf, wo viele, 
viele Zeichen lagen, da las ſie: „der Herr iſt mein Licht und mein 
Heil, vor wem ſollte ich mich fürchten?“ „Und ob ich ſchon wan⸗ 
derte im finſtern Thale, ſo fürchtet ſich dennoch mein Herz nicht, 
denn du biſt bei mir, dein Stecken und Stab tröſtet mich.“ 


Brüderchen und Schweſterchen. | 95 


Wiederſehen. 


Es war ein gar ſchöner Frühlingsabend, die jungen Mädchen 
hatten die Nähkörbchen zuſammengepackt und waren alle davon geflo- 
gen; Lottchen hatte hübſch aufgeräumt und gekehrt in ihrem Stübchen 
und ruhte nun eine Weile aus am offnen Fenſter, die milde Früh⸗ 
lingsluft umwehte ſie, ſie ſah hinunter in blühende Gärtchen und weit 
hinaus über die Häuſer und Dächer zu dem grünen Tannenwald 
auf dem Hügel über der Stadt. Da war ihr, als wandle ſie wie- 
der draußen im grünen Walde Hand in Hand mit ihrem Brüderlein 
und helfe ihm Erdbeeren ſammeln. Sollte ſie ihn denn nie, gar nie 
in ihrem Leben wiederſehen? Sie hörte nicht das wiederholte Klopfen 
an ihrer Thüre, ſie blickte ſo fern hinaus und dachte ſo weit zurück, 
ſie wendete erſt den Kopf, als die Thür aufging und ein feingeklei⸗ 
deter Herr eintrat. Es war nicht der ſchöne blonde Knabe, der mit 
ihr im Walde gewandelt; es war nicht der ſchmächtige, aufgeſchoſſene 
Junge, den ſie ſo oft beruhigt und getröſtet hatte an ſtillen Sonntag⸗ 
Nachmittagen, und doch kannte ſie dieſe blauen Augen und dieſen 
freundlichen Mund und „Richard, mein lieber Bruder Richard!“ rief 
fie, und mit Lachen und Weinen hielten Bruder und Schweſter ein- 
ander umfaßt, lange, lange. 


„Höret, ich glaube, Jungfer Lottchen droben hat einen Mann 
gekriegt,“ verkündete altklug Kanzleiraths kleines Linchen, die der 
lieben Tante Lottchen hatte eine Viſitte abſtatten wollen! ein ganz 


96 | Brüderchen und Schweſterchen. 


ſchöner, flotter Herr ſitzt bei ihr auf dem Sopha und ſie ſind ſo arg 
vergnügt und haben einander an der Hand, und ſie hat ganz gute 
Sachen holen laſſen!“ 

Lottchen aber ſaß droben glückſelig neben dem wiedergefundenen 
Bruder, der gar nicht ſo arm und verkommen ausſah, wie ſie ſich 
vorgeſtellt, und ſie ſchickte das Laufmädchen fort um fremden Wein 
und feines Backwerk, Koſtbarkeiten, die noch nie in die beſcheidene 
Nähſtube gekommen waren, weil ſie gar nicht wußte, was ſie an 
ſonſt zu Ehr' und Liebe anthun ſollte. 

„Aber, Richard, warum haſt Du denn gar, gar nichts von Dir 
hören laſſen, zwanzig lange Jahre, und wie iſt Dir's denn gegan⸗ 
gen, und was biſt Du denn jetzt? O Brüderlein, Du liebes, böſes 
Brüderlein!“ 

„Ja, Schweſterlein, das iſt eine lange Geſchichte, da werde ich 
noch manchen Abend zu erzählen haben; will Dir's einſtweilen nur 
in der Kürze ſagen. 

„Wie ich Dir geſchrieben, hat mich der Bauführer, zu dem ich 
damals meine Zuflucht nahm, an einen vornehmen Herrn empfohlen, 
der in's Ausland reiste und einen jungen Menſchen als eine Art 
von Sekretär mit ſich nehmen wollte. Wer, meinſt Du, daß der 
Herr geweſen war? Jener Herr Graf vom Walde. Ihm war 
aber dieß Zuſammentreffen gar nicht ſo merkwürdig als mir und er 
war etwas bedenklich als er hörte, daß ich davongelaufen ſei, da er 
aber an der Abreiſe war, ſo nahm er mich doch mit nach Oberſchleſien 
und gewann mich lieb. Ja, er war ſpäter ſo gut, als er Neigung 
und Talent zum Baufach bei mir fand, mich noch dazu bilden zu 
laſſen. „Aber ich muß ſehen, Junge, ob Du Dir's auch ſauer 


Brüderchen und Schweſterchen. 97 


werden laſſen kannſt,“ ſagte der Graf, „das Davonlaufen hat mir 
nicht recht gefallen.“ | 

„Das war nun eine harte Lehrzeit, liebes Lottchen! bei Maurer, 
Zimmermann und andern Handwerkern mußte ich eine Lehre durch— 
machen, daneben lernen und ſtudiren: es wurde mir oft ſo ſchwer, 
daß ich mich faſt wieder an die Drechſelbank gewünſcht hätte; jchrei- 
ben wollte ich Dir gar nicht, bis ich etwas Rechtes geworden; auch 
wagte ich es ſpäter nicht, da ich militärpflichtig war, und doch nicht 
gern meine Laufbahn unterbrochen hätte. Aber ich dachte viel und 
viel an Dich, an den Spruch, Lottchen, der auf Deinem Goldſtück 
ſteht und an alles, was ich Dir verſprochen; es iſt mir nächſt Gott 
zum Schutz und Geleite geworden. 0 5 

„Mein Weg war nicht leicht, ich hatte ſo viel einzuholen; als 
aber der Graf ſah, daß mir's Ernſt war, da half er mir immer 
weiter und ließ mich ſchöne und weite Reiſen machen. 

„Als ich zurückkam, wollte ich Dir ſchreiben, wenn ich auch 
gerade noch nicht viel geworden war; aber der Brief, den ich nach 
der Stadt gerichtet, wo wir zuſammen waren, kam zurück, niemand 
wollte von Dir wiffen. 

„Seit einem Jahr bin ich Bauinſpektor im Dienſte des Fürſten 
von F., das iſt eine Stelle, wie ſie nur mein Herz begehren konnte; 
Lottchen, nun darf ich Häuſer bauen, ſo ſchön ich ſie je geträumt! 
Jetzt bin ich etwas Rechtes, und ich kam, um Entlaſſung von der 
Militärpflicht nachzuſuchen, vor allem aber um mein verlornes Lott— 
chen zu holen. 

Ich wollte zurück in unſere frühere Heimath, da las ich heute 

Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl, 7 


98 | Brüderchen und Schweſterchen. 


im Adreßbuch des Gaſthofs zufällig: Lotte Kraus, Kleidermacherin. 
„Das könnte ja doch mein Lottchen ſein,“ dachte ich, und eilte her, 
und Du biſt's geweſen, Du, mein eignes Lottchen!“ und Bruder 
und Schweſter ſahen ſich wieder ſeelenvergnügt in die Augen. 

„Und jetzt mußt Du mit mir, Lottchen!“ rief Richard fröhlich, 
„und ſollſt's gut bei mir haben, dann will ich Dir ſchon noch mit 
Ruhe erzählen, wie mir's gegangen iſt auf der Welt.“ 

„Aber, Du biſt wohl nicht mehr allein?“ fragte Lottchen etwas 
ſchüchtern. 

„Seit einem Jahr erſt habe ich eine Frau,“ ſagte Richard 
heiter, „und ich hätte ſie gar nicht genommen, ſo ſchön ſie iſt, wenn 
ich nicht gewußt hätte, daß ſie auch für Dich eine liebe, gute Schwe⸗ 
ſter ſein wird. Es lag ihr ſo am Herzen, Dich zu finden, wie wird 
ſie ſich nun freuen! Morgen bringe ich ſie in der Früh, heute wäre 
es zu ſpät und Du brauchſt Ruhe, mein gutes Lottchen, gute Nacht!“ 
In der That, Lottchen war ganz matt und betäubt von ihrem 
Glück; noch lange, nachdem der Bruder fort war, ſaß ſie ſtill am 
Fenſter mit ſeligem Lächeln und gefalteten Händen, es fielen ihr nur 
noch die Worte ein: 

erwarte nur die Zeit, 


So wirſt du ſchon erblicken 
Die Sonn' der ſchönſten Freud'. 


Acht Tage nach dieſem gab Jungfer Lottchen all' ihren Schüle⸗ 
rinnen eine Abſchiedsgeſellſchaft, wobei es Chokolade und Kuchen gab, 


Brüderchen und Schweſterchen. 99 | 


jo reichlich, daß das beſcheidene Lottchen nach ihrer frühern Weile 
wohl Monate lang von dieſem Schmaus hätte leben können. 
Wenige Tage nachher fuhr ein ſehr ſchöner Wagen vor, darin 
ſaß der Bruder und feine Frau, die holten ihre liebe Schweſter ab. 
In der ganzen Nachbarſchaft ſchaute und grüßte man zu allen Fen⸗ 
ſtern hinaus, und nicht eine einzige Seele war da, die nicht dem 
demüthigen Lottchen recht von Herzen ihr Glück gegönnt hätte. 


Das Haus des Bauinſpektors bei dem reichen, kunſtliebenden 
Fürſten von F. ſteht in der Vorſtadt der kleinen Reſidenz in einem 
Garten, das anmuthigſte Wohnhaus, das man ſich denken kann. 
Unter den Blumen auf der Terraſſe ſieht man ſchöne Kinder ſpielen 
und oben in der leichten Jasminlaube ſitzen zwei Frauen mit ihrer 
Arbeit. Die jüngere, ſchönere wird wohl die Mutter der Kinder 
ſein; zu unterſcheiden iſt es ſchwer, denn Jede ſieht mit gleicher Liebe 
und Innigkeit auf die fröhlichen Kleinen, und wenn dieſe einen ſchö— 
nen Kieſel, ein ſeltnes Käferlein gefunden haben, ſpringen ſie mit 
ihrem Jubel faſt noch öfter zu „Tante Lottchen“ als zur Mama. 

Ja, das iſt die ſchöne, glückliche Heimath, in die das Brüder 
lein nun ſein getreues Schweſterlein eingeführt hat! Tante Lottchens 
Augen ſind ſehr ſchwach geworden; wenn ſie die zierlichen Kleidchen 
der kleinen Nichten näht, und das läßt ſie ſich nicht nehmen, ſo muß 
ſie dazu eine Brille aufſetzen, was den Kindern viel Spaß macht; 
aber ſie kann die Augen recht ſchonen, ſie hat genug zu thun, bis 
ſie die Kleinſten wartet und hütet und mit den Großen ſpielt und 


100 Brüderchen und Schweſterchen. 


ſpazieren geht und ihnen erzählt. Tante Lottchen iſt allüberall, wo 
es zu helfen und zu rathen gibt. Sie will nicht dabei ſein, wenn 
große Geſellſchaften im Haus ſind, nicht mitfahren und gehen, wenn 
Bruder und Schwägerin Beſuche machen; es iſt ein Feſt in der 
Kinderſtube, wenn Tante Lottchen den Kleinen einmal ganz gehört. 
Sie verlangt es nicht beſſer als Allen zu dienen, aber ſie erndtet auch 
eine reiche Saat von Liebe dafür. „Wir haben einen Engel unter | 
unfer Dach genommen,“ verfichert die junge Frau oft ihren Mann 
mit feuchten Augen. Lottchen findet alles fo ganz natürlich, was fie 
thut, ſie weiß ja gar nicht, wie ſie Gott und Menſchen dankbar ge⸗ 
nug ſein ſoll, daß ſie, die ſo allein war, nun ſo reich iſt an Liebe; 
die ſchönſten und die liebſten von all ihren Geſchichten, die ſie er⸗ 
zählte, blieben immer die vom Brüderlein und Schweſterlein. 


I. 


Kein Menſch hätte des Hirten Hannesle angeſehen, was das 
für ein geſchickter Bub ſei; nur der Schulmeiſter, obgleich er ihn 
wegen der vielen Schulverſäumniſſe oft auszankte, ſagte doch, wenn 
er ſeine raſchen und flinken Antworten hörte: „Hannesle, Du haſt's 
hinter den Ohren.“ 

Im Winter zwar war Hannesle ein fleißiger Schüler, er lernte 

gern und hatte eine große Liebe zu dem Schulmeiſter; nur fragte 
er oft ſo viel, daß zuletzt dem Schulmeiſter das Antworten aus— 
ging, weßhalb er auch der Fragenhansle genannt wurde. Er ſaß 
aufmerkſam da mit ſeinem Tafelſcherben (zu einer ganzen Tafel 
hatte er's noch nie gebracht), und rechnete alle Aufgaben nach, oft 
ſogar noch neue dazu, die er ſich ſelbſt geſtellt hatte. Aber im Früh⸗ 
ling, da wollt' es ihn gar nicht mehr auf der Schulbank leiden; er 
ſah viel öfter zum Fenſter hinaus als in das Buch, und ſo lieb er 
ſonſt dem Schulmeiſter war, er mußte doch manchmal die ſtarken 
Haſelſtöcke ſpüren, die er ſelbſt dem Lehrer in dem Wäldchen ge— 
ſchnitten hatte. 


104 Das Bäumlein im Walde. 


Gelegenheit zum Schulverſäumen gab's nun da freilich manchmal, 
da ſein Vater nicht nur Viehhirte, ſondern auch Amtsbote war, und 
am Markttage, wo er in die Stadt mußte, den Hansle als Amts⸗ 
verweſer bei den Kühen anſtellte, die er ſchon recht ordentlich zu 
regieren wußte. Der Schulmeiſter drückte wohl auch ein Auge zu; 
Hannesle brachte ihm nicht nur die guten Haſelſtöcke, er brachte auch 
der Frau Schulmeiſterin trockne Tannenzapfen, um ihre Bügelſtähle 
heiß zu machen, und ihrem kleinen Minchen reife Erdbeeren. Er 
trieb überhaupt beſtändig einen kleinen Handel mit Rohrflöten, mit 
kleinen Ketten aus Roßhaar geflochten oder aus Kirſchenſteinen ge- 
ſchliffen, Klappern aus Welſchkornſtengeln, Hexenklaviere aus Nuß⸗ 
ſchalen und allerlei ſolchen Raritäten, zu denen ihm die liebe Natur 
den Stoff lieferte. Dafür gaben ihm dann die wohlhabendern Jun⸗ 
gen Brod, Oelkuchen, wohl auch ein Würſtchen am Tag, wo geſchlachtet, 
wurde. Der Schulmeiſter durfte ſchon ein bischen Nachſicht üben, 
denn Hannesle war ein nachdenkliches Büble; er verarbeitete ſich an 
den freien Tagen, was er in den Schulſtunden gelernt hatte und 
wußte ſo am Ende mehr, als mancher gedankenloſe Bengel, der mit 
offnem Maule da ſaß und ſich das Wiſſen hinunterſtopfen ließ, wie 
eine Gans das Welſchkorn. 

Hannesle war blutarm, obſchon der Hirtenlohn und das ſchmale 
Botenbrod, das der Vater einnahm, den Vater und das einzige 
Büblein vor dem bittern Mangel hätte ſchützen können, der zur 
Winterszeit oft in der Hütte einbrach. Aber leider hatte er ſchon vor 
Jahren ſeine gute, treue Mutter verloren und ein armer Hirt kann ſich 
keine Haushälterin nehmen. So wurde denn der Erwerb nicht ordent⸗ 
lich zu Rathe gehalten, wenn auch der Vater den beſten Willen hatte; 


Das Bäumlein im Walde. 105 


nur die kleine Handelsſchaft Hannesle's ſchützte zu Zeiten den Knaben 
vor bittrem Hunger. 

Hannesle ließ ſich das aber nicht anfechten; wenn er mit einem 
Stück Schwarzbrod im Sack hinter ſeinen Kühen herzog, ſo dachte 
er nicht an Noth und Sorge; er ſang ein Liedchen vor ſich hin, das 
er irgendwo aufgeſchnappt hatte und das ihm beſonders wohlgefiel. 


Ich lebe in der Einſamkeit 

Gelaſſen für mich hin, 

Und es hat mich noch nie gereut, 
Daß ich kein König bin. 


Dann dachte er ſich allerlei aus, was er einmal thun und aus⸗ 
führen wolle, um dem Vater gute Tage zu machen: er wolle ſich 
zuſammenſparen zu einer Hacke und Schaufel, mit der er an der 
Eiſenbahn arbeiten könnte; dann wollte er ſo viel verdienen, daß er 
ein Pferd mit einem Karren kaufen könnte. „Fuhrwerken trägt ſchwer 
Geld ein,“ dachte er weiter, dann kauf' ich mir einen Wagen, zuerſt 
mit zwei Gäulen, dann mit vier, zuletzt mit acht; „ho Braun!“ 
ſchrie er, ſchon in Gedanken hinter feinem achtſpännigen Wagen und 
knallte dazu mit ſeiner Hirtengeißel. Das dünkte ihm das ſchönſte 
und luſtigſte Leben, ſo mit einem Wagen und ſtattlichen Pferden 
landaus, landein zu fahren; mit wahrer Ehrfurcht lauſchte er dem 
ſchweren langſamen Gerumpel eines großen Frachtwagens, beſonders 
wenn er ſo in die ſtille Nacht hineinfuhr, wo er ſich's gar wunder— 
bar und abenteuerlich vorſtellte. 

Noch viel ſchöner aber, dachte er, müßte es ſein, über's Meer 
zu gehen, nach Amerika! Oft und oft bat er den Vater, wenn dieſer 


106 | Das Bäumlein im Walde. 5 


klagte über ſein mühſeliges Tagwerk: „O Vater, wir wollen nach 
Amerika gehen, da gibt's Geld genug und die Säu laufen ledig auf 
der Gaß herum.“ — „Dummer Bu, bild Dir ſo nichts ein,“ ſagte 
dann der Vater, „ich bin zu alt nach Amerika, das Geld hab ich 
nicht und von der G'meind' fortſchaffen laß ich mich nicht, dabei 
bleibt's.“ Dabei blieb's denn und doch ſchien dem Hannesle Amerika 
das gelobte Land und er kannte keinen höhern Wunſch, als es einmal 
zu erreichen. | 

Es war in den glückſeligen Tagen der Heuvakanz, als Hannesle 
ſingend und pfeifend mit ſeiner Heerde auszog. Da ſah er auf 
einem Stein vor dem Dorf ein Mädchen von etwa zwölf Jahren 
ſitzen, die ein kleines, vielleicht zweijähriges Kind auf dem Schooße 
hielt und bitterlich weinte. Die Mädchen waren Hannesle fremd 
und die Kinder vom Ort kannte er doch alle ſo genau. Er wollte 
vorbeigehen, die Kleine aber ſtreckte die Händchen aus und rief 
„Mokele Muh“ als die Kühe vorüberzogen; er konnte nicht loskom⸗ 
men, das weinende Mädchen dauerte ihn ſo. So hielt er denn ſtill 
und fragte: „Wie heißt?“ 

„Rösle,“ antwortete das Mädchen, ſchüchtern die Augen zu 
ihm erhebend. 

„Warum heulſt, Rösle?“ fragte er weiter. 

„Ich ſchäm' mich ſo.“ 

„Warum ſchämſt Dich?“ 

„Weil man uns in's Bettelhaus gebracht hat;“ und Rösle, 
deren Thränen einen Augenblick getrocknet waren, brach in ein neues 
Schluchzen aus. 

„Warum ſeid ihr im Bettelhaus?“ fragte der unermüdliche 


Das Bäumlein im Walde. 107 


Fragenhannesle weiter, aber in ſo gutmüthigem Ton, daß ihm Rösle 
die Antwort nicht verſagen konnte. 

„Weil mein Vater und Mutter nach Amerika ſind und wir 
find da blieben,“ ſchluchzte fie, und die Kleine weinte jetzt zur Ge⸗ 
ſellſchaft mit. 

„Aber warum ſeid ihr nicht mit nach Amerika?“ fragte Han⸗ 
nesle, deſſen Augen funkelten, wenn man nur Amerika nannte. 

Ja, das war eine lange traurige Geſchichte! Hannesle's Kühe 
waren während feiner vielen Fragen ſchon vorausgelaufen und mach⸗ 
ten eben die ſchönſte Anſtalt, ſich in dem grünen Saatfeld ſatt 
zu freſſen. 

„Poz Gukuk!“ rief der Fragenhansle und ſprang den Kühen 
nach, die er auch alsbald mit ſeiner langen Geißel wieder auf den 
rechten Weg brachte. Das Rösle, deſſen Thränen unter dem Frag- 
und Antwortſpiel etwas getrocknet waren, ſpazierte ihm langſam nach 
mit dem Schweſterlein auf dem Arm; Hansle winkte ihr näher und 
indem er unter dem Erzählen ſein Vieh beſſer im Auge behielt, fragte 
er aus dem blöden Mädchen nach und nach Alles heraus, was er 
gern von ihr gewußt hätte. 

Eine gar betrübte Geſchichte war es, die ich Euch kürzer und 
genauer erzählen will, als Hansle ſie von dem armen Rösle erfuhr, 
deren Thränen unter ihrem Bericht immer wieder neu floßen. 

Der Vater der zwei Mädchen ſtammte aus dem Dorf hier; 
er war ſeines Handwerks ein Küfer, ein geſchickter und fleißiger Mann, 
aber gar heftiger und unſtäter Natur. Als Geſell ſchon bekam er 
überall Händel, wo er in Arbeit ſtand, wenn er aber auch keine be- 
kam, ſo blieb er ſelbſt nicht lange; „es leidt mich nicht zu lang an 


108 Das Bäumlein im Walde. 


Einem Ort,“ ſagte er oft. Nach langen Wanderungen hatte er ſich 
endlich in einem weit entfernten Städtchen als Meiſter geſetzt, hatte 
ein braves Weib geheirathet und nach und nach vier Kinder bekom⸗ 
men; Rösle war die älteſte, dann kamen zwei kleine Buben und das 
Kleinſte, Rickele, die jetzt an der Schweſter hieng. 

Eine Zeitlang ſchiens faſt, als ob das eigene Haus, das Weib 
und die lieben Kinder dem Matthes Brauſer, ſo hieß der Mann, 
die Wanderluſt vertrieben hätten; er arbeitete ordentlich und trotz der 
vier Kinder wären ſie doch wohl zu einem kleinen Vermögen gekom⸗ 
men, wenn nicht der Mann allezeit ſo allerlei angefangen hätte. 
Aber da fiel ihm alles Mögliche ein, was gar nicht zum Küferhand⸗ 
werk gehört; bald wollte er fiſchen, bald entlehnte er ein Gewehr 
und ging heimlich aufs Haſenſchießen aus oder legte Vogelſchlingen. 
Liesbeth, ſein Weib, hatte gar keine Freude an den Braten, die er 
ihr heimbrachte. „Schuſter, bleib’ beim Leiſten,“ ſagte fie oft, „ich 
ſag Dir, Matthes, es iſt nichts nutz, wenn ein Handwerksmann 
ſeinen Profit nicht beim Handwerk ſucht.“ 

Dann kamen viel ſchlechte Weinjahre; das Handwerk wollte 
nicht mehr gehen, dem Matthes entleidete nicht nur das Gewerbe, 
es waren ihm oft auch Weib und Kinder entleidet, die ihn hinderten, 
wieder in die weite Welt hinauszuziehen, nach der es ihn ſo gewaltig 
zog. Liesbeth bemerkte das wohl, und wie ſie ſah, daß trotz ihres 
treuen Fleißes die Armuth mehr und mehr einkehrte in ihrem Haus, 
da ſchlug ſie ſelbſt am Ende ihrem Mann vor: „Matthes, wir wol⸗ 
len lieber miteinander fort, lieber recht weit weg, nach Amerika, 
wenn Du willſt.“ 

Das richtete den Matthes auf und voll Luſt und Leben ſchickte 


Das Bäumlein im Walde. 109 


er ſich dazu an; bald war Alles verkauft und der Vertrag geſchloſſen, 
nur kam er ſeufzend zurück; er habe gehört, Kinder ſeien eine grau⸗ 
ſige Laſt in Amerika. 

„Ich wär lieber zuerſt allein gegangen,“ ſchlug er ſeinem Weib 
vor, dann hätt' ich Euch nachkommen laſſen, wenn's gut gegangen 
wäre.“ 

„Nichts da,“ ſagte Liesbeth entſchloſſen, „was Gott zuſammen⸗ 
gefügt hat, das ſoll der Menſch nicht ſcheiden, Mann und Weib und 
Kinder gehören zuſammen.“ | 

So war denn an einem Morgen das traurige Deckelwägelein, 
wie man fie hie und da mit Auswanderern ſieht, zur Stadt hinaus⸗ 
gefahren; die Kinder jubelten, daß ſie fahren durften, das Weib 
weinte, Matthes war ſtill und finſter und brütete über einem dunklen 
Entſchluß. „Matthes, Du haft nichts Gutes im Sinn,“ ſagte Lies⸗ 
beth ein paarmal ängſtlich zu ihm. 

Ja wohl war es nichts Gutes, was Matthes ſich ausgedacht 
hatte! An dem kühlen nebligen Morgen, wo die Paſſagiere einge- 
ſchifft werden ſollten, war wie immer groß Gedräng und Getümmel 
am Landungsplatz; Matthes hieß die vier Kinder hübſch beiſammen 
bleiben, bis er und die Mutter die Kiſte auf's Schiff geſchafft hatten 
aber — o weh! als die Mutter, die gar lang im Schiff aufgehalten 
wurde, bis die Kiſten und Körbe recht geſtellt waren, eilig zurück— 
wollte, um jetzt ihre Kinder zu holen, da war das Schiff ſchon im 
Gang, ſchon weg vom Ufer und vergeblich war das verzweifelte Ge— 
ſchrei der Mutter, die in's Waſſer ſtürzen wollte, um ihre Kinder 
wieder zu holen. „Sei ruhig, Weib,“ bat ſie Matthes, „wir können 
nichts davor, 's iſt jetzt ſchon jo, den Kindern geſchieht gewiß nichts, 


110 Das Bäumlein im Walde. 


und geht ihnen vielleicht beſſer, als wenn ſie ſich mit uns hätten 
durch die Welt plagen müſſen; vielleicht gibt's hier zu Land gute 
Leute, die ſie behalten, oder im ſchlimmſten Fall bringt man ſie zur 
Gemeinde zurück, die muß ſie erhalten; wenn's uns dann drüben gut 
geht, ſo holen wir ſie Alle.“ Das half aber wenig bei der betrübten 
Mutter; da hieß es auch, wie in der Bibel ſteht: ſie weinte um 
ihre Kinder und wollte ſich nicht tröſten laſſen. 

Und die armen Kinder, die ſich ſo gefreut hatten, bis ſie auf 
dem großen Meerſchiff fahren durften; freilich wußten ſie nicht, wie 
ſchwer und lang oft eine ſolche Fahrt iſt! Lange, lange konnten ſie 
gar nicht begreifen, daß ſie vergeſſen ſein ſollten. Rösle wiegte fort 
und fort das Rickele in ihrem Schooß und tröſtete die Brüder: „Se; 
ruhig, Fritzle, d'Mutter kommt bald, wart nur, Gottlieb, der Vater 
holt Dich;“ aber Vater und Mutter kamen nicht, und als endlich die 
Kinder ſich dicht an's Ufer drängten, als ſie das große Dampfſchiff 
dahinbrauſen ſahen: da begriffen ſie es erſt nach und nach und bra⸗ 
chen in lautes Jammergeſchrei aus. 

Es ſammelten ſich viel neugierige und mitleidige Leute um die 
armen Kinder, man ſchenkte ihnen etwas Geld, ein gutmüthiger Wirth 
nahm ſie nach Hauſe und gab ihnen reichlich zu eſſen. Den Buben 
ſchmeckte es bei allem Jammer, Rösle allein konnte nichts eſſen und 
mußte fort und fort weinen, während fie dem Rickele ſein Milchſüpp⸗ 
chen gab, die mit großen Augen in der fremden Wirthsſtube herum⸗ 
ſah. Von all dem Unglück verſtand die Kleine nichts, als daß die 
Mutter fort ſei, und tröſtete die Andern immer mit dem alten Troſt, 
den ihr ſonſt Rösle gab: „Mamme fortgangen, Mamme wieder⸗ 
hommen.“ 


Das Bäumlein im Walde. 111 


Behalten wollte Niemand die verlaſſenen Kleinen; ſo wurden ſie 
denn nach ihrem Heimathort zurückgeſchafft: die zwei Buben wurden 
in der Stadt aufgenommen, wo der Vater zuletzt gelebt hatte, und 
bei armen Leuten gegen geringes Koſtgeld untergebracht; Rösle mit 
dem kleinen Schweſterchen kam nach dem Geburtsort ihres Vaters 
und wurde mit dem Schweſterchen in's Armenhaus (von den Bauern 
ſchlechtweg Bettelhaus genannt) aufgenommen. | 

Das Alles, wenn auch in der Kürze, hatte Hansle nach und 
nach dem Rösle abgefragt und er hatte ſchrecklich Mitleid mit den 
armen Kindern, nicht ſowohl weil ſie von Vater und Mutter getrennt 
waren, als weil ſie ſchiergar nach Amerika gekommen wären; „ich 
wär' eben in's Waſſer geſprungen und dem Schiff nachgeſchwommen,“ 
verſicherte er Rösle, „ich hätt's lang noch eing'holt.“ 

„Ich kann nicht ſchwimmen,“ entſchuldigte ſich das arme 
Rösle, „und mit meinem Rickele vollends nicht.“ Das mußte 
Hansle zugeben. 

„Aber warum gehſt in's Bettelhaus und wirſt nicht lieber 
Kindsmagd?“ fragte er weiter. 

„Ich muß mein Rickele hüten,“ ſagte Rösle, „ſo will mich 
kein Menſch.“ 

Es iſt wahr, obgleich das Rickele wohl ſelbſt gehen konnte, ſo 
hieng ſie doch unzertrennlich an der Schweſter, die ihr jetzt Vater und 
Mutter ſein mußte. Erſtaunlich geſcheidt war das gute Rösle nicht, und 
gelernt hatte ſie auch noch nicht viel, ihr Amt war auch daheim immer 
geweſen, die kleinen Geſchwiſter zu hüten. So war ſie dem kleinen 
Rickele auch Alles und Alles und verpflegte das Kind wie eine Mutter, 
aber in's Haus nehmen wollte fie Niemand mit der kleinen Laſt. 


112 Das Bäumlein im Walde. 


Im Armenhaus zu ſein ſchämte ſie ſich bitterlich, wie ſie ſchon | 
dem Hansle geklagt, auch herrſchte nicht viel Frieden und Eintracht 
unter den paar mürriſchen alten Weibern, die es bewohnten; da zog 
ſie denn Tag für Tag, wenn es nicht regnete, mit dem Rickele her⸗ 
aus an die Straße, wo ſich die Kleine mit Allem unterhielt, was 
vorüberging. 

Von jenem Morgen an bildete ſich eine Freundſchaft zwiſchen 
den Kindern; Rösle und ihre Kleine gingen mit Hansle auf den 
Waidplatz und da gab es immer Unterhaltung für das muntere kleine 
Dinglein. Die Mokele, wie ſie die Kühe nannte, thaten ihr gar 
nichts; ſie lachte laut, wenn ſie um ſie herumſprangen, und Hansle 
übte all ſeine Künſte dem Rickele zu Gefallen: er machte ihr Körblein 
von grünen Klebbinſen und ſuchte rothe Erdbeeren dazu, er blies ihr 
ſchöne Stücklein vor auf ſeiner Rohrflöte, oder legte mit Rösle einen 
Kaufladen an, wo gelbe und weiße Blumenblättchen, Körnlein, Beeren 
und allerlei ſolche Dinge als Zucker, Kaffee, Eier und Butter ver⸗ 
kauft wurde, und Rickele durfte mit kleinen und großen Kieſelſteinchen 
kommen und abkaufen; die Kleine klopfte in die Hände und jauchzte 
laut auf, wenn ſie Hansle nur von weitem kommen ſah. Den Handel 
mit den Schulbuben betrieb Hansle jetzt noch viel eifriger, weil er 
ſich ſo freute, wenn er der Kleinen etwas mitbringen konnte; er 
lachte hell auf, wenn ſie mit ihren kleinen Händchen in ſeiner Hoſen⸗ 
taſche herumkrabbelte und immer frug: „Annsle nix bacht?“ 

Der Waideplatz war am Eingang des Waldes, wo mitunter 
noch weicher Moosgrund war und einzelne hohe alte Bäume ſtanden. 
Das Liebſte war den Kindern da eine alte hohle Eiche, in deren 
weiter Oeffnung ſie alle drei Platz hatten. Da ſaßen ſie gar manch⸗ 


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Das Bäumlein im Walde. 113 


mal im Sonnenſchein und Regen, die drei verlaſſnen Kinder, denn 
auch um Hansle bekümmerte ſich ſein Vater nicht viel und andre 
Leute noch weniger; Hansle pfiff und ſang und erzählte der Kleinen, 
und wenn die oft eingeſchlafen war auf ihres Rösle's Schooß, ſo 
hub er an zu fragen und ließ ſich von dem geduldigen Mädchen im- 
mer wieder erzählen von jener unglücklichen Fahrt, von ihren Brü— 
dern, von ihrer Heimath. 

Am liebſten erzählte Rösle von ihrer Mutter, an der ihr ganzes 
Herz hing; „o die iſt arg brav,“ verſicherte ſie den Hansl. Auch 
redete ſie gern von Allem, was ſie einſt daheim gehabt, damit man 
ſehe, daß ſie nicht immer im Armenhaus geweſen. „O, und die 
Mutter hat verſprochen, am nächſten Chriſttag, wenn 's Rickele ein 
Bischen g'ſcheidter ſei, krieg' fie einen Baum,“ und ſie weinte wieder. 

„Einen Chriſttagsbaum?“ ſagte Hansle, der das Weinen bei 
Andern nicht ertragen konnte, „o, das iſt fein ſchön! ich hab's bei's 
Amtmanns ſchon zum Fenſter nein’ gefehen,*) ich hab nie einen 
gehabt.“ 

„Aber ich, wie ich klein g'weſen bin,“ verſicherte Rösle; „o mein 
arm's Rickele kriegt nie kein Bäumlein.“ 

Von der Stund an aber ſann der pfiffige Hansle darauf, wie 
er dem Rickele ein Bäumchen verſchaffe. Er hatte ſich's endlich aus— 
gedacht, er hatte allerlei geſammelt, ein paar ſchöne kleine purpurrothe 
Aepfelein noch vom vorigen Jahr, Chriſttagsäpfel genannt, eine Hand— 


*) In den meiſten ſchwäbiſchen Dörfern iſt die Sitte des Weihnachtsbaums 
durchaus nicht allgemein und bekommen ihn nur die kleinen Kinder bis zum 
vierten Jahr. 

Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 8 


114 Das Bäumlein im Walde. 


voll Nüſſe, allerlei Reſte farbig Papier und bunte Bänder, die ihm 
Krämers Kaspar für einen prachtvollen Hornſchröter (Hirſchkäfer) 
gegeben hatte; nur Lichter, ach, Lichter wollten ſich keine dazu finden. 
Aber warum brauchte er auch Lichter? er hätte ohnehin gar nicht 
warten können bis Weihnachten, das war ja noch ſo ſchrecklich lang, 
und er freute ſich doch ſo auf des Rickele's Freude; warum ſollte 
er nicht auch ein Bäumchen mitten im Sommer und am hellen Tag 
machen können? — „Aber ein Feſt ſollt's eben doch ſein,“ dachte 
Hansle wieder und kratzte ſich am Kopf. Da ſagte man ihnen in 
der Schule, daß am Sonntag Pfingſtfeſt ſei, und ermahnte ſie, das 
Feſt ſtill und andächtig zu begehen. Jetzt iſt's recht, dachte Hansle 
in hellem Jubel, Pfingſtfeſt, das iſt auch ein hohes Feſt, und ein 
Pfingſtbaum gilt gerade ſo gut wie ein Chriſttagsbaum, bleib's dabei.“ 

„Du,“ flüſterte er dem Rösle in lauterer Freude zu, die heute 
nicht mit auf die Waide konnte, weil ſie im Armenhaus putzen helfen 
mußte, „Du, aber am Pfingſttag wird's ſchön, gib acht, da mußt 
mit dem Rickele in Wald kommen. 

Rösle freute ſich ſehr, obgleich ſie ſich gar nicht vorſtellen konnte, 
was denn ſo ſchön werden ſolle. 

Es war Pfingſttag Morgen, herrlicher klarer Sonnenſchein, 
Alles ſtill, ganz ſtill, drinnen im Dörflein und draußen in Feld 
und Wald, nur die Kirchenglocken klangen hell und ſchön durch die 
ſtille Luft. Hansle hatte früh am Tag ein junges Tannenbäumchen 
aus dem Wald geholt, das putzte er jetzt prächtig auf mit ſeinen 
rothen Aepfeln und bunten Streifen, und meinte, ſo ſchön wie das 
könne es doch auf der Welt nichts mehr geben, „und am hellen Tag 
iſt's ja erſt noch viel ſchöner als bei Nacht,“ dachte er triumphirend. 


Das Bäumlein im Walde. 115 


Jetzt hörte er hinter dem Baum Rösle mit der Kleinen: 
„Sachte!“ kommandirte er, „jetzt kommt Ihr, Du macht aber die 
Augen zu, und läßt auch das Rickele noch nicht hergucken; es ſteht 
noch nicht ganz feſt, wenn ich dann ſchrei: „muſch!“ ſo guckt 
Ihr her.“ 

Das Rösle, jo neugierig fie war, folgte willig und ſetzte ſich 
mit der Kleinen etwas abgewendet vom Baum; nur ein klein, klein 
wenig hatte ſie geſehen, daß da etwas ganz Schönes ſein müſſe. 

„Muſch!“ rief jetzt Hansle; da ſtand ſein Bäumchen in der 
dunkeln Höhlung hell und licht in jungem Tannengrün, und die rothen 
Aepfel, die gefärbten Nüſſe und die bunten Streifen, alles glänzte 
zuſammen, daß es eine helle Pracht war. „Ah, ah!“ rief Rickele 
einmal über das andere, „wie ſchön, wie ſchön!“ klatſchte in die 
Händchen und wollte an dem Bäumchen ſchütteln, was Hansle aber 
nicht zugab, und zeigte eine ſolche Luſt und Glückſeligkeit, daß der 
glückliche Hansle aus vollem Herzen hinausſang: 

Und es hat mich noch nie gereut, 
Daß ich kein König bin! 

„Aber 's iſt Pfingſttag,“ mahnte Rösle, als die Luſt ſich ein 
wenig gelegt hatte, „wir müſſen auch ein Feſtlied ſingen.“ 

Rösle hatte eine ſchöne Stimme, Hansle war ohnehin ein Haupt- 
ſänger, ſo ſtimmten ſie denn an: 

| O heiliger Geiſt kehr bei uns ein 
Und laß uns deine Wohnung ſein. 

Das Rickele mit feinem feinen Stimmlein fang auch mit, wäh- 
rend ſie kein Auge von ihrem ſchönen Bäumlein abwandte; — das 
war die Pfingſtandacht der drei verlaſſenen Kinder. 


116 Das Bäumlein im Walde, 


Das Bäumlein ſtand ſo hübſch feſt in der weichen ſchwarzen 
Walderde, daß Hansle ſogar hoffte, es werde ganz anwachſen und 
werde ein großes Wunder ſein, wenn aus der alten Eiche eine er 
junge Tanne emporwachſe. 

Dies Wunder geſchah nun zwar nicht, aber das Bäumchen blieb 
doch recht lange grün und friſch in dem feuchten Grunde, ſo daß 
Rickele noch oft feine Freude daran haben konnte. Hansle hütete 
und bewachte das Bäumlein wie feinen Augapfel, und war auch fo 
glücklich, daß keiner der muthwilligen Buben ſeinen heimlichen Schatz 
entdeckte. Rickele durfte nur nach und nach die ſchönen Aepfel vom 
Bäumlein pflücken, und wenn ſpäter Hansle etwas Gutes oder 
Schönes bekam, ſo wurde es richtig an das Bäumlein gehängt, ſo 
daß die Kleine immer in heimlicher Erwartung mit der Schweſter 
hinaustrippelte. Wie manches fröhliche Feſt feierten da noch die Kin⸗ 
der in der tiefen Waldſtille! ſo glücklich in dem Glücke der Kleinen, 
daß Hansle das Fragen und Rösle das Weinen vergaß. 


II. 


Zwei Winter und zwei Sommer waren über das Dörfchen hin⸗ 
gezogen und über das ſtille Plätzchen am Eichbaum; das Bäumchen 
ſtand auch in der Höhlung, aber die grünen Nadeln waren abgefallen 
und nur ein paar verbleichte Papierſtückchen hingen an den untern 
Aeſten. Selten, gar ſelten fanden ſich noch die Kinder zuſammen; 
nur Hansle allein lag oft traurig davor und dachte wie es doch da⸗ 
mals noch ſo ſchön geweſen ſei. 


Das Bäumlein im Walde. 117 


Es war anders geworden mit den Kindern. Den Leuten war 
nachgerade doch der Gedanke gekommen, daß Rösle ein großes Mäd⸗ 
chen ſei, das mehr thun könne und mehr lernen müſſe, als das 
Schweſterchen hüten. So kam ſie als Kindsmagd zu einer Bäurin, 
wo ſie ein Hemd und ein paar Schuhe als Jahreslohn bekam; die 
Kleine aber kam zu einem alten Weib, die fie gegen das wohlfeilſte 
Koſtgeld nehmen wollte. Rösle hatte mit tauſend Thränen gebeten, 
das Schweſterlein doch bei ihr zu laſſen; das ging nun einmal nicht 
an, obgleich es die Leute nicht ſchlimm mit ihr meinten; die junge 
Bäurin ſagte, ſie habe ſelbſt Kinder genug und die Alte brauchte das 
Rösle nicht. | 

Da war denn das einzige Glück des armen Mädchens, wenn 
ſie mit den Kindern der Bäurin, von denen ſie zwei im Wägelchen 
führte und ein's auf dem Arm trug, auf die Balken ſitzen konnte, die 
dem kleinen Häuschen der alten Bäurin gegenüber lagen. Da ſah 
fie hinüber und hinüber, bis ihr Rickele hervorkam und bei ihr blei- 
ben durfte; es konnte ſchon ein Bischen helfen die Kleinen im Wägel⸗ 
chen hin⸗ und herſchieben und Rösle theilte jeden erſparten Biſſen 
mit ihr; es war eine rührende Liebe zwiſchen den zwei verlaſſenen 
Kindern, eine Liebe, wie wir ſo oft vergebens ſuchen bei Geſchwiſtern, 
die goldne Tage miteinander im Elternhaus verleben könnten. 

Die alte Bäurin war eben nicht bös gegen Rickele; ſie hatte 
das kleine Ding ſogar lieb; aber ſie verſtand nicht, mit einem Kind 
umzugehen, es zu unterhalten oder zu beſchäftigen und dann war ſie 
ängſtlich, es mit andern Kindern fortzulaſſen. So hatte die Kleine 
meiſt eine trübſelige Zeit in der dumpfigen Stube der Alten. „Rickele 

wirf nichts hinunter,“ „Rickele, verdirb nichts,“ „Rickele, laß mein 


118 Das Bäumlein im Walde. 


Spinnrad ſtehn,“ waren oft die einzigen Worte, die die Kleine am 
ganzen Tage hörte. | 
Am trübſeligſten von Allen war aber dem armen Hansle zu 
Muth, als er an einem ſonnenhellen Pfingſttag allein, ganz allein 
draußen vor ſeinem alten Chriſtbaum lag. Vor ein paar Tagen 
hatte man ſeinen Vater begraben und kein Büblein auf der weiten 
Welt konnte verlaſſner fein als der arme Knabe. Was ſollte aus 
ihm werden, wo würde man ihn hinſchicken? wer in aller Welt 
würde ſich nur noch um ihn bekümmern? Ach wie viel hatte der 
Fragenhansle bei ſich ſelbſt zu fragen, und Niemand war da, der 
ihm antwortete; es war ihm, als ſei die Welt ausgeſtorben. Rösle, 
ſonſt ſeine Vertraute, die mußte daheim ihre Kinder hüten; das kleine 
Rickele durfte gar nicht mehr zu ihm heraus, er wußte nichts mehr 
zu thun, als recht bitterlich zu weinen. Da hörte er hinter ſich 
laufen und keuchen. „Hannesle!“ rief es mit einer faſt athem⸗ 
loſen Stimme, „aber Hannesle!“ Er ſah ſich um, es war Rösle 
ſchon in ihrem Sonntagsanzug mit halbgeflochtnen Zöpfen und 
glühendrothem Geſicht, aber ganz ſtrahlend vor Freude. „Aber Han⸗ 
nesle!“ rief ſie noch einmal und ſank erſchöpft vom Springen auf 
den Raſen. „Was iſt's, Rösle? was haſt?“ fragte der erſtaunte 
Hansle; ſo hatte er das Rösle nie geſehen, ſie war ſonſt immer fein 
ſachte und ſtet. „Was gibt's, Rösle?“ fragte er wieder, „iſt Dein 
Rickele krank? Schickt Dich die Bäurin fort? warum lachſt ſo?“ 
Jetzt hatte Rösle Athem gefunden. „Mein Vater iſt da,“ ſtieß ſie 
heraus, „mein Vater!“ wiederholte ſie jubelnd; „aber die Mutter iſt 
todt,“ fügte ſie traurig hinzu. „Was, Dein Vater?“ jetzt ging das 
Fragen los beim Fragenhansle: „wo kommt er her?“ warum kommt 


Das Bäumlein im Walde, 119 


er? hat er Euch damals mit Willen zurückgelaſſen? nimmt er Euch 
mit?“ — „Ich muß wieder heim,“ ſagte das glückſelige Rösle, die 
ſich jetzt wieder erholt hatte, „bin ja noch nicht einmal geflochten, 
aber ich hab' Dir's ſagen müſſen, gelt, mein Vater!?“ Und auf 
dem Heimweg erzählte ſie ihm die ganze merkwürdige Geſchichte. 

Der Küfer Matthes hatte leider wohl gewußt, was er that, als 
er es bei der Abfahrt ſo richtete, daß ſeine Kinder zurückgeblieben 
waren; er hatte ſich gedacht, er könne drüben viel leichter und beſſer 
ſein Fortkommen finden, wenn er frei ſei; die Kinder müſſe man ja 
doch daheim verſorgen, und wenn es ihm gut gehe, könne er fie im⸗ 
mer noch nachholen. Sein Weib aber ließ ſich nicht fo leicht beruhi- 
gen und tröſten. „Meine Kinder, meine Kinder!“ rief ſie in ver⸗ 
zweifeltem Jammer; Tag für Tag, in Sonnenſchein und Regen ſaß 
ſie auf dem Verdeck und ſah nach der Seite hin, wo ſie dachte, daß 
daß Land ſei mit ihren verlaſſenen Kindern. 

Auch drüben ging es mit dem Fortkommen ſo leicht nicht, ob- 
gleich ſich's Matthes ſauer werden ließ und ein vortrefflicher Arbeiter 
war. „Es iſt kein Segen in all unſrem Thun,“ ſagte das Weib, 
die krank war ſeit der Abreiſe; „es iſt der Unſegen, den wir an unſern 
verlaſſenen Kindern verſchuldet, o mein Rickele, mein kleines Rickele!“ 

Die arme Mutter ſollte ihr kleines Rickele nicht mehr ſehen; 
ſie ſtarb ein halbes Jahr nach der Ankunft in Amerika. Matthes, 
deſſen Herz von aufrichtiger Reue erfüllt war, verſprach heilig in 
ihre ſterbende Hand, daß er die Kinder alle holen wolle, ſo bald es 
ihm möglich ſei, und ihnen ein treuer Vater ſein. 

Es war, als ob die treue Mutter im Himmel um Segen für 

ihn bitte, ſo war jetzt ein Gelingen und Gedeihen in Allem, was er 


120 Das Bäumlein im Walde. 


that. Er ging tiefer in's Innere von Amerika, wo Arbeiter ſehr 
geſucht und theuer bezahlt ſind; er nahm Dienſte auf einer Farm, 
und da er arbeiten konnte für Drei, auch ſonſt eine geſchickte Hand 
beſaß, ſo hatte er in kurzer Zeit ſo viel erworben, als er gebraucht 
hätte, um ſeine Kinder zu holen. Es war nicht Untreue, wenn er 
ſein Verſprechen nun doch nicht gleich erfüllte. Seit dem Tode 
ſeines Weibes hatte er ſich in dem fremden Welttheil unbeſchreiblich 
allein gefühlt; er empfand ein tiefes, ſchmerzliches Heimweh nach 
ſeinen Kindern und wollte ſie nicht nur holen, ſondern auch bei ſich 
behalten können. Das konnte er aber am beſten, wenn er ein eignes 
Beſitzthum erwarb, und mit unerhörten Anſtrengungen hatte er es 
denn nun ſo weit gebracht; er war nun gekommen, um ſein heiliges 
Wort zu löſen. 

„Und denk nur, Hannesle,“ erzählte das glückſelige Rösle weiter, 
„jetzt kauft der Vater ein eignes Gut, eine Farm heißt man's und 
das Haus drin heißt man ein Blockhaus, und da bleiben wir Alle 
beiſammen und haben eigne Gäns und Schweine und Aecker, und ich 
glaub' auch Gäule.“ 

So kamen die Kinder zuſammen in's Dorf zurück; da kam 
ihnen Matthes entgegen, ſtattlich wie ein Herr gekleidet, das Rickele 
auf dem Arm, die ſich noch halb fürchtete vor dem Vater, den es 
gar nicht mehr gekannt; ein Trupp Dorfkinder folgte ihm neugierig 
in einiger Entfernung, auch die Alten lugten da und dort aus den 
Fenſtern, wo er ſich zeigte. 

„Guck, Hannesle, das iſt der Vater!“ rief Rösle, „und das iſt 
der Hannesle, Vater, der ſo brav gegen uns geweſen iſt, und hat 
dem Rickele ſo ein ſchön's Bäumlein gemacht“ — „und Aepfel geben 


Das Bäumlein im Walde. 121 


und Nüß,“ fügte das Rickele hinzu; die Mädchen wurden gar nicht 
fertig mit Aufzählung von Hansle's Verdienſten und der Vater ſchenkte 
ihm zum Mitbringet einen ſchönen neuen Thaler. 

Aber Hansle konnte ſich nur halb freuen über das Geſchenk und 
über das Glück ſeiner kleinen Freundinnen; was half ihn der Thaler, 
wenn er ſich jetzt ausdingen und herumſchieben laſſen mußte, und die 
Mädchen durften nach Amerika, wohin immer ſeine höchſte Sehnſucht 
ſtand; ach warum war ſein Vater nicht auch nach Amerika gegangen, 
vielleicht lebte er dann noch und könnte ihn holen! 

Rösle aber verſtand wohl die Gedanken ihres Kameraden; 
„Vater,“ ſagte ſie, als ſie allein mit dieſem war, der ſich gar nicht 
genug freuen konnte über ſeine Kinder, „Vater, wenn wir gehen, 
ſollteſt den Hannesle auch mitnehmen; Du glaubſt nicht, wie brav 
der iſt, und ſo geſchickt, er kann Alles.“ Und auf's Neue erzählte 
ſie alles, was Hansle ihr und dem Rickele Liebes und Freundliches 
erwieſen hatte. 

Matthes, deſſen Herz ſo weich und glücklich war, konnte nichts 
abſchlagen; „in Gottes Namen,“ ſagte er, „drei Buben ſind noch 
nicht zu viel auf meine Farm; gibt Arbeit für alle, und deine Mutter 
ſelig hat noch auf dem Todtenbett zu mir gejagt: Matthes, hat fie 
geſagt, wer unſern armen Kindern Lieb's gethan hat, dem vergelt es, 
wenn Du kannſt, und ich hab's ihr verſprochen.“ 

An dem Morgen, wo Hansle wußte, daß Matthes mit ſeinen 
Mädchen abreiſen wollte, ſaß er traurig und verdroſſen in dem Hir⸗ 
teuhäuschen, das er nun bald verlaſſen mußte. „Soll ich Abſchied 

nehmen von den Mädchen, oder ſoll ich nicht?“ fragte er ſich, wenn 
g ich's thu', ſo muß ich heulen, und heulen iſt eine Schand,“ ſagte er 
nl 


122 Das Bäumlein im Walde. 


für ſich; ſo blieb er, und doch hätt' er ſie gern noch geſehen, die 
Glücklichen, die nach Amerika durften! 15 

„Hannesle!“ rief es jetzt wieder, und freudeſtrahlend wie am 
Pfingſttag trat Rösle ein, vom Vater neu und ſauber gekleidet; 
„Hannesle, richt' Deine Sachen, der Vater nimmt Dich mit!“ 

„Iſt's wahr? heideldumdei!“ rief Hansle glückſelig und machte 
Sätze faſt haushoch, vor lauter Freude, „nun vergelt's Gott Dei'm 
Vater, und ich will ihm was nutz ſein, ich will ſchaffen, ich!“ 

Hansle's Habſeligkeiten waren bald gepackt; die Gemeinde gab 
Matthes einen kleinen Reiſebeitrag für ihn, und faſt von jedem Haus 
im Dorf bekam er noch ein kleines Abſchiedsgeſchenk, ſo daß er ſich 
reich wie ein König vorkam und Matthes ihm in Heilbronn noch 
einen guten Anzug kaufen konnte. 

Diesmal trug Matthes gute Sorge, daß ſeine Kinder ſicher in's 
Schiff kamen. Gott gab ihnen gute Winde und glückliche Fahrt, ſo 
daß die ganze kleine Heerde wohlbehalten drüben ankam. 

Ob Hannesle Alles ſo ſchön und herrlich in Amerika gefunden, 
wie er ſich's vorgeſtellt, das kann ich in der That nicht ſagen; gewiß 
aber iſt, daß es ihm gut drüben ging, daß er ein treuer, guter Freund 
für Matthes Kinder und zuletzt ſelbſt der Beſitzer einer ſchönen Farm 
wurde und daß ihm ſo jenes Tannenbäumchen im Wald gute Früchte 
getragen hat. 

Ob er noch der Fragenhansle iſt, weiß ich nicht; ich hörte aber 
ſeine liebſte Frage ſei an ſeine Frau: „Gelt, Rickele, wir haben's gut?“ 


I. 
Vom Hirſchlein mit den Goldhörnern. 


Es war einmal eine arme Frau, die wohnte allein draußen am 
Walde mit ihren Kindern; und fie war fo arm, daß fie einmal die- 
ſen kein Veſperbrod mehr geben konnte. „Geht hinaus in den Wald,“ 
ſagte ſie zu ihnen, „vielleicht könnt ihr Himbeere finden.“ Da gingen 
ſie hinaus, das Brüderlein und das Schweſterlein, und ſuchten lange, 
und konnten keine Beeren finden; ſie waren ſehr müde und hungrig 
und ſetzten ſich, und das Brüderlein fing an zu weinen. Da glänzte 
es in den Büſchen, und ſie ſahen ein ſchneeweißes Hirſchlein mit 
einem ſchönen goldnen Geweih. Das blieb aber nicht weit von ihnen 
ſtehen, und das Büblein rief: „oh, ich will's fangen!“ Wie es aber 
dem Hirſchlein näher kam, ſprang das wieder davon, immer nur ein 
wenig, ſo daß ihm die Kinder beide nachſprangen und meinten, ſie 
wollten es fangen. So kamen ſie bis an das Ufer von einem breiten 
Waſſer, das ſie noch nie im Walde geſehen hatten, an dem Waſſer 
blieb das Hirſchlein ſtehen. „Ich reit' darauf!“ rief das Büblein, 


126 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


das muthig war; es ſetzte ſich auf das Hirſchlein und hielt ſich feſt 
an ſeinen goldnen Hörnern. Das Hirſchlein ſprang geſchwind in's 
Waſſer und ſchwamm mitten durch; das Schweſterlein drüben ſchrie 
laut auf, das Büblein aber lachte, das Waſſer war gar nicht tief 
und es wurde nur an den Füßen ein wenig naß. 

Drüben ſtand das Hirſchlein ſtill, bis das Büblein herunter 
ſtieg; dann ſchwamm es wieder herüber auf die andre Seite, wo das 
Schweſterlein ſtand; „komm' auch herüber!“ rief das Brüderlein. „Ich 
ſollt's nur thun!“ dachte das Mägdlein und ſetzte ſich auf das ſchöne 
weiße Thier und hielt ſich an den goldnen Hörnern und fürchtete ſich 
gar nicht mitten durch's helle Waſſer. Als es drüben war, ſprang 
es herunter und die zwei Kinder ſahen einander an und lachten; es 
war da kein Wald mehr, nur eine ſchöne grüne Wieſe und kam ihnen 
alles viel ſchöner und wunderbarer vor als drüben auf dem Ufer, von 
dem ſie herkamen. Das Hirſchlein aber ſprang voraus und die 
Kinder ſprangen ihm nach, bis ſie an ein ſchönes Schloß kamen von 
ſchneeweißem Marmorſtein. Vor dem Schloß war ein ſchöner Wie⸗ 
ſengrund, auf dem allerlei Thiere weideten, zu denen ging das Hirſch⸗ 
lein. Die Kinder aber ſtiegen leiſe und ſchüchtern die breite, ſchöne 
Treppe hinauf; ſie ſahen da keinen Menſchen, ſie waren ſo ſehr müde 
und hungrig, ſie hätten nur gern ein Stückchen Brod gehabt. 

Oben ſtand ein Zimmer offen, da gingen ſie hinein; es war 
kein Menſch drinnen, aber in der Mitte ſtand ein Tiſchchen und zwei 
weiche gepolſterte Stühlchen dabei; auf dem Tiſchchen ſtanden köſtliche 
Speiſen, Biskuit und Himbeerſaft; die Kinder ſahen ſich um, ob ſie 
niemand erblickten; es gelüſtete fie fo ſehr nach den guten Sachen, 
aber ſie wollten nichts nehmen ohne Erlaubniß. Endlich ſagte das 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 127 


Büblein: „Hör', Schweſterlein, das iſt ja ganz wie für uns herge- 
richtet,“ und ſie fingen an zu eſſen und ließen ſich's ſchmecken, bis ſie 
ganz genug hatten. Jetzt waren ſie aber ſo müde, daß ſie faſt vom 
Stuhle fielen; ſie kamen in ein Nebenzimmer, da ſtanden zwei weiche 
ſchöne Bettchen, ſchneeweiß mit roſenrothen Decken. Die Kinder waren 
ſo müd, ſo müde, daß ſie nicht mehr lange fragen konnten; ſie zogen 
ſich aus und legten ſich in die Bettlein. Ah, wie war das ſo gut! und 
wie herrlich ſchliefen ſie die ganze Nacht bis zum lichten Morgen. 
Sie wußten gar nicht, wo ſie waren, als ſie aufwachten; ſie 
wollten ſich ankleiden; da lagen aber ſtatt ihrer alten zerriſſenen 
Kleider ſchöne neue an ihrem Bett, die mußten ſie anziehen; ſie 
hatten ja keine andern. Wie ſie heraus kamen in die große Stube, 
ſo ſtand da wieder das Tiſchlein und waren ſchöne vergoldete Taſſen 
darauf und Chokolade und Kuchen. Die Kinder dachten nun ſchon, 
daß es für ſie gerüſtet ſei, und ließen ſich's herrlich ſchmecken. 
Sieh', da ging auf einmal die Thür auf und kam eine ſchöne 
Frau herein in ſchwarzen Kleidern; nun erſchraken die Kinder doch, 
daß ſie ſo da ſaßen und ſich's wohl ſein ließen. Die Frau grüßte 
ſie aber freundlich und ſagte: „bleibt nur, Kinder; mein Hirſchlein 
bringt mir nur gute Kinder und die behalte ich gern in meinem 
ſchönen Schloß. Gefällt es euch bei mir?“ 
„O freilich!“ rief Brüderlein und Schweſterlein mit einander. 
„Wollt ihr immer bei mir bleiben?“ fragte die ſchöne Frau. 
„Ihr ſollt ſchlafen in dieſen weichen Bettchen und in dieſen ſchönen 
Zimmern wohnen und unten mit den Thierchen ſpringen und im 
Garten ſpielen und immer ſchöne Kleider haben und gute Sachen 
eſſen; wollt Ihr?“ 


128 Zwei Märchen für die Kleinsten. 


„Ja, ja!“ wollten eben die Kinder zuſammen rufen, da fiel 
ihnen ihre gute Mutter daheim ein, die jetzt wohl mit Angſt nach 
ihnen hinaus ſehen würde, und das Mägdlein fragte ſchüchtern: 
„dürfen wir nicht vorher nach Haus und unſre Mutter fragen?“ 
„Nein,“ ſagte die Frau. „Wer bei mir bleiben will, der muß gleich 
da bleiben; wenn ihr zu eurer Mutter wollt, ſo gehet nur fort, da 
drinnen liegen eure ſchlechten Kleider, die könnt 1 vorher anziehen 
und gehen.“ 

Die Kinder ſahen ſich betrübt an; es war ſo gar ſchön da, 
und daheim ihre Hütte ſo klein und ſo arm. Aber ſie dachten an 
die liebe Mutter, wie die ſo traurig ſein werde und ſo allein, wenn 
ihre Kinder nicht mehr kommen, und ſie ſagten miteinander: „wir 
danken, liebe Frau, unſre Mutter iſt ſo allein und würde ſo weinen 
um uns;“ und recht betrübt gingen ſie hinein, um die ſchönen Klei⸗ 
der wieder auszuziehen. 

Da rief die Frau: „ſeht euch noch einmal um!“ ſiehe, da ging 
eine Thür auf und wer kam herein — ihre Mutter; und mit lauter 
Lachen und Freude ſprangen ihr die Kinder entgegen und küßten ſie. 

Die Frau aber lächelte freundlich und ſagte: „Seht, ich wollte 
nur wiſſen, ob ihr auch gute Kinder ſeid; nun erſt dürft ihr bei mir 
bleiben und eure liebe Mutter mit euch.“ 

Da waren die Kinder in lauter heller Freude, und führten die 
Mutter in das ſchöne Zimmer, wo ſie geſchlafen hatten und zeigten 
ihr alles, wie es ſo ſchön war. 

Die arme Frau aber ſagte: „Liebe Frau Fee oder Frau Königin, 
für alle Tage iſt es da gar zu ſchön für mich und meine Kinder, 
und wenn ſie alle Tage Kuchen und Chokolade haben, ſo wird es 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 129 


ihnen nicht mehr ſchmecken. Ihr Hirſchlein hat mich durch den 
Garten heraufgetragen; da habe ich ein ſchönes kleines Häuslein ge— 
ſehen; wenn das leer iſt, ſo laſſen Sie uns darin wohnen. Dann 
wollen wir fleißig arbeiten miteinander in Ihrem ſchönen Garten, 
Rund wenn Sie erlauben, jo ſollen Sie die Kinder oft beſuchen in 
Ihrem Schloß und ſich freuen an den ſchönen Sachen.“ 

Das war der Fee auch recht; und die Kinder und die Mutter 
wohnten beiſammen im Garten und arbeiteten und lernten und ſpiel⸗ 
ten und ritten ſpazieren auf dem weißen Hirſchlein und waren glück 
lich und vergnügt zuſammen ihr Lebenlang. 


Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 9 


N. 
Das Puppen land. 
Die Reife in's Puppenland. 


Ihr habt vielleicht ſchon einmal eine Geſchichte von Schneeweiß⸗ 
chen und Roſenroth gehört. Die zwei kleinen Mädchen, von denen 
ich Euch erzählen will, haben auch ſo geheißen. Das Schneeweißchen 
war ein ſanftes, liebes Kind, etwas bleich, aber freundlich, und trug 
am liebſten weiße Kleidchen, die ſie auch ſchön rein und zierlich er⸗ 
hielt. Roſenroth war wild und luſtig, hatte rothe Wangen und 
braunes Lockenhaar; ſie trug gern rothe, farbige Kleider, ſie plagte 
und neckte auch oft ihr Schneeweißchen und verderbte ihm ſeine 
Spielſachen. f 

Einmal bekamen die Mädchen zu Weihnachten ganz wunder⸗ 
ſchöne Puppen, die hatten Lockenköpfe und feine Wachsgeſichter 
und konnten die Augen ſchließen. Roſenroths Puppe hatte ein Kleid⸗ 
chen von roſa Seide; Schneeweißchens war in weißen Flor gekleidet, 
ſie ſchonte ſie gar ſorgfältig, legte ſie in weiche Bettchen und deckte 
bei Nacht ihr Geſicht mit feinen Tüchlein zu. Roſenroth aber ſpielte 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 131 


immerfort mit der ihrigen, ließ ſie in allen Ecken liegen und bald war 
das ſchöne Geſichtchen zerſtoßen und das Kleidchen beſchmutzt und 
zerriſſen; Schneeweißchens Puppe, die ſie Blanka getauft hatte, war 
aber noch ganz weiß, ſchön und rein. 

Wie nun Schneeweißchen eines Abends mit der Mutter im 
Garten war, und ihr die Blumen begießen half mit einer kleinen 
grünen Gießkanne, ſpielte das wilde Roſenroth mit andern ausge⸗ 
laſſenen Mädchen hinten im Hofe. „Wo haſt Du denn Deine neue 
Puppe?“ fragten die Geſpielen. Roſenroth ſchämte ſich, ihre verdor- 
bene Puppe zu zeigen, ſo holte ſie Schneeweißchens ihre, die wieder 
ganz niedlich eingebettet lag und die Mädchen bewunderten ſie ſehr. 
„Sie muß mit uns Ringe Reihen ſpielen!“ riefen die wilden 
Dinger, und tanzten mit der Puppe herum, ließen ſie ein paarmal 
fallen, ſtießen ſie an, und bald ſah die ſchöne Blanka ſo ſchmutzig 
und zerſtoßen aus wie vorher ſchon die Roſa im ſeidnen Kleid ge⸗ 
worden war. 

Roſenroth that es jetzt leid. Sie ſchämte ſich, daß ſie der Schweſter 
ihre liebe Puppe ſo verdorben hatte und fürchtete, die Mutter werde 
ſchelten. So ſchob ſie ganz heimlich die verdorbene Blanka wieder in 
ihr Bettchen und legte ſich ſelbſt bald zur Ruh. 

Ehe Schneeweißchen ſchlafen ging, ſah ſie immer vorher noch 
nach ihrer lieben Puppe. Aber, o weh, wie erſchrack ſie, als ſie die 
ſo ſchmutzig und zerſtoßen in ihrem Bettchen liegen ſah! Sie dachte 
wohl, daß das Roſenroth gethan habe, aber ſie wollte nicht Streit 
anfangen und wollte ſie auch nicht bei der Mutter verklagen; ſo nahm 
ſie denn ihr armes Puppenkind mit ſich zu Bette und ſchlief ein 
unter bitterlichem Weinen. | 


188 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


Es war mitten in der Nacht, alles war ſtill und ſchlief. Da 
war es Schneeweißchen, als ob ihr etwas leis in's Ohr flüſtere: 


Schneeweißchen, komm heraus, 
Komm mit mir aus dem Haus! 


Sie blickte auf, fie wußte nicht recht, ob fie wach oder im Traum 
war; aber ſieh da, ihre Puppe war aufgeſtanden, ſie ſtand neben 
ihrem Bett und winkte ihr mit ihrem kleinen Fingerchen. Schnee⸗ 
weißchen fürchtete ſich gar nicht, es war ſo wunderbar. Schnell 
ſchlüpfte ſie in ihr Kleidchen und folgte der Puppe, die ihr voraus 
ging bis auf den Raſenplatz vor dem Hauſe. Dort ſagte ſie mit 
feiner Stimme zu ihr: „Schneeweißchen, an meinem Halſe hängt ein 
Glöcklein, mit dem läute, und ſage dazu: 


Glöcklein, Glöcklein kling, kling, kling, 
In das Puppenland uns bring. 


Wirklich entdeckte Schneeweißchen ein kleines, ganz feines Glöck⸗ 
chen, das an einem ſeidnen Bändchen um den Hals der Puppe hing; 
ſie läutete damit und ſprach die Worte. 

Siehe, da kam durch den ſternhellen, mondklaren Himmel in der 
Luft her ein kleiner, ſchöner Wagen, von acht weißen Täubchen gezo⸗ 
gen; der ſenkte ſich herab auf die Erde, gerade vor Schneeweißchen 
und die Puppe. „Steig ein!“ rief Blanka, und Schneeweißchen ſetzte 
ſich neben ſie; da flogen die Täubchen auf, und raſch davon durch 
die Luft. Schneeweißchen hielt ſich feſt an der Puppe und am Wagen; 
ſie fielen aber nicht hinten hinab, wie ſie gefürchtet; das ſchöne Wä⸗ 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 133 


gelchen blieb hübſch gerade in der Luft. Wie das zugegangen, kann 
ich nicht ſagen, und die Täubchen flogen damit hoch hinauf und weit 
hinaus, bis ſie endlich ſachte ſich niederließen, wie es ſchon früher 
Morgen war und eben die Sonne heraufſtieg. 

Da lag vor ihnen eine Stadt, die war ringsum mit ſchnee⸗ 
weißen Mauern umgeben, die waren aber nicht ſehr hoch, Schneeweißchen 
konnte faſt darüber wegſehen; fie ſtanden vor einem zierlich ausge⸗ 
ſchnitzten Thor, daran klopfte die Puppe Blanka und rief mit ihrem 
feinen Stimmchen: 


„Macht auf, macht auf, macht auf das Thor! 
Ich und Schneeweißchen ſtehn davor.“ 


Als das Thor nicht gleich aufging, klopfte ſie noch einmal: 


„Macht auf das Thor, ich bitt, ich bitt! 
Ich bringe das Schneeweißchen mit.“ 


Immer noch ging das Thor nicht auf, da wurde die Puppe unge⸗ 
duldig, ſie klopfte zum drittenmale und rief: 


„Schneeweißchen iſt ein liebes Kind, 
Macht auf das Thor geſchwind, geſchwind!“ 


Da ging denn das Thor auf und ſtand eine nette Puppe davor 
in einem weißen Häubchen, blauen Kleid und ſchwarzen Schürzchen; 
die hatte einen zierlichen Bund mit vielen kleinen Schlüſſelchen an 
ſich hängen. Es war eine große Puppe, aber Schneeweißchen kam 
ſich doch neben ihr wie eine Rieſin vor. 


134 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


„So, Blanka,“ ſagte die Pförtnerin, „Du ſiehſt betrübt aus, 
hat Dich das Mädchen da ſo verdorben?“ 

„Nein, o nein,“ ſagte Blanka, „die hat mich lieb gepflegt und 
geſchont, deshalb habe ich fie mit mir genommen; nun wollen wir 
ihr nur unſre ſchöne Stadt zeigen, ehe ich in's Badehaus gehe.“ 
„Aber wo kann ſie wohnen, ſie iſt ſo groß, faſt wie die Königin?“ 
fragte die Pförtnerin. „O, vielleicht bei der Königin ſelbſt, komm 
nur, Schneeweißchen, Du darfſt nun bei uns bleiben.“ 


Die Puppenſtadt. 


So war alſo Schneeweißchen inmitten der Puppenſtadt. Das 
war eine ſo wunderbare Stadt, daß ihr immer noch war als ſei ſie 
im Traum; Häuſer waren da, große und kleine; niedliche Häuschen 
mit Zimmern und Küchen, gerade ſo groß wie Schneeweißchens Pup⸗ 
penſtube daheim, und immer größere. Das Schloß der Königin war 
faſt ſo groß wie ein rechtes ordentliches Bauernhäuschen, aber prächtig 
und zierlich gebaut mit Säulen und Thoren, und Fenſtern von far⸗ 
bigem Glas: noch vier große Paläſte, ſo groß wie das Schloß der 
Königin, aber nicht ſo ſchön gebaut, waren da; das eine war das 
Badehaus, da werden die armen Puppen hingeſchickt, die vor Weih⸗ 
nachten aus allen Gegenden herkommen, ohne Kleider, oder mit zer⸗ 
riſſenen Kleidern, mit zerſtoßnen Naſen oder gar ohne Kopf; die 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 135 


gehen in's Badehaus. Was da mit ihnen geſchieht, das weiß kein 

Menſch; aber nach einigen Tagen kommen ſie wieder hervor friſch, 
ſchön und blank, mit neuen Kleidchen und neuen Geſichtern, und die 
gute Königin ſendet ſie auf's Neue aus in alle Lande, um die Kinder 
zu erfreuen weit und breit. Die drei andern großen Gebäude hießen 
das Marzipanhaus, der Spielpalaſt und das Kleiderſchloß, die bekam 
Schneeweißchen nachher zu ſehen. 

Was für prachtvolle Puppen wandelten in den Straßen dieſer 
wunderſamen Stadt! Damen, in ſeidnen und Florgewändern, nied- 
liche Bauernmädchen in rothen und blauen Miedern, und Röckchen 
mit farbigen Bändern beſäumt; weißgekleidete Schäferinnen mit roſen⸗ 
rothen oder himmelblauen Bändern geſchmückt, weideten ſchneeweiße 
Schafe in grünen Moosgärtchen; dazwiſchen waren denn auch freilich 
ganz gewöhnliche Puppen, wie man ſie auf dem Weihnachtsmarkt 
ſieht, in Kattunkleidchen, mit ſteifen Armen und Füßen und etwas 
einfältigen, glänzenden Geſichtern. Gar ſchöne Schlöſſer und Burgen 
waren in der Puppenſtadt, Blumengärten, Kaufläden, Apotheken und 
Putzmagazine, und die niedlich eingerichteten kleinen und großen Zim— 
mer alle! Die Schlafzimmer, wo die feinen Puppenkinder, groß und 
klein, unter grün ſeidnen Decken ſchliefen! Es war eine Pracht und 
Fülle von niedlichen Puppenſachen, wie Schneeweißchen fie nie ges 
träumt. 

Nun wurde Schneeweißchen zu der Königin geführt; das war 
die größte aller Puppen, noch größer als Schneeweißchen ſelbſt; ſie 
ſaß auf einem goldnen Thron, hatte ein weißes Atlaskleid an mit 
goldnen Sternen beſät, darüber einen blauen Sammtmantel mit Gold 
geſtickt und unter ihrem goldnen Krönchen einen langen Schleier von 


136 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


Goldflor. Ihr Geſicht war gar fein und ſchön, freundlich und hold⸗ 
ſelig, wie das eines Kindes, von ſchönen, goldblonden Locken einge⸗ 
faßt. Sie war ſehr freundlich gegen Schneeweißchen, weil ihr Blanka 
geſagt, daß ſie ein gutes Kind ſei, das ſeine Puppen nicht plage und 
nicht verderbe. | 

Bei der Königin durfte Schneeweißchen auch wohnen und an 
einem zierlichen Tiſchchen ſpeiſen. Aus dem Marzipanhaus wurde 
das Eſſen für die Königin geholt; dort waren Zimmer voll von köſt⸗ 
lichem Konfekt, guten Speiſen, ſüßen ſaftigen Früchten und feinen 
Marzipanfiguren. Schneeweißchen war unter lauter Wundern: „ſag' 
mir nur,“ fragte ſie Blanka, „warum leben und reden denn hier die 
Puppen, bei uns in der Welt draußen da ſind ſie ja ganz ſtumm 
und todt, wie kommt das?“ 

„Du weißt ja,“ ſagte Blanka, „wie die Kinder draußen oft gar 
abſcheulich mit den Puppen umgehen, die man ihnen zur Freude 
geſchenkt; wie ſie ſie ſchlagen, plagen und herum werfen; denke, 
was da wir armen Puppen zu leiden hätten, wenn wir lebendig 
wären, und doch möchte unſre gute Königin gern alle Kinderherzen 
erfreuen. Ehe nun die Puppen hinausgeſandt werden zur Weihnachts⸗ 
zeit, werden ſie im Badehaus in ein klares Waſſerbecken mit Schlum⸗ 
merwaſſer getaucht; da ſchlafen ſie ein, verlieren Leben und Bewegung 
und wiſſen gar nichts mehr von allem, was mit ihnen geſchieht; ich 
allein hatte das Glöcklein um den Hals behalten, an dem ich zur 
Nachtzeit wieder aufgewacht bin. Die andern Puppen wachen erſt 
wieder auf, wenn ſie heimgebracht werden in's Badehaus.“ 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 137 


Der Abſchied. 


So ſchön es nun war im Puppenland, ſo viel Neues und Wun⸗ 
derſames Schneeweißchen alle Tage zu ſehen hatte, und ſo friedfertig 
die kleinen und großen Puppen alle zuſammen lebten, ſo verlangte 
ſie's eben doch wieder heim zu ihrer Mama, und zu ihrem Schweſter⸗ 
lein Roſenroth; auch waren ihr die guten ſüßen Speiſen faſt entleidet; 
ſie hätte gern auch einmal wieder Suppe und Gemüſe gegeſſen, und 
ſo recht wie lebendige Menſchenkinder kamen ihr die ſchönen Puppen 
doch nicht vor. Sie ſagte es der guten Königin. Die lächelte und 
ſagte: „Freilich darfſt Du heim, und Blanka kann Dich begleiten, 
wenn ſie gerne will. Nur ſoll ſie mir zuvor ein Schlummerbad nehmen; 
ihr kleinen Mädchen plaudert und lärmt ſchon genug in der Welt 
draußen, da könnt ihr nicht auch noch lebendige Puppen brauchen. 

„Führt mir das Schneeweißchen noch in's Kleiderſchloß, in's 
Marzipanhaus und in den Spielpalaſt, daß ſie für ſich und ihr 
Schweſterlein mitnimmt, was ihr gefällt,“ befahl ſie einer Dienerin 
und nahm freundlichen Abſchied von Schneeweißchen. 

Nun fuhr der ſchöne, kleine Taubenwagen vor und Schneeweiß— 
chen ſollte ſich noch auswählen, was ſie hineinpacken wollte. Da that 
ihr nun die Wahl weh! Von den wunderſchönen Puppenkleidchen, 
Hütchen, Schürzen, Schälchen im Kleiderhaus ließ ſie Fräulein 
Blanka ſelbſt auswählen, was ihr paßte; von der Königin eignen 
Kleidern bekam ſie für ſich ein neues ſchneeweißes Kleidchen, unten 
mit einer Guirlande von Roſenknoſpen geſtickt, und ein weißes Hüt⸗ 


868 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


chen mit einem Roſenkranz; für Roſenroth ein Roſakleidchen und ein 
Strohhütchen mit weißen Roſen. Nun packte ſie noch gar ſchöne 
Dinge ein aus dem Spielpalaſt und dem Marzipanhaus, wo die 
allerſchönſten Spielſachen waren, die es nur in der Welt gibt: Leg⸗ 
ſpiele und Bauſpiele, Zinnfiguren, niedliche Service, kurz alles, was 
ein Kinderherz erfreut; doch nahm ſie nicht zuviel, daß es nicht un⸗ 
beſcheiden war. 1 

Inzwiſchen hatte Blanka ihr Schlummerbad genommen, man 
ſetzte ſie zu Schneeweißchen in den Wagen; ſie war wieder ganz 
ſtill und todt, aber funkelnagelneu und lächelte in einem fort ganz 
freundlich. 

Schneeweißchen nahm noch Abſchied von all den vielen ſchönen 
Puppen, die um den Wagen ſtanden, und fort gings, auf und davon 
durch die Lüfte. 


Die Heimkehr. 


Die Mama daheim und Roſenroth waren gar ſehr traurig, als 
früh am Morgen Schneeweißchen fort war, und nicht wieder kam. 
Roſenroth wußte wohl, daß ſie oft neidiſch und unfreundlich gegen 
die liebe Schweſter geweſen war, und ihr die ſchönen Sachen verdor⸗ 
ben hatte. „O, wenn doch mein Schneeweißchen wieder da wäre!“ 
ſeufzte ſie oft, „ich wollte ja ſo gut und freundlich gegen ſie ſein, 
und ſie gar nicht mehr betrüben.“ | 


Zwei Märchen für die Kleinſten. 139 


So ſaß ſie eines Abends mit der Mutter vor dem Hauſe. Sieh', 
da kam etwas Wunderliches durch die Luft; es war größer als ein 
Ball, und war doch auch kein papierner Drache, und kein Vogel! 
„Sechs Täublein find's,“ rief Roſenroth, „da ſieh, Mutter, die ziehen 
einen kleinen Wagen!“ Und näher und näher kam das wunderbare 
Geſpann, bis es auf der Erde hielt, und wer ſprang heraus? Schnee— 
weißchen! ganz ſchneeweiß, zierlich und rein! ſie grüßte und küßte 
Mama und Schweſterlein, und fie hatten große Freude aneinander. 

Schneeweißchen nahm ihre Blanka und all die ſchönen und guten 
Sachen heraus, die noch in dem Wägelein lagen; dann flogen die 
Täublein auf und davon durch alle Lüfte. 

Wie wunderte ſich aber die Mutter und Roſenroth, als ihnen 
Schneeweißchen alles erzählte, was ſie geſehen und erlebt hatte, und 
wie ſie vollends auspackte die hübſchen Kleider für Roſenroth, all die 
guten Sachen und das ſchöne Spielzeug; Roſenroth konnte ſich gar 
nicht genug freuen und danken. Nur eine neue Puppe hatte die 
Königin dem Schneeweißchen nicht für ſie mitgeben wollen. „Deine 
Schweſter ſoll ſie nur ein wenig entbehren,“ hatte ſie geſagt, „und 
ſoll lernen ihre Sachen hübſch zu ſchonen; dann will ich zu Weih⸗ 
nachten ihre Roſa holen laſſen, damit ſie wieder ſchön und neu wird.“ 

Roſenroth war ſo glücklich, daß ſie ihr Schweſterlein wieder 
hatte, und wollte gar nicht mehr neidiſch und zänkiſch mit ihr ſein. 
So ſpielten fie in Eintracht zuſammen mit der Blanka und den an- 
dern ſchönen Sachen, und Roſenroth ging ganz fein und ſchonend um 
mit der ſchönen Puppe. 

Vor Weihnachten verſchwand denn auch die Puppe Roſa und 
kam wieder ſchön und neu, wie die Puppenkönigin verſprochen; Schnee— 


140 Zwei Märchen für die Kleinſten. 


weißchen hätte gar zu gern von ihr gehört, wie es gehe und ſtehe im 
Puppenland; aber ſie war ſtockſtill wie Blanka, kein Mu ſah 
denen an, daß ſie einmal lebendig geweſen waren. 

Die Schweſterlein legten ſie aber zuſammen, und meinten doch 
oft, ſie hören ſie bei Nacht ganz leiſe, leiſe mit einander flüſtern; 
weiß nicht, ob es wahr iſt, oder ob ſie ſich's nur eingebildet haben. 


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Das Leben in Friedenszeiten. 


Unweit der ſchwäbiſchen Grenze liegt das ſtattliche Schlößchen 
Hochheim, das der alte Baron bewohnte. Seine zwei Enkel, Hans 
und Oskar, hatten da eine ſo glückliche Jugendheimath, wie ſie ein 
Kind nur wünſchen kann. 

Der Vater der Knaben war als Offizier im ruſſiſchen Feldzug 
gefallen; die Mutter hatte mit den Söhnen eine Heimath bei dem 
Großvater gefunden und man hätte ſich für aufwachſende Knaben 
keinen ſchönern und fröhlichern Tummelplatz wählen können. Der 
Großvater war vom Schlage gelähmt und wußte wenig mehr, was 
um ihn vorging. Sorgſam von der Mutter der Knaben gepflegt, ſaß 
er in dem großen Lehnſtuhl ſeiner Stube; wenn die Kleinen hie und 
da zu ihm kamen, ſo ſtreichelte er wohl die lockigen Köpfe, konnte 
aber gleich wieder fragen: „Was ſind das für Kinder?“ 

Den Knaben gefiel es nicht lange bei dem Großvater, und die 
Mutter ließ ihnen gern Freiheit ſo viel es nur möglich war. 

Lernen mußten ſie nun freilich auch; mensa und amo kann nun 
eben einmal keinem Buben erſpart werden, wenn etwas Rechtes aus ihm 


144 Krieg und Frieden. 


werden ſoll. Hans fand das oft recht dumm und ſehr unnöthig; er 
meinte, es wäre viel geſcheidter geweſen, wenn die alten Römer 
deutſch geſprochen hätten und wollte nicht begreifen, wozu denn das 
Latein dienen ſolle, das doch kein Menſch mehr ſpreche; der Arminius 
habe auch nicht Lateiniſch geſprochen, als er die Römer im Teuto⸗ 
burger Walde beſiegt. Oskar beſann ſich nicht, ob es nöthig ſei oder 
nicht; er glaubte es der Mutter und dem Lehrer, daß man etwas 
Tüchtiges lernen müſſe, um etwas Tüchtiges zu werden, und er fand 
ſelbſt wirkliche Freude an ſeinen Arbeiten. Als er das erſtemal für 
ſich allein eine kleine lateiniſche Geſchichte leſen und verſtehen konnte, 
da kam er ſich vor wie ein Seefahrer, der ein neu Stück Land in 
Beſitz genommen. Herr Ladner, der Lehrer und Hofmeiſter der 
Knaben, verſtand keinen Spaß; auch der wilde Hans, er mochte wollen 
oder nicht, mußte ordentlich ſeine Aufgaben vollenden, und wenn er 
ſie garſtig hingeſudelt hatte, ſo mußte er noch einmal daran ohne 
Gnade. Aber wenn ſie endlich fertig waren, dann ließ er ihnen auch 
freien Lauf, und die Knaben hatten ſo viel und vielerlei, daran ſie 
ſich erfreuen konnten, daß ſie faſt nicht fertig damit wurden, ſo lang 
auch das Jahr war. 

Der Winter war recht gemüthlich und behaglich auf Schloß 
Hochheim und es hatte die Knaben noch nie verlangt, im Winter in 
die Stadt zu ziehen, wie andre adlige Familien der Gegend. Gab 
es doch in kalten Wintern prachtvolle Schlittenbahnen die Hügel hinab 
mit ihren Bergſchlitten, oder gar wenn man, was freilich ſelten ge⸗ 
ſchah, die zwei ſchönen Braunen vor den Schlitten ſpannte, der mit 
einem ſtolzen Tigerfell bedeckt war und mit luſtigem Geklingel hin⸗ 
ausfuhr zu einem Beſuch in der Nachbarſchaft. Auch verſchmähten 


Krieg und Frieden. 145 


die jungen Barone gar nicht, hie und da in's Dorf zu gehen und 
große Schneeballenſchlachten mit den Dorfjungen zu liefern. Die 
Schaar, welche Hans anführte, blieb meiſt ſiegreich; Oskar mußte 
mit der ſeinigen flüchten und wurde lange von dem Bruder ausgelacht, 
weil er einmal behauptet hatte: „Ja Du, recht davonlaufen iſt auch 
eine Kunſt!“ Auch fror Oskar bald, und war froh an einem Vor— 
wand, wieder nach Hauſe in's warme Stübchen zu der Mutter ſchlüpfen 
zu können. 

Es war aber auch gar behaglich in der Mutter Zimmer, wo 
die Knaben bleiben und ſpielen durften, ſo lang ſie nicht gar zu viel 
Lärm und Unordnung machten. Am Fenſter auf einem Tritt ſtand 
das zierliche Arbeitstiſchchen, daran die Mutter arbeitete und von 
dem ſie, ſo oft ſie die Augen erhob, weit hinaus in das winterliche 
Land blicken konnte. In der Ecke ſtand ein alterthümlicher, ſchwerer 
eichener Tiſch mit gedrehten Füßen; auf dem hatten die Knaben ihren 
Spielplatz, prächtige Armeen, mit denen Hans großartige Schlachten 
lieferte, bei welchen ſich Oskar oft ſehr ungeſchickt anließ und den 
Schlachtplan verderbte. Oskar baute lieber Tempel und Thürme 
aus den Bauhölzern oder ſetzte künſtliche Geduldſpiele zuſammen; 
manchmal ſetzten ſie ſich auch auf den Tritt zu der Mutter Füßen 
und ſie mußte ihnen eine Geſchichte erzählen. Da ging es aber dem 
Hans ſelten wild genug zu, und Oskar war nicht zufrieden, wenn 
nicht zuletzt alles gut ging, jeder Prinz ein Königreich oder doch 
wenigſtens ein halbes erhielt und eine ſchöne Prinzeſſin dazu. Hans 
ſtellte dazwiſchen die Kämpfe der Drachen mit den Rittern dar, wo— 


bei aber Spiegel und Fenſter in beſtändiger Gefahr ſchwebten; Oskar 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 10 


146 Krieg und Frieden. 


aber verfertigte ſchöne Zeichnungen zu den Geſchichten, auf denen die 
holden Prinzeſſinnen mit etwas langen Naſen davon kamen. 
Schöner freilich war der Frühling und Sommer, wo Herr 
Ladner lange, ſchöne Spaziergänge mit den Knaben machte, merk⸗ 
würdige Entdeckungsreiſen durch Wälder und Felder unternahm, oder 
wo ſie mit der Mutter hie und da Beſuche in der Nachbarſchaft mach⸗ 
ten; und dann waren prächtige Tummelplätze in Hof und Garten. 
Hans machte ſich an die Knechte, die ihn auf den Pferden reiten 
ließen, Oskar geſellte ſich zum Gärtner, der ihm half ein eignes kleines 
Gartenland bauen, in dem er ganz wunderbare Anlagen machte und 
ſich ſchrecklich abquälte, einen Springbrunnen zu Stande zu bringen. 


Kriegsgeſchichten. 


So ſchön aber der Garten war, ſo ſchlüpften die Knaben doch 
gar zu gern durch die hintere Gartenthür auf den weichen grünen 
Raſenplatz, der ſich hinter dem Schloß den Abhang hinabzog; da 
konnte man den Berg hinunter Wettläufe anſtellen, oder zwiſchen den 
Büſchen und Bäumen Verſteckens ſpielen und, was ihnen noch lieber 
war, auf der ſteinernen Bank an der Gartenmauer ſaß der „Schwo⸗ 
leſchehrsmarte,“ wie ihn die Dorfleute nannten; ein alter, ausge⸗ 
dienter Soldat, der in feiner Jugend unter den Chevaux-legers 
Geichte Reiterei) gedient hatte, und der jetzt mit feinem hölzernen 
Fuß keine Feldarbeit mehr verſehen konnte. Im Winter ſchnitzelte 
er Spindeln und Rührlöffel, im Sommer aber ſonnte er ſich gern 


1595 5 

1 fe, 77 
1 IA, 0 
bh, 10 


Krieg und Frieden. 147 


vor den Häuſern im Dorf oder auf der Gartenbank des Barons; 
er hatte einen kleinen Invalidengehalt, auch durften ihm die Knaben 
von den Eltern oft Geſchenke bringen, alte Kleider und Tabak, was 
ihm eine beſondere Ehre war, denn fein Pfeifchen dampfte den lieben 
langen Tag; Sonntags war er der regelmäßige Gaſt im Schlößchen. 
Den Knaben war's die größte Freude, zu Martin zu ſitzen und ſich 
ſeine Geſchichten erzählen zu laſſen; es waren wieder ganz andere 
Geſchichten als die der Mutter, nicht ſo wunderbar und doch wieder 
merkwürdiger, lauter ſelbſterlebte Begebenheiten aus ſeiner Kriegszeit. 
„Ich bin ſelbſt dabei geweſen,“ verſicherte der Martin; „damals war's 
noch ein Ernſt, Soldat zu ſein, nicht wie jetzt, wo ſie nichts können 
als ein Bischen exerziren und herumflankiren; ich bin in Schleſingen 
(Schlefien) geweſen und in Rußland, das gilt für drei; meinen Fuß 
haben ſie mir erſt in Frankreich abgeſchoſſen.“ 
Am meiſten wußte er freilich von Rußland zu erzählen, von dem 
namenloſen Elend, das dort die Armee durchgemacht. „Ja, Buben, 
wenn mir damals Einer geſagt hätte, ich werde nach zehn Jahren 
daheim ſitzen im Frieden, und mein Pfeiflein rauchen, dem hätt' ich's 
auch nicht geglaubt. Damals, als wir auf der Flucht waren von 
Moskau, da hatt' ich keinen Wunſch mehr auf der Welt, als daheim . 
zu ſterben; „nur noch heim,“ dacht’ ich. Ich und ein Kamerad blie— 
ben noch beiſammen; wir wußten nicht mehr wohin, wußten nicht 
wo die Koſaken über uns herfallen. Wohin man ſah, lag Einer er— 
froren am Wege, manch guter Mutter Kind, um den ſie daheim ſich 
die Augen ausweinten. 

„Einmal waren wir ganz ausgehungert, — was wir in ſelbi— 
ger Zeit oft gegeſſen haben, das mag ich nicht mehr erzählen, graust 


148 Krieg und Frieden. 


mir ſelbſt, wenn ich daran denke, — damals aber hatten wir gar nichts 
mehr, als wir endlich ein ruſſiſches Dorf ſahen. Sonſt waren wir 
den Dörfern ausgewichen, weil man nicht wußte, wenn man da todt⸗ 
geſchlagen wurde; nun aber hieß es: Noth kennt kein Gebot. Wir 
brachen ein in das nächſte, beſte Haus. Merkwürdige Kerle die 
Ruſſen. Man ſagt, ſie eſſen Unſchlittlichter. In dem Haus aber, wo 
wir eindrangen, aßen ſie gerade keine; ſie lagen alle auf dem Ofen 
herum und aßen aus einem großen Trog Brei oder Suppe oder was 
es war. Uns war alles eins, lieber todtgeſchlagen werden als hunger⸗ 
ſterben, 's geht geſchwinder! Die Leute waren ganz verdutzt, wie 
wir da ſo hereinſtürmen, mir nichts, dir nichts zwei von den Burſchen 
ihre Löffel aus der Hand nahmen und anfangen zu eſſen, als ob wir 
unſer Lebtag noch nichts gegeſſen hätten. War's die lautere Ver⸗ 
wunderung, war's Erbarmen mit uns armen ausgehungerten Kerls, 
das der Herr ihnen in's Herz gegeben, — genug, die Andern alle 
hörten auf zu eſſen und ſchauten uns nur zu, wie wir hineinſchoben; 
endlich hatten wir genug, oder war der Trog leer, ich weiß nicht 
mehr; wir packten auf, riefen Großdank und liefen hinaus ſo geſchwind 
wir konnten. Warten wollten wir gerade nicht, es hätte ſie wieder 
gereuen können. Nicht Viele, die unter die Ruſſen gerathen, find jo 
gut davon gekommen wie wir. Die ruſſiſche Suppe muß aber gut 
geweſen fein, wir hatten wieder auf lange Kraft weiter zu gehen.“ 

„Aber die Schlachten vorher, erzähl' mir von den Schlachten,“ 
bat Hans. „Ei, was die Schlachten, das iſt mir eins,“ ſagte Oskar, 
„wie ſie da angreifen und ſchießen; da ſuch ich indeß Gänſeblümchen 
und komme wieder, wenn Du erzählſt, wie ihr zuletzt herausgekom⸗ 
men ſeid.“ 


Krieg und Frieden. 149 


„Dumm's Büble, die Schlachten find gerade die Hauptſache,“ 
ſagte Martin; und er erzählte dem begierig lauſchenden Hans von 
den Belagerungen, Stürmen und Angriffen, und von dem grauſigen 
Anblick des blutigen Schlachtfeldes; von dem allen wollte Oskar 
nichts wiſſen, er kam erſt wieder, um zu fragen: „Aber ſeid ihr denn 
nicht erfroren in Rußland, Du und dein Kamerad?“ 

„Scheint nicht,“ ſagte lachend der Martin, „ſonſt könnt' ich einem 
ſo naſeweiſen Büble wie Du biſt, nicht mehr davon erzählen. Ja, 
wie wir weiter herauskamen, da war die Kälte nicht mehr ſo groß, 
auch keine Gefahr mehr von den Koſaken; aber unſre Stiefeln zer⸗ 
rißen und unfre Kleider zerlumpten und Geld hatten wir nicht. Mein 
armer Kamerad bekam ganz rothe, geſchwollene Füße, er konnte faſt nicht 
weiter gehen. Als wir einmal an ein kleines trübes, ſumpfiges Waſſer 
kamen, ſagte mein Kamerad, der Friedrich: „Da bad ich meine Füße 
darin, fie brennen mich wie Feuer.“ „Thu's nicht, 's iſt Dein Tod,“ ſag' 
ich. „Und wenn's mein Tod iſt, ich thu's,“ ſagt er; „ſo kann ich ja doch 
nimmer fortkommen; wenn ich ſterb daran, ſo laß Du mich in Frie⸗ 
den liegen und mach', daß Du weiter kommſt: denk', 's ſei mir wohl 
gegangen.“ Da ſitzt der Friedrich, hängt ſeine Füß in's Waſſer und 
ſagt: „Ah, das thut gut.“ Auf einmal ſpringt er raus und ſchreit: 
„Was Kukuks iſt das?“ Was war's? ſchwarz voll find feine Füße, 
hängen lauter garſtige ſchwarze Dinger dran wie Schnecken oder 
Würmer; er ſchüttelte und ſprang herum, die Dinger aber hingen 
feſt wie genagelt. Endlich legte er ſich ganz matt auf den Boden und 
ſagte: „Laß ſie machen, ich glaub, 's ſind Blutegel.“ „Dummer Kerl,“ 
ſag' ich, „Blutegel holt man ja in der Apothek.“ Jetzt fallen die 
Dinger ab und das Blut lauft von ſeinen Füßen wie Waſſer, ich 


150 Krieg und Frieden. 


waſch's ihm ab mit meinem Nastuch. Endlich hört es auf zu bluten 
und der Friedrich ſagt: „Gott Lob und Dank, meine Füße thun mir 
gar nicht mehr weh, und ſie ſind ſo leicht, ich könnte fliegen.“ 's 
waren richtig Blutegel geweſen, die er hier umſonſt bekommen und 
die ihm ſeine entzündeten Füße geheilt hatten. Fliegen konnt er nun 
freilich darum noch nicht, er war gar ſchwach und müd. „Laß mich 
liegen,“ ſagt' er wieder, „jetzt iſt mir's wohl und ich bin ſo müd, da 
laß mich liegen und ſterben.“ „Jetzt erſt nicht,“ ſag' ich, „das war 
Hilfe vom lieben Gott; nun glaub' ich wieder, daß wir heimkommen, 
und wo Du bleibſt, da bleib ich auch.“ So führt' ich ihn, es ging 
aber kümmerlich und wir ſeufzten allebeid: „Wenn wir nur Geld 
hätten, um ein Wägelein zu nehmen!“ Ja Geld! in meinem Beutelein 
war gar nichts mehr und Friedrich hatte noch weniger.“ 

„Wie kann das ſein?“ fragte bedächtig Oskar. 

WWie? der Friedrich hatte nicht einmal mehr einen Beutel; das 
iſt doch gewiß noch weniger.“ 

„Das iſt das Aergſte,“ ſagte mein armer Friedrich, „daß im 
Gehen immer etwas Hartes an meine Füße bumbelt und mir ſo weh 
thut, und meine Hoſentaſche iſt doch leer.“ „Nun laß ſehen,“ ſag“ 
ich, da muß etwas zwiſchen dem Futter ſtecken,“ lang ich hinein 
und krabble herum in den Hoſen. Löcher hatten ſie genug; da komm' 
ich an ein langes, rundes Ding, zieh's heraus, was iſt's? eine Rolle 
Gold, lauter franzöſiſche Goldſtücke! meiner Sechs! „Kerl, wie 
kommſt du zu dem?“ frag ich, „ſo viel haſt du dein Lebtag nicht ge⸗ 
habt.“ Da fällt's dem Friedrich ein, wie er zum Tode müd und 
erfroren bei der Bereſina niedergeſunken war, hatten ſie neben ihm 
einen Wagen mit der Kriegskaſſe geradezu umgeleert. O Kinder, da 


Krieg und Frieden. 151 


war das Geld wohlfeil; um viel Gold konnte Mancher ſein Leben 
nicht mehr kaufen! „Schad' um das ſchöne Geld,“ hatte der Friedrich 
gedacht, ſchon halb im Schlaf und die Rolle eingeſteckt. Davon aber 
hatte er nichts mehr gewußt, als ich ihn ſchon halb erſtarrt an der 
Bereſina gefunden und mit Gewalt mit mir geſchleppt hatte, weil 
er immer ſo ein getreuer Kamerad zu mir geweſen. Jetzt rettete 
uns das Geld vom Tod.“ 

„Aber hat es Euch denn gehört?“ fragte Oskar. 

„Fragenpeter!“ ſchrie etwas ärgerlich der Martin. Wer wollte 
noch rausbringen, wem das Geld gehörte?“ Der Bonapartle hat das 
Geld Scheffelweiſe aus dem Lande geſtohlen; da durften doch zwei 
ehrliche deutſche Soldaten, die er da hineingeſchleppt, ihr Leben erret⸗ 
ten, mit dem, was er wegwerfen mußte. Hätt' ich ſollen meinen 
Kameraden liegen laſſen und dem Bonapartle nachſpringen und ihm 
das Geld bringen, das er uns vorher geſtohlen?“ Oskar war zufrieden. 
„Aber die Mütze haben wir abgenommen,“ fuhr ernſthaft der Martin 
fort, „und die Hände zuſammengelegt und ein ſtilles Vaterunſer 
gebetet zum Danke dem lieben Gott, der uns bis dahin durchgeholfen. 
Und wir haben ein Wägelein bekommen und haben uns ſtärken können 
mit Speiſe und Trank und ſind heimgekommen. Dem Herrn ſei Dank 
dafür. O, das wißt ihr nicht, was das heißt heimkommen aus ſol— 
chem Elend, daheim ſein, ausruhen auf dem Bett, das die Mutter 
geſchüttelt, — ſeht, Buben, ſeither kann ich mir ein klein wenig denken, 
was es heißen will, wenn in der Bibel ſteht: ſie ſind daheim bei 
dem Herrn.“ 

„Sind Viele, Viele nicht wieder gekommen,“ hub Martin weh— 
müthig wieder an. „Manche Mutter weinte laut, wenn ſie uns ſah, 


152 Krieg und Frieden. 


die zurückkehrten, und ſie an ihren Sohn dachte und nicht wußte, } wo 
ſeine erſtarrte Leiche lag. 

„Unſeres Pfarrers Sohn hatte auch mit müſſen nach Rußland, 
— der Bonaparte hat keinen geſchont, — man hielt ihn ſchon für 
verloren. Da fuhr der junge Herr eines Tags herein mit Extrapoſt 
und Trompetermuſik; die hatte er von der nächſten Stadt mitgenom⸗ 
men aus lauter Freude über ſeine Errettung. Der alte Herr aber, 
der Pfarrer, hat an dem Lärm keine Freude gehabt: „Kannſt du kom⸗ 
men mit Trompeten und Freudenmuſik, wo ſo mancher Mutter das 
Herz bricht?“ fragte er. Mit ſeinem Sohne, mit uns Heimgekehrten 
und mit den Eltern und Geſchwiſtern von denen, die nicht wiederge⸗ 
kommen ſind, iſt der Herr Pfarrer auf den Kirchhof gezogen, wo die 
nicht ſchlafen ſollten, die doch auch zu uns gehörten. Da haben wir 
zuſammen das Lied geſungen: „Ruhet wohl ihr Todtenbeine, in der 
ſtillen Einſamkeit,“ und der Herr Pfarrer hat ein andächtig Gebet 
geſprochen für unſre todten Kameraden.“ 

„Da hat man auch für unſern Papa gebetet,“ ſagte Oskar 
leiſe, und faltete die Hände. „Der hat nicht all das Elend mit 
durchgemacht, der iſt ſchon in der Schlacht bei der Moskwa gefallen; 
war ein ſchöner, ſtarker Mann,“ ſagte Martin. 

„Aber hör', Martin,“ meinte Oskar, „es iſt doch etwas Garſti⸗ 
ges um den Krieg; ich verſteh's nicht. Warum ſchießen denn die 
Leute einander mit Fleiß todt? und was hilft ſie's nachher, wenn ſie 
ſich Hände und Füße abgeſchoſſen haben, oder gar den Kopf?“ 

„Ach Fragenpeterle, das kann ich Dir nicht ſagen,“ ſagte Mar⸗ 
tin; „das müſſen die großen Herrn mit einander ausmachen.“ 

„Etwas Prächtiges muß es ſein um den Krieg!“ rief Hans mit 


Krieg und Frieden. 153 


funkelnden Augen, wenn die Trompeten ſchmettern, die Fahnen flat⸗ 

tern und die Trommeln ſchallen, und wenn man ſo drauf und drein 

ſtürmt! Da muß es erſt ſchön geweſen ſein, Martin, in der Schlacht, 
wo man Dir Deinen Fuß abgeſchoſſen hat?“ 

| „Erſtaunlich ſchön,“ ſagte Martin trocken, „will Euch das ein 

andermal erzählen.“ 

„Das will ich wieder nicht wiſſen,“ ſagte Oskar. 

„Ja freilich, Du gibſt eben einen Federfuchſer,“ ſagte Hans 
geringſchätzig. 

Dieſer Streit wiederholte ſich vielfach bei den Brüdern, je mehr 
Oskar ſeinen Widerwillen gegen das edle Kriegshandwerk an den 
Tag legte. „Nicht wahr, Martin, er iſt ein Haſenfuß?“ fragte Hans 
als er unter Martins Anleitung eine kleine Kanone losbrannte mit 
wirklichem Pulver, und Oskar ängſtlich die Hand vor die Augen hielt 
und ſich feſt an den alten Soldaten klammerte, während Hans herz⸗ 
haft loskrachen ließ. „Herr Ladner hat geſagt, man könne die Augen 
einbüßen, wenn Pulver zur Unzeit losgehe,“ entſchuldigte ſich der Kleine. 

„Laß ihn machen,“ ſagte begütigend Martin, der ihn doch ſehr 
lieb hatte, wenn er auch keinen künftigen Helden in ihm ſah. „Es 
gibt auch oft Solche, bei denen die Courage erſt ſpäter aufwacht. Sie 
erzählen, der Wellington, wißt Ihr, der große engliſche General, der 
geholfen den Bonaparte 'nausjagen, der ſei während der erſten Schlacht, 
wo er dabei war, unter einen Tiſch gelegen und habe geſchlafen. 
Wo's gilt, Buben, das iſt das Rechte, nicht gerade blind dreinſchla— 
gen, und daͤnn — es müſſen auch Leute dableiben, die daheim zum 
Rechten ſehen; was ſollten denn die Soldaten eſſen, wenn ſie wieder 
kommen, wenn niemand indeß das Land gebaut hätte.“ 


154 | Krieg und Frieden. 


„Martin, ich werd' Offizier,“ war bei Hans der Schluß jeder 
Unterhaltung. 

„Und ich werd' nicht,“ ſagte der Kleine; „ich mag nicht die 
Leute mit Fleiß todtſchießen, und mich ſelber mag ich 9 nicht todt⸗ 
ſchießen laſſen.“ 


Trennung. 


Manches Jahr war über Schloß Hochheim hingegangen, ſeit 
Hans ſeine kleine Kanone losgebrannt, und gar vieles war anders 
geworden. Der alte Herr Baron ruhte im Grabe, ſein ſtilles Leben 
war ſtille erloſchen; ſeine alten Diener allein, und ſeine Schwieger⸗ 
tochter und Pflegerin, die junge Baronin, hatten um ihn getrauert, 
in der Welt hatte man kaum mehr gewußt, daß er noch lebe. Tiefer 
war das Leid, als auch die junge Frau bald nachher einer Krankheit 
erlag und die Söhne, ſo eben im beginnenden Jünglingsalter ganz 
allein auf der Welt ſtanden. Der Schwoleſchehrsmarte ſaß gar ſelten 
mehr auf der ſteinernen Gartenbank, es war ihm da oben zu betrübt. 
Wenn er ſich auf der Bank vor ſeinem Häuschen ſonnte, ſo beſuchte 
ihn wohl hie und da Oskar, der regierende Baron und fragte: „Wie 
geht's euch, Martin?“ „Erträglich, gnädiger Herr,“ war die Antwort. 
Sonſt wußten ſie nicht viel miteinander zu reden; an Kriegsgeſchich⸗ 
ten hatte Baron Oskar ja nie beſondre Freude gehabt, und von der 
Knabenzeit redete er auch nicht gern; es war da ein wunder Fleck in 
ſeinem Herzen, — er war im Unfrieden von ſeinem Bruder geſchieden. 

Noch bei geſunden Geiſteskräften, gleich nach ſeines Sohnes 


Krieg und Frieden. 155 


Tode, hatte der alte Baron über fein Gut verfügt. „Da das Gut 
zu klein iſt, um zwei Familien ſtandesgemäß zu ernähren,“ beſtimmte 
er, „ſo ſoll es meinem älteſten Enkelſohne, Hans von Hochheim, zum 
Eigenthum bleiben, unter der Bedingung, daß er ſeinen beſtändigen 
Wohnſitz auf demſelben nimmt; denn ein ſolcher Beſitz kann nur ge⸗ 
deihen und erhalten werden unter den Augen des Herrn. Mein 
zweiter Enkel, Oskar, wird Kriegsdienſte nehmen, wie immer die zwei⸗ 
ten Söhne unſeres Hauſes gethan; ſein Bruder hat ihm jährlich eine 
anſtändige Summe zu bezahlen, damit er als Offizier ſtandesgemäß 
leben kann.“ 

Dieſes Teſtament, von dem niemand vorher gewußt, war auf⸗ 
geſetzt worden, ehe man die Eigenthümlichkeit der beiden Knaben er⸗ 
kannt. Hans war in die Kriegsſchule gekommen und ſollte eben als 
Offizier eintreten, Oskar ſtudirte allgemeine Wiſſenſchaften und Land⸗ 
wirthſchaft, als erſt nach dem Tode der Mutter des Großvaters 
letzter Wille gefunden und eröffnet wurde. 

Das gab nun einen langen und böſen Streit. Hans wollte 
Offizier bleiben und doch das Gut behalten und verlangte, Oskar 
ſolle jetzt auch Soldat werden. Oskar wollte das nicht, aber er er— 
klärte ſich bereit, das Gut mit dem Bruder zu theilen. 

In einem langen theuren Prozeſſe wurde das Gut dem Baron 
Oskar zugeſprochen, falls Hans nicht Luſt hätte, den Soldatendienſt 
aufzugeben. Kein Freund, kein Verwandter war da, der bei den 
Brüdern zum Frieden gerathen hätte, wohl aber neidiſche und böſe 
Zungen, die ſie noch gegen einander aufreizten. Hans glaubte feſt, daß 
der Bruder nur darum nicht Soldat geworden ſei, daß er ihn um das 
Gut bringe, und er ſchied von ihm in bittrem Groll und Unfrieden. 


156 Krieg und Frieden. 


Er wollte nicht im Vaterland Offizier werden, wo jetzt überall 
Friede war. „Ich habe nichts mehr, das mich an die Heimath bin⸗ 
det,“ ſagte er; „ich will hingehen, wo es Ernſt iſt;“ und er nahm 
Dienſte bei Rußland, wo eben der Krieg mit der Türkei ausgebrochen war. 

Oskar war nach vollendeten Studien heimgekehrt auf Schloß 
Hochheim; er hatte eine junge Frau heimgeführt, ſchön und gut, wie 
ſeine Mutter geweſen war; zwei liebliche Mädchen ſpielten auf dem 
Raſen, wo einſt Hans ſeine kleine Kanone abgebrannt. Unter ſeiner um⸗ 
ſichtigen Verwaltung war neues Leben und Gedeihen in das Gut ge- 
kommen; Aecker, Felder und Wieſen, die zum Beſitz des Herrn von 
Hochheim gehörten, waren die ſchönſten weit in die Runde, — aber 
eine rechte Freude war doch nicht im Hauſe. Baron Oskar war 
meiſt düſter und ſchweigſam und kam nicht gern mit ſeinen Nachbarn 
zuſammen; es drückte ihn ſchwer, daß er im Unfrieden von ſeinem 
Bruder geſchieden war, daß ſeines Vaters Sohn, ſeiner Mutter Lieb⸗ 
ling, der fröhliche Gefährte ſeiner Kindheit nun heimathlos draußen 
in der Welt irren ſollte. 

Es war freilich des Hans eigner Wille geweſen, und Oskar glaubte 
in ſeinem guten Rechte zu ſein, als er den Beſitz des Gutes ange⸗ 
ſprochen. Jetzt aber dachte er oft: „Lieber hätte ich alles aufgegeben 
und mich nur als den Verwalter meines Bruders angeſehen!“ Er 
hatte öfter ſchon Hans größere und kleinere Summen zugeſandt; ſie 
waren immer wieder zurückgekommen mit der Bemerkung: „Der Herr 
und Erbe von Hochheim läßt ſich nicht mit Almoſen abſpeiſen.“ „Es 
iſt kein Segen in unſrem Thun,“ ſeufzte er bei dem kleinſten Miß⸗ 
geſchick, das im Haus, auf dem Felde, oder beim Vieh ſich ereignete, 
und ſeine Frau litt ſchwer unter dieſem Druck auf ihres Gatten Seele. 


Krieg und Frieden. 157 


Es war im Spätherbſt des Jahres 1847. Der reiche Obſtſegen 
war eingebracht, eine Fülle prachtvoller Aepfel und Birnen; der Wein 
aber war ſauer und ſchlecht, auch die Ernte war gering; viel bittre 
Noth und Armuth, Unzufriedenheit und Unruhe unter den Leuten. 
Baron von Hochheim that ſo viel er konnte, um der Noth zu wehren; 
aber er ſelbſt war wieder ſchwer bedrückt von den Klagen, denen er 
nicht helfen konnte, und der alte Seufzer kam wieder: es liegt kein 
Segen auf unſrem Thun. 

Im Schloſſe ſelbſt war freilich keine Noth und Sorge, obgleich 
die Baronin alle Ueppigkeit vermied, um den vielen Armen noch beſſer 
helfen zu können. Es war einer der erſten kühlen Spätherbſtabende, 
und draußen brauste ein gewaltiger Sturm; in dem ſchönen hohen 
Wohnzimmer aber war es behaglich warm; eine große Hänglampe 
verbreitete mildes, klares Licht von der Decke: die kleinen Mädchen 
hatten eine niedliche Puppengeſellſchaft auf dem Tiſch aufgeſtellt, und 
der Hampelmann des kleinen Bruders kam hie und da etwas unge— 
ſchickt in die feine Puppenviſite; die Baronin ſtrickte ein paar bunte 
ſchottiſche Strümpfe für den Kleinen; der Baron im warmen, be— 
quemen Schlafrock ſaß im Lehnſtuhl und las ihr vor; die ſchöngemal— 
ten Rouleaux waren herabgelaſſen, während draußen Wind und Regen 
an die Fenſter ſchlug. „Ah, heute iſt's gut daheim fein!“ ſagte Ba— 
ron Oskar, indem er ſich behaglich in ſeinem Stuhl dehnte. 


158 Krieg und Frieden. 


Heimkehr. 


Da trat Franz ein, ein alter Bedienter, der noch unter dem 
ſeligen Baron gedient hatte und winkte ſeinem Herrn. „Herr Baron, 
im Wirthshauſe drunten ſei ein kranker Offizier angekommen, der 
ſich noch in der Nacht weiter führen laſſen wollte, als er den Namen 
des Orts hörte; dem Wirth kam er bekannt vor und er ließ den 
alten Schwoleſchehrsmarte holen, daß er den Herrn anſehen ſoll; der 
aber ſchickt einen Buben herauf und läßt Euer Gnaden ſagen, daß 
der fremde Herr kein Andrer ſei als Euer Gnaden Herr Bruder; 
aber 's ſcheint, er wolle nicht bleiben —.“ „Schnell meinen Rock, 
meine Stiefeln, — Adeline, bitte, laß die ſchönſten Zimmer rüften, — 
ich muß ſogleich .. .“ rief der Baron und rannte ganz außer Faſſung 
umher. „Aber ich bitte Dich, Lieber, was iſt's?“ fragte erſchrocken die 
Baronin. „Mein Bruder!“ rief Oskar in höchſter Bewegung, und der 
alte Franz theilte der gnädigen Frau alles mit, was er ſelbſt wußte. 

Frau Adeline war ruhiger und beſonnener als ihr Gemahl. 
„Ich gehe mit Dir,“ ſagte ſie beſtimmt; gab raſch die nöthigen Be⸗ 
fehle wegen der Zimmer; beruhigte die aufgeregten Kinder, die nicht 
wußten was vorging, und ſtand in einen warmen Mantel und Pelz 
gehüllt ſchon neben ihrem Gemahl, als dieſer in ſeiner Haft und 
Bewegung immer noch nicht recht in ſeine Stiefeln kam. „Wir brin⸗ 
gen ihn gewiß, lieber Oskar,“ ſagte ſie mit ihrer lieben, ſanften 
Stimme und ging mit ihm hinaus in Nacht und Regen. 

Auf dem harten Kanapee der etwas unſaubern Nebenſtube der 
Dorfſchenke lag in ſeinen Mantel gehüllt finſter der fremde Offizier. 


Krieg und Frieden. 159 


Die Suppe, welche ihm die Frau Wirthin nach beſtem Wiſſen gekocht, 
und der Wein, den ihm der Wirth von ſeinem beſten gebracht, ſtan⸗ 
den noch unberührt vor ihm. 

„Es iſt gewiß nicht möglich, Euer Gnaden, heut noch weiter zu 
fahren,“ verſicherte ihm auf's Neue der Wirth; „wir wollen morgen 
mit dem früheſten ſehen ....“ „Schon gut, laſſen Sie mich allein,“ 
ſagte ungeduldig der Fremde und wickelte ſich, als der Wirth abtrat, 
mürriſch finſter in ſeinen Mantel. 

Es war wirklich Hans von Hochheim, der nach vielen abenteuer⸗ 
lichen Kriegszügen in das deutſche Vaterland zurückgekehrt war und 
den ein Zufall, wie wir Menſchen ſprechen, ſo nahe ſeiner alten 
Heimath gebracht hatte. Nicht hieher hatte er wollen, wenn ihn 
auch oft in ſeinem wilden, unſteten Leben ein tiefes Heimweh ange- 
wandelt hatte nach ſeiner friedlichen Jugendheimath; er kam mit dem 
alten Groll im Herzen und dachte in einer größeren Stadt der Um⸗ 
gegend einen Advokaten zu ſuchen, mit deſſen Hülfe er vielleicht den 
alten Prozeß mit ſeinem Bruder wieder aufnehmen könnte; da hatte 
er auf der letzten Station die Poſt verfehlt und der Kutſcher, den er 
gedungen, hatte ihn nach langem Irrfahren ohne weiteres hier abge: 
laden mit der Verſicherung, daß er bei dem Unwetter das müde Vieh 
nicht weiter plagen könne. 

„Da ſoll ich liegen in einer erbärmlichen Schenke, nicht weit 
von meiner Väter Schloß,“ knirſchte er, und wandte ſich unmuthig 
auf die Seite als die Thür aufging und ein blühender, kräftiger 
Mann an der Seite einer ſchönen anmuthigen Frau eintrat. 

Er erkannte dieſen Mann im Augenblick, ſo lang es auch war, 
ſeit er ihn zuletzt geſehen; er wußte, daß es ſein Bruder war, noch 


160 Krieg und Frieden. 


ehe dieſer ihm die Hand bot und freundlich ſagte: „Bruder Hans, 
wir kommen, um Dich zu grüßen und Dich abzuholen in Deine alte 
Heimath.“ „Ich habe keine Heimath mehr,“ ſagte Hans, ſich finſter 
abwendend, „der Baron von Hochheim läßt ſich nicht als Bettler 
aus Gnaden aufnehmen.“ | 

„So komm in Dein Eigenthum!“ bat Oetar innig; „ich habe 
neben allem Glück keine rechte Freude, keinen Frieden gekannt, ſo oft 
ich daran dachte, wie Du fremd und feindlich in der Ferne weilſt; o, 
wenn ich gefehlt, ſo verzeih mir und komm mit uns, meine Frau 
bittet mit mir.“ 

Adelinens ſanftes, holdſeliges Geſicht ſah ihn unter Thränen 
an, auch ſie bot ihm die Hand an und ſagte liebevoll: „O kommen Sie, 
bringen Sie uns und unſern Kindern Segen und Frieden wieder!“ 
Wo blieb der Trotz und Ingrimm des feindlichen Bruders, mit dem 
er ſich geſchworen hatte: „keine Macht der Erde ſoll mich da hinauf 
bringen;“ wie Schnee an der Sonne thaute ſein verhärtetes Herz 
auf von den liebevollen Worten, dem innigen Tone der Geſchwiſter, 
und als Oskar nochmals ſeine Hand ausſtreckte und im alten ge⸗ 
müthlichen Ton der Knabenzeit rief: „Wie, alter Hans, trutz' nicht, 
gib Deinem Kleinen nach!“ Da wurde ſein Auge feucht; er ſchlug 
ein, er richtete ſich auf, er ließ ſich von Adelinen ſorgſam wie von 
einer zärtlichen Schweſter in ſeinen Mantel hüllen und verließ am 
Arme der Geſchwiſter die trübſelige Schenke. 

Das Zimmer war warm und die Lampe ſtrahlte hell oben in 
dem teppichbelegten Wohnzimmer, wo der müde Krieger im beſten 
Schlafrock ſeines Bruders auf den weichen Sopha gebettet war; aber 
wärmer noch ſchlugen die Herzen und heller glänzten die Augen der 


Krieg und Frieden. 161 


Geſchwiſter, die fich endlich wieder gefunden. Adeline ſaß zu Häupten 
des Sopha's, ihre Hand in der des neuen Bruders; unten ſaß Oskar 
und ſchaute glückſelig feinen „Alten“ an, der ſich behaglich dehnte und 
ſeit lange keiner ſo guten Ruhe mehr erfreut hatte, Ruhe von außen 
und innen. 

Alma und Julie, die zwei Töchterlein, trippelten geſchäftig hin 
und her und rüſteten das Theegeräth auf das zierliche Tiſchchen am 
Sopha, glücklich, daß ſie etwas für den merkwürdigen Onkel thun 
konnten, der aus dem Kriege kam; der kleine Junge ſchleppte den 
ſchweren Säbel des Onkels. „Na, Burſch, wohin willſt du?“ fragte der. 
„In Kjieg,“ ſagte vergnügt der Kleine. „So, ſo, wie heißt du denn?“ 
„Hans, wie Onkel, der im Kjieg iſt!“ rief der Kleine, der jetzt ent— 
deckt hatte, daß man den Säbel auch als Reitpferd benützen könne. 
„Hans,“ ſagte überraſcht halblaut der Onkel; „ſo war ich alſo nicht 
ganz vergeſſen bei Euch?“ „Da ſieh, Onkel, weißt Du noch, daß 
Du das biſt?“ fragte die kleine Julie, und brachte ein Bild, auf 
dem Hans als Kind gemalt war, damals ſchon als kleiner Krieger 
mit Säbel und Patrontaſche; das Bild war ſorgfältig mit einem 
Kranze von Epheu und Lorbeer umgeben. „Ihr Gedächtniß iſt grün 
geblieben, lieber Schwager,“ ſagte lächelnd Frau Adeline; „wir hoff— 
ten immer, daß Sie noch mit Ihren Lorbeern hieher zurückkehren 
werden, um bei uns zu ruhen.“ „Ja, meine Lorbeern,“ ſagte der 
Soldat mit bittrem Lachen, „weiß ich doch kaum, wofür ich ſie er— 
worben.“ „Nun, alter Hans,“ ſagte der glückliche Oskar, „nun ſollſt 
Du uns aber auch erzählen von Deinen Thaten, und wo in aller 
Welt Du geweſen biſt; ich habe ja in den letzten Jahren gar nichts 

Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 11 


162 Krieg und Frieden, 


mehr von Dir erfahren können.“ „Ja, das gibt eine lange Ge- 
ſchichte,“ ſagte Hans; „das geht nicht ſo auf einmal. Wo ich war? 
Ueberall, wo es Krieg gab; in Rußland, in Polen, in Spanien, in 
der Schweiz, wo der Krieg aber nicht der Rede werth war; bei den 
Tſcherkeſſen; es duldete mich nirgends, wo es Ruhe war und Friede; 
den Oberſtenrang habe ich mir im Tſcherkeſſenkrieg geholt.“ „Ja, 
Onkel, man ſieht Dir's recht an, daß Du im Krieg geweſen biſt,“ 
ſagte Alma ernſthaft; und es war wahr. Onkel Hans hatte einen 
ſteifen Arm, ein ausgeſchoſſenes Auge und auf den Füßen ſchien 
er auch nicht mehr recht rüſtig zu ſein. „Ich habe genug für eine 
Weile,“ ſagte er mit einem tiefen Seufzer. „Nun ruhſt Du aus bei 
uns,“ ſagte Oskar wieder ſeelenvergnügt, und reichte ihm die Hand 
über den Tiſch. b 
| Es bedurfte feines langen Zuredens mehr. Ueber die Seele des 
Kriegers kam hier, nach langem, raſtloſem Herumtreiben ein Gefühl 
von Frieden und Behagen, wie er es vielleicht nie in ſeinem Leben 
gekannt. Später führte ihn der Bruder hinauf in die ſchönen bequemen 
Zimmer, die die freundliche Adeline für ihn bereitet hatte. Da ſtand 
das ſchneeweiß gedeckte Bett und eine ſchön geſtickte Decke davor; ein 
gutes Ruhebett zur Seite, auf dem er bei Tag ſeine müden Glieder 
ausſtrecken konnte; allerlei freundliche Kleinigkeiten zum Schmuck des 
Zimmers, die die kleinen Mädchen herbeigetragen hatten; alles zu⸗ 
ſammen that ihm unendlich wohl; er gab dem Bruder herzlich die 
Hand und ſagte aus tiefſter Seele: „Gottlob, ich bin daheim.“ 


Krieg und Frieden. 163 


Neue Thaten. 


Kein Prinz und kein König in ganz Europa kann beſſer verpflegt 
werden, als Onkel Hans es war in ſeines Bruders Hauſe. Die Die— 
nerſchaft hatte gelernt, die Befehle des „Herrn Oberſt“ vor allem 
zu reſpektiren; die Kinder waren glücklich und vergnügt, wenn ſie dem 
Onkel einen kleinen Dienſt thun konnten; Julie trug ihm ſeine Pfeife 
nach; Alma, die ſchon recht hübſch leſen konnte, las ihm ſchöne Ge- 
ſchichten vor; Frau Adeline aber pflegte und hätſchelte ihn und kochte 
ihm Leibgerichte, als wäre er ein Kind und kein ſchlachtgewohnter 
Soldat. 5 | 

An manch traulithem Abend erzählte er feine Kriegserlebniſſe 
von den Senſenmännern in Polen, von dem wilden Bergvolk der 
Tſcherkeſſen, von den Kämpfen, die das ſchöne Spanien verheert. 
Die Kinder merkten wohl auf; aber den Mädchen ging's wie früher 
dem Oskar, fie konnten nicht begreifen, warum man denn ſolche Kriege 
führe, warum die Leute ſich todtſchießen und todtſtechen und warum 
ſie ſollten nachher beſſer daran ſein, wenn ihre Männer erſchlagen ſeien 
und ihre Felder zerſtört; der kleine Hans der wollte freilich fortwäh— 
rend in „Kjieg“, aber der verſtand von allem nicht viel. Den beſten 
Zuhörer fand der Onkel am Schwoleſchehrsmarte; der war glückſelig, 
wenn der Herr Oberſt manchmal in ſeinem Häuschen einkehrte, das 
er jetzt nicht mehr verlaſſen konnte, und ihm erzählte. „Ja, ja,“ 
ſagte er oft lachend, „der Hans hat damals nicht umſonſt jo herz— 
haft die Kanone abgebrannt; Reſpekt aber auch vor unſrem jungen 


164 Krieg und Frieden. 


gnädigen Herrn, ein rechtſchaffner Herr und gut gegen die RN, 
er iſt auch recht am Platz da, wo er iſt.“ 


Krieg und Frieden. 


Eh noch der Frühling des Jahres 1848 kam, ehe Baron Hans 
ſich hatte beſinnen können, was er denn mit ſeiner wiedergeſtärkten 
Kraft beginnen wolle, ging's mit einemmale ſtürmiſch her in der Welt. 
Die Franzoſen hatten ihren König fortgejagt und faſt zugleich ging 
an allen Enden und Orten ein Sturm los. Die erſte Furcht war, 
daß das ungeſtüme Franzoſenvolk, nicht zufrieden mit der Unruhe in 
ſeinen eigenen Grenzen, noch einbrechen wolle in die Nachbargegenden. 
Auf einmal, kein Menſch wußte woher, erſcholl an mehr als dreißig 
Orten zugleich der Ruf: Vierzigtauſend Mann franzöſiſches Geſindel 
iſt über den Rhein gebrochen, ſengt, plündert und metzelt; rette ſich 
wer kann!“ Das war ein Schrecken allenthalben; von allen Orten 
kamen Flüchtige, Weiber, Kinder. Manche behaupteten, ſie haben ſchon 
brennen ſehen; wer noch etwas zu verlieren hatte, verſteckte und ver⸗ 
ſcharrte es; der Schmied im Dorfe drunten bei Hochheim vergrub ſo⸗ 
gar ſeinen Ambos, die dicke Wirthin ihr getrocknetes Obſt. Die 
kampffähige Mannſchaft ſollte geſammelt und gerüſtet werden, um dem 
Feind entgegen zu ziehen. Da wachte in Onkel Hans der Soldat 
wieder auf, und er erbot ſich, mit der Mannſchaft, die im Dorf auf⸗ 
geboten werden konnte, dem Feind entgegen zu ziehen. So ernſt die 


Krieg und Frieden. 165 


Sache ſchien, jo mußte er doch lachen, als er die Waffen überſah, 
die auf den Platz geſchafft wurden. Ein paar alte Büchſen, eine Vo⸗ 
gelflinte, ein krummer Huſarenſäbel, zwei Hirſchfänger, das war alles. 
Die Schmiede aber ſchmiedeten Senſen die ganze Nacht hindurch. „Das 
iſt eine furchtbare Waffe in der rechten Hand,“ verſicherte Baron Hans 
und die Leute ſahen mit maßloſer Bewunderung, wie geſchickt er alles 
angriff und die ungeübte Schaar der Kampfluſtigen ordnete. Der 
Schwoleſchehrsmarte half als Unteroffizier, obgleich er mit ſeinem 
hölzernen Fuß leider nicht mitziehen konnte. Baron Oskar wollte 
auch mit; aber auf die Bitten feines Bruders und feiner Frau ent- 
ſchloß er ſich, zum Schutz der Frauen und Kinder im Schloß zu 
bleiben. Das Schloß war eine wahre Kinderbewahranſtalt worden; 
jedermann ſchickte ſeine Kleinen herauf, weil ſie da doch geſchützter 
waren; man breitete im großen Salon alle entbehrliche Betten auf 
den Boden; da ſchlief das kleine Volk durcheinander, nachdem ſie 
lange nach ihren Müttern geſchrieen hatten und mit ſüßer Milch be- 
ſchwichtigt worden waren. 

Sonſt ſchlief niemand im Dorf und im Schloß in dieſer Nacht; 
einige Weiber vergruben ihre kleinen Schätze; andre kochten gar große | 
Keſſel voll Knödel, weil fie dachten, wenn die furchtbaren Franzoſen 
nur genug zu eſſen fänden, ſo würden ſie nicht gar zu ſchrecklich ſein. 
Der kleine Hans im Schloß wollte gar nicht in's Bett; er wollte 
durchaus auch in Kjieg mit dem Onkel und „kleine Französlein todt- 
ſtechen.“ Die Mädchen waren auch ſehr aufgeregt über all das Neue 
und Ungewohnte; endlich ließen ſie ſich doch bewegen zu Bette zu 
gehen, nachdem ſie zu ihrem Nachtgebet noch das Gebetlein geſprochen, 
das die Mutter den kleinen Hans gelehrt hatte. 


166 Krieg und Frieden. 


Du lieber Vater im Himmel mein, 
Laß ja den böſen Krieg nicht herein; 
Gib, daß der liebe Frieden 

Uns immer ſei beſchieden. 


Früh vor Tag zog Oberſt von Hochheim ab mit ſeiner Schaar 
in ihrer abenteuerlichen Bewaffnung; er ſah ſie wehmüthig an, dieſe 
friſchen, kampfbereiten Burſche, von denen keiner hatte zurückbleiben 
wollen. Er wußte wohl, wenn es Ernſt würde, wenn ſie mit geübten 
Soldaten oder mit großer Uebermacht zuſammenträfen, daß er dann 
wohl nicht Einen zurückbringen werde. „Und wenn ich ſelbſt bleibe?“ 
fragte er ſich. „Nun, ein rechter Offizier fällt freilich nicht gern im 
Kampf gegen Raubgeſindel, aber es iſt ja dann für meine alte Hei- 
math, nachdem ich fo lang und jo oft gekämpft nur für Fremde; fo 
ſei's denn drum in Gottes Namen, ich weiß kaum, warum ich bis⸗ 
her gelebt und gekämpft; ſo weiß ich dann doch, warum ich ſterbe.“ 


Schloß Hochheim war nach der Anweiſung des Oberſten ver⸗ 
barrikadirt worden; unten am Fenſterlein ſtand der Schwoleſchehrs⸗ 
marte mit einem Gewehr bewaffnet. „Wenn man meinen Stelzfuß 
nicht ſieht, ſo ſeh ich noch ingrimmig genug aus,“ verſicherte er, 
indem er ſeinen Schnurrbart ſtrich; „und franzöſiſch hab' ich auch 
gelernt in meinen Feldzügen, das iſt die Hauptſache: Couchez vous, 
filous, retirez vous, il y a noch zehntauſend Bataillons comme 
moi; ihr werdet ſehen, wie ſie laufen!“ | 

Vom frühen Morgen an ſtand Baron Oskar mit dem beſten 
Fernrohr auf dem oberſten Boden des Hauſes; es war ihm bang 
vor dem Anblick der brennenden Dörfer, des wilden Kampfgetümmels; 


Krieg und Frieden. 167 


er hatte ſeine Waffen unten bereit gelegt, aber er war nicht ſehr 
gewandt in ihrer Führung; zum erſtenmal bereute er, daß er nicht 
mehr Zeit verwandt auf das Waffenhandwerk. Frau Adeline hielt unten 
Betten und Binden bereit, wenn man Verwundete bringe, und Oskar 
dachte mit tiefer Trauer, wie ſchmerzlich es wäre, den kaumgefundnen 
Bruder wieder zu verlieren. Die heraufgeflüchtete Kinderſchaar hatte 
aber bereits der Franzoſenangſt vergeſſen und tummelte ſich glückſelig 
in dem Schloßgarten, obgleich noch gar kein Frühlingswetter war. 

Aber es blieb merkwürdig ſtill und ruhig draußen; kein Rauch 
ſtieg auf als friedlicher Hüttenrauch; kein Schuß wurde gehört; die 
Weiber im Dorf, die nicht ihre Franzoſenknödel ſelbſt eſſen mußten, 
kochten allmälig zu Mittag, die Kinder durften im Schloß zu Gaſt 
eſſen. 

Nachmittags um drei Uhr endlich erſcholl das Geſchrei: „Jetzt 
kommt er, der Franzos kommt!“ es ging an ein Rennen und Laufen 
und Verſtecken. „'s iſt nichts,“ rief der Gänſefritz, der vorn am 
Dorfe Wache ſtand, „'s iſt nichts, fie ſind's ſelber.“ 

Ja, fie waren's; etwas langſam, matt und müde; aber glied- 
ganz und unverſehrt ſammt Büchſen, Dreſchflegeln und Senſen, unter 
der Anführung ihres Oberſten zogen die tapfern Landeskinder wieder 
ein. „Was iſt's? wo iſt der Franzos? habt ihr nicht gefochten?“ 
frug alles in höchſter Begier, ſogar die Kinder rannten vom Schloſſe 
herunter. „Nichts iſt's,“ verſicherte der Schultheiß, der auch mit 
gezogen war, während Baron Hans in aller Stille dem Schloſſe zu— 
ging. „Wo wir hinkamen, hieß es allenthalben, ja freilich, der Fran— 
zoſe kömmt, und doch wußte niemand, wo er war, immer weniger, 
je weiter wir kamen. Da ſchickte der Herr Oberſt endlich nach allen 


168 | Krieg und Frieden. 


Seiten reitende Boten aus, die kamen alle zurück: es ſei überall 
ruhig, größter Friede. So ſind wir denn umgekehrt.“ | 

Da mußten denn die Weiber noch einmal kochen, und fie tha- 
ten's gern, zumal da in jedes Haus ein Krüglein guter Wein aus 
dem Schloßkeller geholt werden durfte. | 

Oben legte Baron Hans ſeinen Tſchako, ſeinen Degen und 
ſeine Feldbinde ſchweigend auf den Tiſch und ſprach mit bitterem 
Lächeln: „Iſt's ein Spott des Schickſals, daß mein letzter Feldzug 
gegen nichts war? eine reine Lächerlichkeit!“ Adeline legte ſanft ihre 
Hand auf ſeinen Arm und ſagte freundlich: „Laſſen Sie ſich das 
nicht reuen; Sie haben es in gutem Ernſte gemeint und ſind uns 
wie ein Engel in der Noth erſchienen. Sollen wir hadern mit dem 
lieben Gott, daß er Kampf und Blut von uns gewendet? Es 
kommen gewiß noch Zeiten, wo das Vaterland rechte un und 
rechte Arme braucht!“ 

„Ja wollte Gott, ich dürfte dieſen ſchartigen Degen noch für 
mein Vaterland ziehen! ich bin es müde, nur zu kämpfen um des 
Krieges willen; es iſt das ein wüſtes Thun!“ ſagte der Oberſt 
wieder beruhigter. 

Ja, es kamen noch allerlei Zeiten; Zeiten, wo nicht die Fran⸗ 
zoſen zu fürchten waren, ſondern die eignen Landeskinder; wo nicht 
nur die Bedrückten riefen nach ihrem guten Recht, nein, wo auch 
die Schlechten und Arbeitsſcheuen dachten, wohlfeil zu Gut und Ge⸗ 
nuß zu kommen, wenn ſie einfach theilten mit den Reichen. 

Auch auf Schloß Hochheim ſtürmte ein Haufen unzufriedner 
Freiſchärler ; der Oberſt aber und der alte Stelzfuß vertheidigten allein 
mit ein paar guten Flinten, mit denen ſie aus dem Fenſter ſchoſſen, 


Krieg und Frieden. 169 


jo ritterlich das Schloß, daß die Burſche unverrichteter Sache ab⸗ 
zogen, in der Meinung, da droben ſei ein ganzes Regiment Sol- 
daten, was man hauptſächlich der Uniform des Oberſten zu danken 
hatte und dem ganz furchtbaren . des Martins, der brüllen 
konnte wie zwanzig. 


Von ſeinem Anrecht an den Beſitz des Schloſſes wollte Hans 
nichts mehr wiſſen. „Ich hab's ſo beſſer,“ verſicherte er, „ich darf 
mir's wohl ſein laſſen bei Euch und habe keine Sorge um die Ver⸗ 
waltung.“ Er nahm im Vaterland Militärdienſte, weil er nicht 
unthätig bleiben wollte, brachte aber die meiſte Zeit bei ſeinen Ge- 
ſchwiſtern auf Hochheim zu, wo ihm immer ſo von Herzen wohl 
war. Da ſchreibt er ſeine Erlebniſſe auf, und ſucht mit namenloſer 
Mühe die verſäumten Studien nachzuholen, die Kenntniſſe zu ſammeln, 
die er ſo oft ſchmerzlich vermißt hatte. 

Der alte Martin iſt zur Ruhe gegangen; er wurde auf Veran— 
ſtaltung des Oberſten mit Trompetenmuſik und Trommelſchlag in 
allen militäriſchen Ehren begraben. 

Der nun großgewachſene Hans hat noch einen jüngern Bruder 
bekommen. Welcher von den Beiden einmal in „Kjieg“ will, iſt noch 
nicht beſtimmt; inzwiſchen folgen ſie dem Rath des Onkels, der nicht 
müde wird, ſie zu ermahnen: „Lernt etwas Tüchtiges, Burſche. Euer 
erſter Krieg ſei immerhin eine Römerſchlacht; habt ihr einmal die 
Sprache der alten Feinde erobert, ſo macht herzhaft weiter, daß ihr 


170 Krieg und Frieden. 


tauglich werdet zu Krieg und Frieden.“ Frieden halten unter fich, 
herzlichen, brüderlichen Frieden, das haben ſie von Vater und Mutter 
gelernt und das Haus blüht und gedeiht dabei. 

Der Oberſt aber bewahrt noch ſorgſam ſeinen Degen auf, bis 
er ihn einmal ziehen darf für ein einig deutſches Vaterland. 


% 


Daheim. 


Kein lieblicheres Fleckchen Erde als das Dörflein Kühlenbronn. 
Es liegt in einem Waldthale faſt verſteckt von der Welt; wenig Rei⸗ 
ſende, keine Eiſenbahn und kein Telegraph haben den Weg dahin 
gefunden. Die Häuſer, noch mit Stroh und Schindeln gedeckt, liegen 
etwas zerſtreut; vor jedem ein kleines Gärtchen; etwas ſtruppige 
Gärtchen, ich muß geſtehen; ſtatt mit ordentlichen Zäunen meiſt mit 
einer Dornhecke eingefaßt, an der etwas zerriſſene Wäſche hängt; 
ein paar Ringelblumen und rothe Nelken ſind der ganze Blumenflor. 

Nur eines der Häuschen zeichnete ſich früher vor allen andern 
aus und erſchien mit den weißen Mauern, den grünen Fenſterläden 
und Gardinen faſt wie eine Feenheimath unter den ſchlichten Bauern- 
häuſern. Das Gärtchen war mit einer Roſenhecke eingefaßt; es hatte 
neben den ſorgfältig angelegten Gemüſeländern zierlich gepflegte Blu— 
menbeete mit einer Fülle und Herrlichkeit von Roſen, Nelken, Lev- 
kojen und Aſtern, wie man ſie kaum in einem Waldthale ſuchen 
würde. Auch eine kleine Laube war da, und auf der ſchattigen Bank 
ſah man gar oft und viel die junge Fee dieſes lieblichen Beſitzthums, 
Emma, das Töchterlein der verwittweten Frau Schulmeiſterin, ſitzen; 


174 Emma's Pilgerfahrt. 


ein ſchlankes, blondes Mädchen, deren freundliches Geſichtchen für 
Alle, die vorübergingen, einen herzlichen Gruß hatte. 5 

„Ein Sträußle, Emma! Jungfer Emma, ein paar Blümlein!“ 
hörte man faſt den ganzen Tag von Kindern, die ſtaunend die immer 
blühende Flora des Gärtchens betrachteten; und Emma hatte für 
Alle etwas: gemeine Ringelblumen und Pfingſtnelken für gedankenloſe 
Kinder, die ſie doch bald wieder wegwarfen; feine Sträußchen von 
Roſen und Immergrün für Bräute oder Konfirmanden, und das 
Gärtchen war unerſchöpflich; es wurde immer reicher vom Geben; 
die allerſchönſten Sträußchen aber trug Emma ſelbſt, wenn ſie an 
der Mutter Seite zur Kirche in's obere Dorf ging. Ä 

Die alte Frau Schulmeiſterin, wie fie im Dorfe hieß, obwohl 
fie eben noch nicht fo alt war, war aus dem Orte gebürtig, die 
Tochter des gar alten Schulmeiſters. Sie war jung in die Stadt 
gekommen zu einem Onkel, der Kaufmann war; aber ſie hatte ein 
unüberwindliches Heimweh nach ihrem Heimathdorfe behalten, und 
als ſie einem jungen Lehrer ihre Hand gab, war ihre erſte Bitte an 
ihn, daß er ſich um die Lehrerſtelle zu Kühlenbronn bewerben möge; 
der Lehrer willigte ein; er war ſchmächtig und blaß; ſeine Braut 
verſicherte ihn, daß er da geſund werden müſſe. 

Dem war nun freilich nicht ſo: er blieb kränklich, und nur 
zehn Jahre lang war der jungen Frau vergönnt, ſich ihres Glückes 
in der alten Heimath zu freuen; ihr Mann wurde immer ſchwächer 
trotz der geſunden Waldluft, ſiechte hin und ſtarb, als Emma acht 
Jahre alt war. Die Schulmeiſterin war nicht arm; ihr Vater ſchon 
hatte Wieſen und einen Waldantheil erworben. Sie wußte in der 
weiten Welt kein Plätzchen, wo ſie hätte ſein mögen, als Kühlenbronn. 


Emma’s Pilgerfahrt. 175 


Als ſie die Schullehrerwohnung verlaſſen mußte, erwarb fie das nette 
Häuschen, das ſich früher ein Holzſchnitzer erbaut hatte, und niſtete 
ſich da ein mit ihrer Emma. Und Emma hatte hier eine glückliche 
Heimath, eine fröhliche, ſonnige Kinderzeit; ſie begriff nie, warum 
der Onkel Kaufmann, der einzige Bruder ihrer Mutter, ſo großes 
Mitleid mit ihr hatte und von der Mutter verlangte, ſie ſolle wenig— 
ſtens um des armen Kindes willen ihre Güter im Dorfe verkaufen 
und in eine Stadt ziehen. 

Sie war gar kein armes Kind; ſie hatte Alles, was ihr Herz 
wünſchte; ſie hatte ihr freundliches Häuschen, ihr ſchönes Blumen— 
gärtlein; ſie hatte ein niedliches Spinnrad und ein zahmes Stärchen 
und Geſpielen genug. Es war ein feines Töchterlein, die kleine 
Emma; die Dorfkinder behandelten ſie faſt wie ein Prinzeßlein und 
waren vergnügt, wenn fie nur mit ihnen ſpielte. Auch wußte nie- 
mand ſo ſchöne Spiele anzugeben wie ſie; ſie war nicht zufrieden mit 
dem einfachen Haſchen und Verſteckens. Bald zogen die Kinder als 
Räuberbande durch den Wald, und Emma war eine fremde Gräfin, 
die gefangen und nachher wieder befreit wurde; bald waren ſie eine 
Zigeunerhorde und machten ſich Lager auf der grünen Waldwieſe 
oder verſteckte ſich Emma in dem Gemäuer einer alten Burgruine, 
die auf einer benachbarten Anhöhe ſtand, und ſchwebte hervor als 
geſpenſtiſches Burgfräulein und zeigte ihnen Stellen, wo ſie nach 
Schätzen graben mußten. Solche Spiele gingen freilich nur an 
Sonn⸗ und Feiertagen an; Werktags haben Dorffinder ſelten fo viel 
freie Zeit; aber auch an Werktagen ſetzte ſich Emma mit ihrem 
Strickzeuge zu den größeren Mädchen, die ihre kleinen Geſchwiſter hüten 
mußten, erzählte ihnen Geſchichten und führte die kleinen Schreihälſe 


176 Emma's Pilgerfahrt. 


im Wägelchen. Alle Kinder kannten ſie und ſtreckten ihr die Aermchen 
entgegen, weil ſie für alle ein Lächeln und ein freundliches Wort hatte. 
Onkel Kaufmann hatte es für Unrecht gehalten, daß ſeine Schweſter 
im Waldthale blieb, weil die Kleine da ja gar nichts lernen könne; 
Frau Beate aber meinte, ſie ſoll nur einſtweilen Alles recht begreifen, 
was hier zu lernen ſei, dann werde für das andere ſchon Rath wer⸗ 
den. Sie hatte damit ſo Unrecht nicht, zu lernen gab es einſtweilen 
genug. In der Schule lehrte man allerdings nur Bibelgeſchichte, 
Leſen, Rechnen und Schreiben; aber der Lehrer war gar ein freund⸗ 
licher, geſchickter Mann, der gern das Töchterlein ſeines Vorgängers 
mehr als das Gewöhnliche lehrte, da ſie mit ihren klugen, hellen 
Augen eine ſo gute Zuhörerin war. Frau Beate galt im Dorfe für 
ein Wunder von Geſchicklichkeit; von ihr konnte Emma nicht nur 
Stricken, Nähen und Spinnen lernen, ſie verſtand auch gut zu kochen, 
die beſten Krankenſüppchen, heilſame Salben und Kräuterſäfte zu be⸗ 
reiten und wurde für einen halben Doktor angeſehen. Was aber 
Emma vor Allem von ihr lernte, eine Kunſt, die alle Wiſſenſchaft 
der Welt aufwiegt, das war: ihr kleines Tagewerk anzuſehen und 
zu treiben als einen Gottesdienſt, mit herzlicher Freundlichkeit zu jedem 
Dienſte bereit zu ſein, den ſie auch dem Geringſten erweiſen konnte, 
und mehr an die Freude Anderer als an die eigene zu denken. 

Es iſt das eine große, ſchwere Kunſt, die mancher in ſeinem 
ganzen Leben nicht lernt, für Kinder oft am Schwerſten, die ſo ſehr 
geneigt ſind, ihren Wunſch, ihr Vergnügen für die Hauptſache anzu⸗ 
ſehen; wer ſie aber erlernt hat, für den iſt ſie mehr werth als Gold 
und Edelſteine, denn ſie erwirbt, was ſich nicht um Gold kaufen 
läßt: Gnade bei Gott und den Menſchen. | 


Emma’s Pilgerfahrt. 177 


Emma war freilich fein Engel von Natur, bei dem fich die 
Uebung jeder Tugend von ſelbſt gegeben hätte: fie wäre oft unendlich 
lieber im Blumengärtchen geblieben, als daß ſie Suppe zu einem 
kranken Weibe getragen hätte; es geſchah ihr blutſauer, wenn ſie in 
ein liebes Buch vertieft ſaß und die Mutter ſie zur Arbeit rief; ſie 
hätte viel lieber geweint als gelacht, wenn ſie luſtig zum Spiel ab⸗ 
ziehen wollte, und die Mutter rief: „halt, Emma, ich habe der Nach— 
barin verſprochen, daß du ihr das kleine Gretchen hüteſt, weil ſie in 
die Stadt mußte.“ Aber was ſie noch nicht freudig aus Herzensluſt 
thun konnte, das that ſie doch willig aus Gehorſam, und ſiehe, es ward 
ihr leichter und leichter; der freundliche Dank derer, denen ſie helfen 
konnte, die ſtille Zufriedenheit der Mutter wurden ihr viel ſüßer als 
eine Stunde eigenen Vergnügens, von der am Ende doch eine leiſe 
Reue bleibt, wenn man eine Pflicht darüber verſäumt hat. 

Was kann ein Kind thun? fragt man oft. Ein Kind kann gar 
wenig, es iſt wahr, es kann wenig helfen, wenig arbeiten, wenig Geld 
verdienen, es kann die Sorgen der Eltern nicht verſtehen und nicht 
theilen. Und doch hat ein Kind, jung, ſchwach, unwiſſend wie es iſt, 
eine königliche Macht: es kann Segen, Frieden, Freude in das Herz 


und Haus ſeiner Eltern bringen. Kaum kann ein Menſchenherz ſo 


verhärtet, kaum eines ſo traurig ſein, in das nicht ein Strahl der 
Freude fällt über ein wohlgerathenes Kind; und eine Freudenthräne 
aus der Mutter Auge, ein Dankgebet, das aus des Vaters Herzen 
ſteigt für ein gutes, gehorſames Kind, iſt eine edle Perle, die noch 
über das Grab hinaus ihren Glanz bewahrt. 


Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 12 


* 


178 Emma's Pilgerfahrt. 


Der neue Zögling. 


Eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, 
wo ſich gegen die Stadt zu das Thal etwas erweitert, ſtand ein hüb⸗ 
ſches, ſchloßähnliches Gebäude, in der Gegend das Schlößchen genannt. 
Es hatte einem alten Geſchlechte gehört, von dem nur noch entfernte 
Abkömmlinge lebten. Die Güter, die zu dem Schlößchen gehörten, 
waren verpachtet worden bis auf den Garten, welcher daran ſtieß, — 
zu dem Gebäude ſelbſt hatte ſich kein Abnehmer gefunden, es ſtand 
unbewohnt; der Notar aus der Stadt hatte zu ſorgen, daß es in 
baulichem Zuſtande blieb. 

Eines Tages ſahen die Leute Thüren und Fenſter des Schlöß⸗ 
chens geöffnet; der Notar kam mit einigen Handwerksleuten, um ein 
paar Zimmer wieder in wohnlichen Stand ſetzen zu laſſen. 

„Na, was gibt's, Herr Notar?“ fragte der Schultheiß von Küh⸗ 
lenbronn, der vorbeiging; „wollen Sie das Schlößchen verkaufen, oder 
bekommen wir wieder eine Herrſchaft hieher?“ 

„Nicht gerade,“ ſagte der Notar, „nur ein junger Herr, der 
Baron Arthur von Stein, eigentlich der künftige Erbe des Schlöß⸗ 
leins und all der ſchönen Güter, die die Herrſchaft noch im Aus⸗ 
lande hat, ſoll mit ſeinem Hofmeiſter hieher kommen.“ 

„Wie alt iſt denn der junge Herr?“ 

„O ein Jahr zwölf oder vierzehn.“ | 

„Kommt mir aber fonderbar vor, was ſoll denn der hier? 
Solche Buben, mit Reſpekt zu ſagen, denn ein Bub' iſt er doch noch, 
ſchickt man ja ſonſt in ein Gymnaſium oder ſo wohin.“ | 


Emma’s Pilgerfahrt. 179 


„Ach, ich glaube, es hat mit dem jungen Herrn ſeine eigene 
Bewandtniß,“ ſagte der Notar; „es muß da nicht recht richtig ſein,“ 
indem er mit dem Finger an die Stirn zeigte, „der Herr Baron, 
ſein Onkel, ſchreibt mir, er werde ſchwerlich je im Stande ſein, die 
Verwaltung ſeiner Güter zu übernehmen, — man wolle jetzt ſehen, 
was Stille und Landluft für eine Wirkung auf ihn haben.“ 

„So, Stille und Landluft,“ ſagte der Bauernſchultheiß, der ein 
geſcheidter Mann war, im Weitergehen, „und wenn der junge Herr 
nicht ganz recht im Kopf wird, ſo erbt der Onkel und ſeine Kinder 
Alles, ja, — ja!“ und für ſich hinbrummelnd ging er langſam 
weiter. 

Große Anſtalten waren nicht zum Empfange des Erben getroffen 
worden; zwei Zimmer für ihn und den Hofmeiſter waren gelüftet 
und hergeſtellt, im Garten ein paar Gänge vom Gras gereinigt; 
Pferde brachten ſie ſcheint's nicht mit. 

Nach wenigen Wochen ſchon hielten ſie in aller Stille ihren 
Einzug. Es war zuerſt eine große Wichtigkeit für die Dorfbewohner, 
das lang unbewohnte Schlößchen wieder geöffnet zu ſehen; aber man 
gewöhnte ſich bald daran, da in der That wenig von den neuen Be— 
wohnern zu ſagen war. 

Ein Bedienter war mit dem Hofmeiſter und dem jungen Baron 
gekommen; ein Mädchen vom Dorfe beſorgte die Hausarbeiten, der 
Hofmeiſter, ein junger Mann, ſtudirte viel für ſich und machte Aus— 
flüge in der Gegend, ſeinen Zögling überließ er meiſt ſich ſelbſt. 

Bald ſagte man im ganzen Dorfe davon, daß der vornehme junge 
Herr nicht ſeinen rechten Verſtand habe. Arthur ſah zwar geſund, 
rothwangig und ſtark aus, aber ſein ausdrucksloſer Blick, ſein immer 


180 Emma's Pilgerfahrt. 


gleiches Lächeln zeigten, daß es ihm an geiſtigem Leben fehle; auch 
war er nicht luſtig und lebendig wie andere Kinder; er konnte oft 
ſtundenlang daſitzen und gedankenlos mit einem Pferdchen oder ſonſt 
etwas ſpielen, das für viel jüngere Kinder war. Eigenſinnig war 
er nicht, wie Blödſinnige ſonſt oft ſind; er ſah jedermann freundlich 
an; wenn ſie Leuten begegneten und der Hofmeiſter leiſe zu ihm 
ſagte: „Arthur, zieh',“ ſo zog er höflich ſein Sammtkäppchen ab. 

Kühlenbronn hatte keine eigene Kirche, der Pfarrer wohnte im 
oberen Dorfe. 8 

„Sie haben eine ſchwere Aufgabe,“ ſagte dieſer, als der Hof⸗ 
meiſter mit dem jungen Baron einen Beſuch bei ihm machte. 

„Nicht eben ſchwer, mehr langweilig,“ ſagte dieſer; „mit Unter⸗ 
richt iſt bei dem Knaben rein gar nichts zu machen, meine Geſchäfte 
könnte jeder Kammerdiener verſehen; es iſt nur der Form wegen, daß 
ihm bis zu ſeiner Volljährigkeit ein Hofmeiſter gehalten wird, damit 
den Baron, ſeinen Vormund, kein Vorwurf trifft, als ſei etwas an 
ihm vernachläßigt worden.“ 

„War er von Kindheit auf ſo?“ 

„Ich glaube; er ſoll als kleines Kind ſchwer an Gichtern ge⸗ 
litten haben. Seine Eltern natürlich wollten nicht glauben, daß ihr 
einziger Sohn, der Erbe ihrer Güter, blödſinnig ſein ſoll, auch nach 
ihrem frühen Tode hoffte man lange noch, es ſei langſame Entwick⸗ 
lung; ſpäter kam er in eine berühmte Heilanſtalt für Blödſinnige, 
aber es hatte keinen Erfolg, als daß er ein Bischen äußere Manie⸗ 
ren annahm. Es zeigt ſich keine Faſſungskraft, auch keine Aeußerung 
des Seelenlebens bei ihm, kein Weinen, kein herzliches Lachen, nur 
das blöde Lächeln, das immer auf ſeinem Geſichte ſteht. Ein Glück 


Emma’s Pilgerfahrt. 181 


iſt nur, daß er gutartig ift und nicht abſchreckend in feinem Aeußern; 
— ich ſchicke mich, ſo gut ich kann und behalte viel Zeit zu meinen 
Studien.“ | | 

In der That, das Aeußere des Knaben war eher einnehmend 
als abſtoßend, und es war herzbeweglich, dieß ſchöne junge Geſicht 
zu ſehen, das ausgeſchloſſen war von Leid und Liebe und Freude des 
Menſchenlebens, nur empfänglich für Eindrücke, die auch ein Thier 
fühlt. | 

Die Kinder des Dorfes empfanden das nicht. Anfangs betrach— 
teten ſie den feingekleideten Knaben mit gewiſſem Reſpekt oder mit 
Scheu; als er aber häufig ohne den Hofmeiſter herumging, als er 
bei ihren Spielen oder Geſchäften ſtehen blieb mit ſeinem blöden 
Lächeln: da fingen ſie an, ihr Geſpött mit ihm zu treiben, wie ſich 
leider gerade bei Kindern oft eine unbegreifliche Rohheit gegen Geiftes- 
ſchwache findet. „Der Adur kommt, der Adur!“ war immer ein 
Zeichen zu Unfug und Muthwillen; „Adur zieh!“ ſchrieen ſie ihm 
zu, und der arme Knabe zog gutwillig ſein Sammtmützchen. Wenn 
dann zur Linken, zur Rechten, vor ihm, hinter ihm, der Ruf erſcholl, 
von unbändigem Gelächter begleitet, ſo daß er nicht wußte, wohin 
ſich wenden, dann brach er am Ende wohl in heftige Wuth aus und 
rannte auf die Neckenden los; dieſe Jagd aber war eben der Haupt⸗ 
ſpaß: mit lautem Geſchrei ſprangen die Jungen davon, verſteckten 
ſich in Ställe, auf Heuböden und ſchrieen wieder zu allen Lücken 
heraus: „Adur zieh!“ Kam nun einmal der Hofmeiſter oder der 
Bediente vom Schloß zu ſolchem Unfug, ſo ſetzte es wohl ein paar 
Ohrfeigen für die, die man erwiſchen konnte; auch wurden in der 
Schule große Strafen auf Wiederholung dieſer Unarten angeſetzt, im 


182 Emma's Pilgerfahrt. 


Ganzen aber nahm ſich doch niemand ernſtlich des armen Jungen 
an, und der rohe Spaß begann immer wieder von Neuem. 

Emma hatte großes Mitleid mit dem armen Arthur, obgleich 
ſie eine gewiſſe Scheu vor ihm fühlte. Oft bat ſie die Dorfkinder, 
ihn in Ruhe zu laſſen, und ſie mochte gar nicht mehr ſo gern mit 
ihnen ſpielen, weil ſie ihr das nicht zu liebe thaten. 

Sie war auch nicht mehr ſo ſpielluſtig wie früher; der Onkel 
Kaufmann, der oft lange nicht an ſeine Schweſter und Nichte dachte, 
hatte ſie ganz unerwartet mit einer Sendung ſchöner Bücher erfreut, 
und ſie hatte ein köſtliches Leſeplätzchen entdeckt, wo ſie von nun an 
am liebſten ihre Freiſtunden zubrachte. Dieß Leſekabinet war ein 
Raſenplätzchen am Bachufer unter einer ſchattigen Erle; da wehten 
fo fanfte Lüftchen, das Bächlein murmelte, die Bienen und Käfer 
ſummten um ſie herum, das Ufergebüſch rauſchte leiſe, — für einen 
Traurigen und Müden wäre es ein liebliches Schlummerplätzchen ge⸗ 
weſen; aber Emma war nicht traurig und nicht müde. In den 
Büchern, die ihr der Onkel ohne ſonderliche Auswahl geſchickt, Mär⸗ 
chen, Gedichte, Geſchichte und Geſchichten, gingen ihr neue Welten 
auf: ferne Zeiten, fremde Lande, allerlei bunt wechſelnde Lebensge⸗ 
ſchicke, — das alles lebte ſie durch auf dem grünen Raſenſtückchen 
am Erlenbache. | 

Eben ſaß fie recht vertieft in ein ſchönes Buch, das dazu noch 
hübſche, farbige Bilder hatte, als ſie hinter ſich im Gebüſche rauſchen 
hörte. Sie drehte den Kopf und fuhr ein klein wenig zuſammen, 
als der blöde Arthur vom Schloß hinter ihr ſtand; ſie hatte immer 
eine leiſe Scheu vor ihm empfunden, und gerade jetzt war's ihr ganz 
und gar ungeſchickt, unterbrochen zu werden. Aber ſie hatte doch auch 


Emma's Pilgerfahrt. 183 


tiefes Mitleid mit dem elternloſen Kinde, ſo arm in all ſeinem 
Reichthum, und wie er ſo ſchüchtern ſtehen blieb und zu ihr hinüber 
ſah, fiel ihr ein Wort ihrer Mutter ein: „verſäum' nie eine Liebe, 
die Du einem andern erweiſen kannſt; keine Arbeit und kein Ver— 
gnügen freut dich nachher ſo, als eine Liebe und Freundlichkeit, mit 
der Du ein Herz erfreut haſt.“ 

So ſah ſie denn vom Buch auf, obgleich die Geſchichte darin 
eben wunderſchön war, und winkte ihm herzukommen; langſam, faſt 
ängſtlich näherte ſich der verſchüchterte Knabe, Emma zeigte ihm ein 
ſchön gemaltes Bild in ihrem Buch und lockte ihm wieder; er ſetzte 
ſich endlich neben ſie, betrachtete mit einer Art von Wohlgefallen 
die farbigen Bilder, obwohl er nicht viel davon zu verſtehen ſchien; 
ohne daß er es deutlich fühlte, that ihm die Nähe eines freund— 
lichen, liebevollen Weſen wohl, er fühlte dieſe Freundlichkeit wie ein 
krankes Vögelein die Sonne, mit unbewußtem Behagen. Seit ſeiner 
Mutter Tod hatte er keine Liebe mehr erfahren; man war ihm nicht 
hart begegnet, man hatte verſucht, ihn zu unterrichten, aber recht 
lieb gehabt hatte ihn niemand mehr. 

Emma hatte bald ihre anfängliche Scheu überwunden im Mit⸗ 
leid mit dem armen Knaben; ſeine Unwiſſenheit, als ſie verſuchte 
ihm das Buch zu zeigen, war ihr faſt ſpaßhaft; er ſprach langſam 
und deutlich, wie man ihn in der Heilanſtalt gelehrt hatte, aber er 
behielt durchaus die Namen der Gegenſtände nicht; „das iſt ein 
Baum und das iſt ein Haus,“ erklärte ihm Emma, aber er ver— 
wechſelte es zehnmal wieder und deutete auf das verkehrte: „das 
Haus, das Baum.“ Emma aber wurde nicht ungeduldig, ſie führte 
ihn vor einen wirklichen Baum, ließ ihn anfühlen, ſchüttelte ihn end— 


184 Emma's Pilgerfahrt. 


lich, und da es ein Bäumchen mit Holzbirnen war, praſſelten ihm 
einige auf den Rücken; das begriff er nun mit kindiſchem Lachen, 
wie man es ſelten von ihm gehört hatte, und von da an ſagte er, 
ſo oft er einen Baum ſah, mit Lachen: „das Baum, das Rücken 
klopft.“ | 5 

Arthur wäre wohl lange noch bei Emma geblieben, wenn ihn 
nicht der Diener vom Schloſſe zum Abendeſſen geſucht hätte; er 
ſchien ſich ungern von ſeiner neuen Gefährtin zu trennen und wandte 
den Kopf ein paarmal nach ihr um. Das wunderte den Diener, 
man hatte noch nie bemerkt, daß Arthur an jemand Anhänglichkeit 
gezeigt hatte, ſeit man ihn vor ſieben Jahren gewaltſam von dem 
Sarge ſeiner Mutter losgeriſſen, — doch der Bediente hatte ſich nie 
viel darum bekümmert, was der junge Baron trieb; in der Stadt 

war es ihm und ſeinen Genoſſen ein geheimer Triumph geweſen, 
| daß vornehmer Leute Kinder auch jo dumm fein könnten; hier war 
er verdrießlich, daß er, ein fo gebildeter Menſch, der ſich Jean le Cocg 
nannte, obgleich er eigentlich Johannes Gokeler hieß, ſich allein unter 
den ungebildeten Dorfleuten herumtreiben ſolle; der junge Baron 
hatte ſeines Erachtens nichts nöthig, als daß man ihn gut kleidete 
und gut fütterte bis zu ſeinem Tode. 

Am nächſten Tage hatte Emma ein hübſches ABC-Buch mit 
Bildern mitgebracht, das ſie von ihrer Kindheit her noch ſorgfältig 
verwahrte; ſie hatte richtig vermuthet, daß ihr großer Schüler ſich 
auch heute wieder einfinden werde, und wirklich, er kam faſt zur 
gleichen Stunde wie geſtern; zuerſt wieder etwas ſchüchtern, bald aber 
wurde er zutraulicher und zeigte ihr einen Baum mit ſichtlichem Ver⸗ 
gnügen „das Baum.“ Emma nickte ihm freundlich zu, ſie zeigte 


Emma's Pilgerfahrt. 185 


ihm ein neues Bild und wiederholte ihm ſeine Benennung, bis er 
ſie ſelbſt wußte; ſie zeichnete ihm das Bildchen auf ein Blatt Papier 
vor, ſo gut ſie es konnte, und war verwundert, daß er es hübſch 
nachzeichnen konnte: eine Geſchicklichkeit, die ſich manchmal bei ſchwach⸗ 
ſinnigen Kindern findet. | 

So bildete ſich das Zuſammentreffen der Kinder allmählig zu 
einer Lehrſtunde, die bald Emma kein Opfer mehr koſtete; die rüh⸗ 
rende Anhänglichkeit des einſamen Knaben mußte ihr wohl thun, 
und es war eine wunderbare Freude, wenn ſie fühlte, daß es ihr 
gelungen war, ein Lichtfünklein in dieſer verſchloſſenen Seele zu wecken. 

Emma hatte natürlich der Mutter von ihrem neuen Zögling 
erzählt; die Schulmeiſterin belauſchte einigemal die Kinder; es war 
gar nett, wie Emma ſo geduldig und freundlich war und mit wie 
viel Vertrauen und Liebe der arme Knabe zu feiner jungen Lehr- 
meiſterin aufſah. 

Die gute Frau hatte immer tiefes Bedauern mit dem Kinde 
gefühlt und ſie machte ſich in der Stille oft ihre Gedanken darüber, 
daß man bei einem ſo reichen, vornehmen Kinde nicht mehr verſuche, 
ſeinen Geiſt aufzuwecken; ſein Geſicht war, wenn auch einfältig im 
Ausdruck, doch nicht wie das eines völlig Blödſinnigen. 

Das war nun freilich eine unheimliche Geſchichte. Arthurs ein— 
ziger Verwandter war Baron von Stein, ſein Onkel; dieſer war nicht 
reich und hatte viele Kinder: wenn Arthur früh ſtarb, oder wenn er 
nicht ſelbſt die Güter verwalten konnte, ſo fielen ſie an den Onkel. 

Wie der Notar geſagt, war der Knabe in den erſten Lebens— 
jahren ſchwer krank geweſen und er konnte, auch als er wieder geſund 
war, nicht ſprechen und lernen wie andere Kinder. Seine Mutter 


186 Emma's Pilgerfahrt. 


allein wollte nicht glauben, daß ihr einziges Kind blödſinnig ſei. 
„Habt nur Geduld,“ ſagte ſie, „gewiß gelingt es meiner Liebe noch, 
ihn aufzuwecken!“ 

Aber die gute Mutter ſtarb und der Onkel wurde Arthurs Vor⸗ 
mund. Niemand weiß, ob er fo gewiſſenlos war, daß er wünſchte, 
das Kind ſolle nicht zu Verſtand kommen, oder ob er wirklich glaubte, 
es ſei ihm nicht zu helfen. 

Arthur wurde in eine Anſtalt für Blödſinnige gebracht; hier 
aber, unter Kindern von abſchreckendem Ausſehen, die zum Theil 
ganz ſtumpf und thieriſch waren, wurde es viel ſchlimmer mit ihm 
und er entlief. 

Man ſchickte ihn in eine Schule; hier, unter kräftigen, lebhaften 
Kindern wurde Arthur nur blöder und ſcheuer. „Mit dem Buben 
iſt nichts zu machen,“ ſagte der Onkel, „am Beſten iſt, man ſchickt 
ihn auf das Schlößchen nach Kühlenbronn und gibt ihm einen Hof⸗ 
meiſter mit, dort kann er ſeine Lebtage bleiben; die Güter kann er 

ja doch nie übernehmen.“ 

Dem Hofmeiſter ſagte man, er habe nur zu ſorgen, daß dem 
Knaben kein Leid geſchehe. Er war nicht gewiſſenhaft und hatte keine 
Liebe zu dem Kinde; es war ihm lieb, daß er Arthur konnte ſeiner 
Wege gehen laſſen, er machte ſeine Beſuche und kleine Reiſen in der 
Nachbarſchaft und bekümmerte ſich wenig um ſeinen Zögling. 

In dem Verkehr mit Emma ſah er ein Spiel, das er dem 
Blödſinnigen wohl gönnen mochte; da Arthur gegen alle Welt ſo 
ſcheu und blöde blieb wie zuvor, ahnte er gar nicht, wie durch die 
anſpruchloſe Herzenswärme eines Kindes ganz leiſe und allmälig die 
Rinde um die Seele des Knaben ſchmolz. 


Emma’s Pilgerfahrt. | 187 


Emma war durch ihre Bemühungen um Arthur immer mehr 
von dem Verkehre mit den Dorfkindern los geworden. Sie fand 
ohnehin weniger Freude an lauten Spielen, ſeit ſie älter wurde, und 
ſeit die Vorbereitung zu der Confirmation begonnen hatte. Mit 
aller Innigkeit eines jungen, friſchen Herzens nahm ſie die heilige 
Lehre des Evangeliums auf; ſie hatte ſeither mit der Mutter gebetet, 
mit der Mutter in Gottes Wort geleſen, aus frommer Gewohnheit 
und kindlichem Gehorſam ihrer Vorleſung aus frommen Büchern ge- 
lauſcht, auch wenn ihre Gedanken nicht immer folgen konnten. Jetzt 
aber ging ihrer Seele ein eigenes neues Leben auf; ſie fühlte, daß 
der Heiland, den man ſie von Kind auf lieben gelehrt, auch ihr 
Heiland, ihr Erlöſer ſei, und ſie ahnte, was es heiße, den guten 
Kampf des Glaubens zu kämpfen und berufen fein zu einem unver- 
gänglichen, unverwelklichen Erbe. | 

Dies neue Leben keimte ſo ſtill in ihrer jungen Seele, fie konnte 
mit niemand davon reden; aber ſie fühlte oft einen innern Frieden 
und eine Seligkeit, die ſie aller Welt hätte mittheilen mögen. Aber 
ſie hatte gehört, daß Gott den Unmündigen geoffenbart, was er den 
Weiſen und Klugen verborgen habe, und ſie fühlte doppelten Eifer 
den armen Arthur zu dem Herrn zu führen, der die Kinder zu ſich 
gerufen. 

Was fie ihm aus dem Religionsunterrichte mittheilen wollte, 
verſtand er zuerſt nicht recht; aber er behielt leicht Liederverſe und kurze 
Sprüche, und ſchien Freude daran zu finden. Die Mutter bewahrte 
eine alte Bibel auf mit ſchönen, gemalten Bildern: das Erbe eines 
Ahnherrn, der Pfarrer geweſen; es war das Heiligthum des Hauſes, 
das Emma nur an hohen Feſten hatte ſehen dürfen; ſie erlangte end— 


188 Emma’s Pilgerfahrt. 


lich von der Mutter, daß fie ihr dies Kleinod anvertraute. Wenn 
ſie Arthur die Bilder zeigte und er ſo ſtill und aufmerkſam zuhörte, 
ſo meinte ſie oft, er müſſe innerlich ſchon mehr verſtehen davon, als 
er ausſprechen könne. | 

In der nächſten Lehrſtunde beim Pfarrer kam Emma eine Weile 
vor den Andern und begann ſchüchtern: „Lieber Herr Pfarrer, haben 
Sie nie mit dem jungen Baron Arthur geſprochen?“ 

„O ja, Kind, er war hier mit ſeinem Hofmeiſter, es iſt Schade 
um einen ſo wohlgebildeten Knaben; ein Glück, daß er wenigſtens 
leiblich gut verſorgt werden kann.“ 

„Lieber Herr Pfarrer,“ fuhr Emma fort, „ich meine, er iſt ge⸗ 
wiß nicht ſo blödſinnig, wie man glaubt; er weiß und verſteht Vieles, 
und — gewiß, Herr Pfarrer, was Sie ihm vom lieben Gott ſagen, 
würde er alles verſtehen lernen.“ 

„Ich glaube, daß du dich täuſcheſt, Kind,“ ſagte der Pfarrer, 
ein ſtiller, einfacher Mann, der in langer Zurückgezogenheit von der 
Welt auch nicht an ihre Ränke und Tücken glauben gelernt hatte; 
„ſein Hofmeiſter verſichert mich, daß von keinem Unterrichte bei ihm 
die Rede ſein könne. Was meinſt du, du einfältiges Mägdlein, daß 
nicht mit dem Erben ſo großer Güter ſchon Alles verſucht worden 
iſt, ſeinen Geiſt zu wecken? — Ich will übrigens mit dem Hof⸗ 
meiſter reden und einen neuen Verſuch mit dem Knaben machen,“ 
ſetzte er hinzu. 

Etwas beleidigt, daß man Mißtrauen in ſeine Angaben ſetze, 
kam der Hofmeiſter auf die Bitte des Pfarrers mit ſeinem Zögling; 
die Herrn befragten den Knaben über allerlei, auf verſchiedene Weiſe. 
Aber es ſchien, daß nur Emma's freundliche Augen, ihre ſanfte Stimme 


Emma's Pilgerfahrt. 189 


den Schlüſſel zu ſeiner Seele hatten; bei den Männern blieb er 
ſtumm, wurde ängſtlich und verlegen, und der Pfarrer ſah beſtätigt, 
daß das Mädchen ſich geirrt hatte. 

So gingen die Lehrſtunden der Kinder wieder in der Stille fort; 
ſie waren für Emma eine wirkliche Freude, für den Knaben aber 
die Quelle einer tiefen innerlichen Glückſeligkeit, von der Keines einen 
Begriff hat, das mit klarem Geiſte unter treuen, liebenden Herzen 
aufgewachſen iſt. Das Raſenplätzchen im Erlengebüſche war für Arthur 
die ganze Welt; er ſchmückte es auf alle Weiſe, er ruhte da am lieb⸗ 
ſten, auch allein, wenn Emma bei der Mutter war; da konnte er 
ſtundenlang auf dem Rücken liegen und zum klaren blauen Himmel 
hinaufſchauen, wo ihn Emma gelehrt hatte, einen guten Vater und 
eine ewige Heimath zu ſuchen, und traumartige Gedanken, die er noch 
nicht ausſprechen konnte, zogen durch ſeine Seele wie Lichtwellen, die 
mehr und mehr die Dämmerung ſeines Innern zertheilten. 

Im Herbſte wurde Emma confirmirt, Arthur ſah ſie wenig in 
dieſen Tagen; an dem Sonntage aber, wo ſie mit ihrer Mutter von 
der erſten Communion zurückkam, ſuchte ſie ihn wieder an dem alten 
Plätzchen; da ſaß er, ſtill und traurig mit dem Buche, mit dem er 
ohne Emma noch immer nicht viel anzufangen wußte. 

Mit all der ſtillen, friedevollen Seligkeit in ihrem Herzen, faßte 
ſie auf's Neue ein tiefes Erbarmen, wenn ſie dachte, wie niemand 
dem armen Knaben hier helfen wolle zu dem Lichte, in dem ſie nun 
jo glücklich war; wie ſollte fie, ein ſchwaches Kind, allein das an— 
greifen? Da kam aber eine innige Zuverſicht über ſie; „Gott will 
nicht, daß jemand verloren werde,“ tönte es in ihrer Seele jo zuver— 
ſichtlich. „Komm, Arthur, wir wollen beten,“ ſagte ſie ſanft zu ihm, 


190 Emma's Pilgerfahrt. 


und zum erſtenmale kniete ſie unter freiem Himmel nieder, und ſie 
betete ſtill aus der Tiefe ihres kindlichen Herzens, daß Gott auch dieſe 
Seele zu ſich rufen, ihr auch hier ſchon das Licht des Geiſtes möge 
aufgehen laſſen und ihr die Schönheit und Seligkeit eines gottge⸗ 
weihten Lebens klar machen möge. Arthur kniete ſtill an ihrer Seite, 
es durchwehte ihn ein heiliger Schauer; er wußte wohl ſeine Gedanken 
nicht in Worte zu faſſen, aber ſein Herz betete mit, und es gibt ein 
Ohr, das den leiſeſten Seufzer vernimmt. 


Der Abſchied. 


Die Abende wurden länger, die Tage kühler; Emma konnte im⸗ 
mer ſeltner an das Erlenplätzchen kommen, obgleich Arthur in Sturm 
und Regen noch ſich dort einfand und ſtundenlang auf ſie wartete. 
Allmälig konnte ſie ihn bewegen, mit ihr in der Mutter Stube zu 
kommen; an dem behaglichen runden Tiſche, bei dem trauten Oel⸗ 
lämpchen neben dem Spinnrädchen der Mutter wurden die Lectionen 
wieder fortgeſetzt; die Mutter miſchte auch hie und da ein Wörtchen 
drein und ſuchte dem Schüler nachzuhelfen. Arthur war gerne da, 
aber — mit dem Lernen wollte es doch nicht recht mehr gehen, ſeit 
ſie nicht mehr allein waren: er wurde wieder ſtill und ſcheu; nur 
wenn manchmal Emma das Strickzeug weglegte, ſich in den alten, 
ledernen Lehnſtuhl ſetzte, der im Dunkel hinter dem Ofen ſtand und 
ihm rief: „komm, Arthur, ich erzähl' Dir was!“ ſo ſetzte er ſich 
eilig auf einen hölzernen Schemel zu ihren Füßen, und lauſchte auf 


Emma’s Pilgerfahrt, 191 


ihre Worte mit einer athemloſen Begier, die zeigte, daß ſie doch ein 
Intereſſe in ihm anregten. 

Der Pfarrer hatte früher Emma geſagt: „ſieh, ſo lang der 
Knabe kein rechtes, herzliches Lachen kennt, ſo lang er nicht weinen 
kann, jo lange iſt auch fein Geiftes- und Gemüthsleben nicht wach.“ 
Nun hatte ſie ihn ſchon manchmal wirklich und herzlich lachen hören; 
geweint hatte er aber noch nie, wenn er auch ſchon traurig ausge- 
ſehen; — es war ihr oft, als ſei nur noch Eine Mauer zu durch— 
brechen, um das klare Licht des Bewußtſeins, des Erkennens in ſeine 
Seele dringen zu laſſen; und ſie hatte niemand, der dazu helfen 
könnte! Weil der Pfarrer ſo viel Gewicht darauf gelegt hatte, daß 
Arthur noch nie Thränen vergoſſen, ſo meinte ſie nun immer, wenn 
er nur weinen könnte, ſo wäre ſchon etwas gewonnen. Sie erzählte 
ihm die traurigſten Geſchichten, ſo traurig, daß ſie ſelbſt weinen 
mußte, — er ſah ſie auch recht betrübt dabei an, aber eine Thräne 
ſah ſie nie in ſeinem Auge. 

Ach, die arme Emma ſollte bald genug ernſtlichen Grund zum 
Weinen bekommen! Ihre Mutter wurde krank, ſo ernſtlich, daß Emma 
bald all ihre Zeit an ihrem Bette zubringen mußte, in großen Sorgen 
und viel innerer Herzensnoth, da der Arzt weit entfernt war und 
ſelten kam. 

Auch Arthur mochte nicht mehr draußen ſein; er kam täglich 
herunter, ſetzte ſich in eine Ecke des Zimmers und ſah nach dem 
Krankenbett gegenüber, eifrig bemüht, Emma alles zuzutragen, was 
die Kranke wünſchte; wenn ihm Emma von der Krankheit der Mutter 
erzählte, hörte er betrübt und aufmerkſam zu, aber er weinte nie. 

Er weinte nicht, als die Kranke ſchlimmer und ſchwächer wurde, 


192 Emma's Pilgerfahrt. 


als er Emma bitter ſchluchzend am Bette knieen ſah, als die Mutter 
die Hand auf ihr Haupt legte und leiſe ſagte: „Gott ſegne dich, mein 
Kind, und laſſe dir's wohl gehen, du haſt mich nie betrübt;“ er 
weinte nicht, und doch war Emma, als er ſie ſo traurig anſah, als 
verſtehe er all ihr tiefes Leid, und nur dies Band, das letzte Band, 
das ſeinen Geiſt hielt, wolle nicht ſpringen! | 

Die Erde begann wieder zu grünen und die Veilchen blühten, 
als man von dem kleinen Häuschen den Sarg wegtrug, in dem die 
Mutter, Emma's einziges und liebſtes Gut, zu Grabe getragen 
wurde. Der Onkel war aus ſeinem fernen Wohnorte gekommen, 
um ſeiner Schweſter das letzte Geleit zu geben und ſich des ganz 
verwaisten Kindes anzunehmen. Viele Dorfbewohner folgten der 
Leiche, zuletzt auch Arthur, ſtill, mit gefalteten Händen; er konnte 
noch nicht recht begreifen, was es war, er ſchaute wieder traurig und 
verwundert auf Emma, die ihr Geſicht tief in das weiße Tuch ver⸗ 
barg und ſich kaum aufrecht halten konnte, als man den Sarg ver⸗ 
ſenkte, — aber er weinte nicht. 

Er folgte Emma, als ſie mit dem Onkel in das verödete Haus 
zurückkehrte; aber der fremde Mann machte ihn ſchüchtern, er wagte 
nicht einzutreten. 

„Mein liebes Kind,“ ſagte andern Tags der Onkel zu Emma, 
„deine Betrübniß iſt ſehr natürlich; aber ich denke, es iſt das Beſte, 
dich ſobald als möglich von dieſem Orte loszureißen, wo dich Alles 
traurig macht. Den Verkauf der Sachen hier will ich in Bälde be⸗ 
ſorgen laſſen; du kommſt zunächſt mit mir, es muß jetzt etwas Ernſt⸗ 
liches für deine Ausbildung geſchehen, damit du im Stande biſt, dir 
ſpäter ſelbſt fortzuhelfen.“ 


Emma’s Pilgerfahrt. 193 


„So ſoll ich nicht mehr hieher kommen, gar nie mehr?“ fragte 
Emma erſchrocken. 

„Was ſollteſt du hier noch thun?“ fragte der Onkel verwundert; 
„es wäre klüger geweſen, deine Mutter hätte früher ſchon ihre An— 
hänglichkeit an dies Neſtchen aufgegeben, ſchon um deinetwillen. Kann 
ja wohl ſein, daß ſich's ſpäter einmal ſchickt, einen Beſuch hier zu 
machen; jetzt iſt's das Geſcheidteſte, ſo raſch als möglich aufzubrechen; 
Zeit iſt Gold für mich. Pack heute deine Sächlein zuſammen, nur 
nicht allzuviel, wir haben nicht überflüſſig Raum bei mir zu Haus; 
morgen früh um ſieben reiſen wir ab.“ 

Die arme Emma war ganz betäubt von dieſem plötzlichen Be⸗ 
fehle. Sie hatte ſeit der Mutter Krankheit und Tod ſich noch gar 
keine klare Vorſtellung von ihrer Zukunft gemacht, — ſie hatte ſich 
etwa gedacht, ſie werde nun eben allein, ganz allein in dem Häuschen 
bleiben, ihr Gärtchen pflegen, mit Arthur leſen und zur Kirche gehen 
wie ſonſt; jetzt war's ihr, als ob ihr Leben entzwei ginge mit dieſer 
Trennung. | 

Arthur ſaß unter dem Erlengebüſche früh am Morgen des an- 
dern Tages, als Emma ſeit langem wieder zu ihm kam. Sie kam 
nicht von ihrer Mutter Hütte her, ſie war ſo frühe ſchon im obern 
Dorfe geweſen und hatte von dem Pfarrer Abſchied genommen; auch 
hatte ſie ihn gebeten, ſich doch Arthurs anzunehmen, wenn ſie nicht 
mehr da ſein würde, und noch einmal zu verſuchen, ob er nicht auch 
gegen ihn vertraulicher werde. 

Nun kam ſie mit ihrem leiſen, leichten Tritte, bei dem ſich im— 


mer des Knaben Geſicht aufheiterte, und bot ihm freundlich ihre Hand. 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 13 


194 Emma’s Pilgerfahrt. 


„Kommſt Du jetzt wieder, Emma, und ift der ſchwarze Mann 
fort, der bei Dir war?“ fragte Arthur. 

„Der ſchwarze Mann iſt mein Onkel,“ ſagte Emma, „und — 
Arthur, lieber Arthur, ich muß mit ihm und fort von hier,“ ſetzte ſie 
zögernd hinzu; „ich kann nicht mehr zu Dir kommen.“ 

„Du, fort? ganz fort?“ fragte Arthur wie betäubt; einen ſo 
lebendigen Ausdruck der wahrſten Betrübniß hatte Emma nie auf 
ſeinem Geſichte geſehen. „Emma, iſt das denn wahr? wie iſt das 
denn?“ und faſt angſtvoll blickte er ſie an, ſo daß ihr weiches Herz 
ihr weh that. 

„Ich gehe fort, Arthur,“ ſagte ſie wieder mit ſanfter Simme, 
„und ich weiß nicht, wann ich wieder komme; aber der Vater im 
Himmel bleibt bei Dir, immer, immer, wenn Du ihn auch nicht 
ſiehſt, und er hört Alles, was Du mit ihm ſprichſt. Sage ihm nur 
Alles, was Dich betrübt, und ſprich auch mit Andern, wie Du mit 
mir geſprochen haſt, wenn ich nicht mehr bei Dir bin; Arthur, lieber 
Arthur, gib mir noch die Hand! Gott behüte Dich, leb' wohl!“ 

Und ſie ſchied von ihm, nicht wie ein Kind von einem Geſpielen, 
nicht, wie man von einem Freunde ſcheidet, — faſt wie eine Mutter 
von einem Kinde geht. Ein kleines Mütterlein war ſie ja für ihn 
geworden in all ihrer kindlichen Einfalt und Anſpruchloſigkeit. Das 
Herz that ihr ſo weh, und hätte ſie nicht vom Häuschen her den Ruf 
des Onkels gehört, ſie hätte ſich nicht losreißen können. 

Arthur hatte ihr ſtumm die Hand gegeben, er folgte ihr von 
ferne, als ſie ſich losriß; eine gewaltige Bewegung, wie er ſie nie 
empfunden, ging durch ſeine Seele: ihm war, als ſollte er laut auf⸗ 
ſchreien, und doch wollte er, daß keine Seele einen Laut von ihm 


Emma’s Pilgerfahrt. 195 


höre; — Niemand beachtete den Knaben, als Viele noch grüßend den 
Wagen des Onkels umringten, der in einiger Entfernung von dem 
Häuschen hielt, um der weinenden Emma Lebewohl zu ſagen; Emma 
allein ſah ihn, wie er unbewegt an der Thüre des Häusleins lehnte 
und dem Wagen nachſah, ſo lange er konnte. 

Eine Stunde darauf ging der Pfarrer in Amtsgeſchäften durch 
das Dorf. Es war ſtill auf den Straßen, da die meiſten Leute 
draußen mit Feldarbeit beſchäftigt waren. Wie er an dem Häuschen 
der Wittwe vorüberging, hörte er laut und heftig ſchluchzen; er trat 
näher und erkannte den jungen Baron, der auf der Schwelle ſaß, — 
er hatte das Geſicht in die Hände verborgen und weinte, weinte heiß 
und bitterlich. 

„Was haben Sie, lieber Arthur?“ fragte überraſcht und bewegt 
der Pfarrer in einem liebevollen Tone, der aus dem Herzen kam. 

„Emma iſt fort,“ ſagte Arthur zu ihm aufſchauend mit einem 
Blicke, der noch durch die Thränen klarer war, als der Pfarrer je 
einen von ihm geſehen. „Sie werden darum nicht verlaſſen ſein,“ 
ſagte mitleidig tröſtend der Pfarrer. 

„Nein,“ ſagte Arthur einfach, „der Vater im Himmel iſt bei mir.“ 

Wie ein Wunder klangen dem Pfarrer dieſe Worte, ſo einfach 
und doch mit klarer Zuverſicht geſprochen, von den Lippen des Blöd— 
ſinnigen. War ein Wunder geſchehen? Hatte Emma doch recht ge— 
habt, oder hatte das tiefe Leid um den Verluſt ſeiner einzigen Freundin 
das letzte Band zerriſſen, mit dem ſein Geiſt noch gebunden war? 

Eine tiefe innige Theilnahme mit dem Knaben ergriff ihn; er 
beſchloß, ſich ſein mit ganzer Seele anzunehmen. „Kommen Sie mit 
mir, Arthur,“ bat er freundlich, „ich will Ihnen von Emma er— 


196 Emma's Pilgerfahrt. 


zählen.“ Der Herzensinſtinkt, die rechte Liebe zu dem Verlaſſenen, 
die allein den Schlüſſel zu dieſem verſchloſſenen Garten hatten, waren 
mit Einemmale in ihm erwacht, und ſtaunend ſahen die Leute den 
blödſinnigen Baron und den Pfarrer wie Vater und Sohn ver in 
Hand in's Pfarrhaus hinauf gehen. 


Der Eintritt in die Welt. 


Emma hatte einmal geleſen, daß in der Reihe der Planeten 
vier Sterne ſind, ſo klein, daß man glaubt, ſie ſeien Theile Eines 
Sternes, der durch eine gewaltige Umwälzung einmal zerſprengt wor⸗ 
den ſei, und ſie hatte ſich's damals in ihrer kindlichen Einfalt gar 
traurig gedacht, wenn auf einem Theile vielleicht Eltern, auf dem 
andern die Kinder geblieben ſeien, die nun nie und nimmermehr wie⸗ 
der zuſammenkommen könnten. 

Faſt war ihr jetzt, als ſei ſie auch auf ſo einem geſpaltenen 
Stern, und der andere Theil, auf dem die Heimath ihrer Kindheit 
ſtand, ſei durch eine unermeßliche Kluft von ihr getrennt. So gar 
nichts hörte ſie mehr von dem ſtillen Kühlenbronn, ſo ganz und gar 
anders war hier alles, als ſie es gewöhnt geweſen war. 

Als Kind hatte ſie gar oft und viel gewünſcht, einmal den Onkel 
beſuchen zu dürfen, damit ſie auch eine große Stadt ſähe; die Mutter 
hatte ihr's auch verſprochen, hatte aber ein Jahr wie das andere ſie 


Emma's Pilgerfahrt. 197 | 


vertröſtet: „warte nur, Kind, ich gehe ſelbſt mit dir, für dich allein 
iſt die Reife zu weit,“ und Jahr für Jahr war ſie nicht dazu ge: 
kommen, — ſo ſah denn Emma die große Stadt, das Haus des 
Onkels, die Tante und ihre Vetter und Baſen zum erſtenmale. 

Sie war nicht ungütig aufgenommen worden, nur hatte man 
überhaupt faſt gar nicht Zeit, ſie aufzunehmen. 

„Hier bringe ich Dir die Waiſe meiner Schweſter,“ ſagte Herr 
Nägelbach zu feiner Frau, als er ſpät am Abend mit der betrübten 
Emma von der langen Fahrt ankam. 

„Schön, gut, mein Kind,“ ſagte dieſe, eine ſtattliche Dame, 
nicht ſo elegant, als Emma ſich die Tante gedacht; „da, Guſtav, 
Oskar, Eliſe, Paulinchen, grüßt die Couſine, Liſette, bring Thee, 
Marie, Schinken für den Herrn! So, Lieber, ſchön, daß Du kömmſt, 
der Buchhalter hat dreimal gefragt. Alſo Deine gute Schweſter iſt 
todt? Ein großer Verluſt für dich, mein Kind, leg' doch deinen Hut 
ab! Recht gut, daß die gute Frau nicht lange zu leiden hatte, auch 
für Dich, Lieber: ſo konnteſt Du doch gleich das Leichenbegängniß 
beſorgen, zweimal zu reiſen wäre faſt nicht möglich geweſen. So, 
Kind, trink Thee, Liſette, ſieh nach im Gaſtzimmer und rüſte ein 
Bett; das Unſchlitt wird noch oben ſein zum Lichtergießen, das thuſt 
Du bei Seite; entſchuldige, Lieber, aber ich muß den Schneider 
draußen ſprechen wegen Eliſens Kleid, dieſe Leute ſind nur noch bei 
Nacht zu haben.“ 

So ging es fort bei der Tante in Einem athemloſen Zuge; 
Emma hätte nicht nöthig gehabt, bange zu ſein, was ſie reden ſolle, 
— ſie wäre gar nicht zu Worte gekommen, wenn ſie noch ſo viel 
gewußt hätte. 


n. 


198 Emma's Pilgerfahrt. 


Es fand ſich, daß im Gaſtzimmer auch die Bettſtellen abge⸗ 
ſchlagen waren, da Tante ſie nach einem neuen Recepte ſelbſt poliren 
wollte; ſo bekam Emma endlich nach Mitternach ein Ruheplätzchen 
auf einem Sopha, wo ſie aber früh am Tage wieder aufgeſtöbert 


wurde, da eben in dem Zimmer, wo ſie lag, der Fußboden braun 


gewichst werden ſollte. 

Madame Nägelbach, Emma's Tante, wurde allgemein bewundert 
als eine überaus praktiſche, vielſeitige Frau, und Emma, an das ſtille 
Weſen, an die äußerſt ruhige, gleichförmige Thätigkeit ihrer Mutter 
gewöhnt, kam anfangs gar nicht zu ſich ſelbſt vor Erſtaunen, daß 
ein einziger Menſch ſo viel und ſo vielerlei thun und denken könne. 
Wenn ſie morgens vor Tag die Tante mit Mannsſtiefeln durch das 


naſſe Gras im Garten ſchreiten ſah, um ſelbſt Obſt aufzuleſen, weil 
es ihr die Dienſtboten nicht pünktlich genug machten, und dieſelbe 


Tante Abends dann im rauſchenden Seidenkleide mit einer prachtvollen 


Blondenhaube, die ſie ſelbſt geſtickt hatte, in Geſellſchaft ging, konnte 


ſie kaum glauben, daß das noch die nämliche Perſon ſei. 

Den Hauptwerth einer Hausfrau ſetzte die Tante darein, daß 
Alles im Hauſe ſelbſt gemacht werde; nicht nur ſelbſt geſponnen und 
genäht, ſelbſt gebacken und ſelbſt geſchneidert, nein, es ſollte auch im 
Hauſe ſelbſt geſchlachtet, Lichter gezogen und Seife gemacht werden. 
Sie brannte ſelbſt die Weinfäſſer aus, ſie ließ unter ihrer Anleitung 
die Magd Verſuche im Ofenputzen machen, da es ihr der Hafner 
nicht recht machte; ſie kaufte ſelbſt Leder und nahm den Schuſter in's 
Haus, um, den Knaben wenigſtens, die Stiefeln unter eigner Aufficht 
machen und flicken zu laſſen. Die Mädchen, die mußten allerdings 
elegante, gekaufte Stiefelchen tragen; denn die Tante wußte recht 


Emma’s Pilgerfahrt. 199 


wohl, was zu einer eleganten Dame gehörte und verſtand Geheim⸗ 
niſſe der Toilette, von denen Emma irn ihrer ländlichen Einfalt nie 
etwas geahnt hatte. Sie färbte auch ſelbſt Kleider und Bänder, 
ſtellte große Seidenwäſchen an und hatte Schwefelkaſten, wo Stroh- 
hüte ſebſt gebleicht wurden. 

Dem Onkel rechnete ſie beſtändig vor, wie groß der Gewinn 
von ihren Unternehmungen ſei. So ſehr dieſer aber die Thätigkeit 
und den unternehmenden Geiſt ſeiner Frau bewunderte, meinte er 
doch in der Stille, der Vortheil ſei ſo gar groß nicht: um all dieſe 
Leiſtungen auszuführen, brauchte fie doch wieder eine Menge Diener- 
ſchaft oder ſtrengte die Leute, die ſie hatte, übermäßig an; was bei 
ihren Verſuchen zu Grunde ging, das natürlich nahm ſie nicht mit 
in Berechnung. Auch wurde trotz ihrer Umſicht doch gar oft das 
Eine über dem Andern vergeſſen; während ſie Möbelpolitur, Tinte 
und Stiefelwichſe fabricirte und Maisſtroh ſchleißen ließ, um Ma⸗ 
tratzen daraus zu machen, fraßen die Mäuſe das Unſchlitt im Gaſt⸗ 
zimmer, und die Katze brachte ihre Jungen in die Gaſtbetten, die 
ohne Bettſtelle herumgeſchoben waren. In lauter Beſtreben, Alles 
recht ſchön geordnet, vortheilhaft und bequem zu machen, kam man 
gar nie zur Ruhe und feſter Ordnung; außer dem prachtvollen Salon, 
der in unverrückter Herrlichkeit mit Sammtmöbeln, prachtvollen Fuß— 
decken und kryſtallenem Kronleuchter prangte, waren alle Zimmer 
in beſtändiger Bewegung, da der Tante immer eine noch bequemere, 
vortheilhaftere Einrichtung einfiel. Man wußte nie, ob nicht heute 
das Speiſezimmer zur Schlafſtube, das Schlafgemach zum Kinder— 
zimmer wurde; und Emma, die bis dahin in der ungebrochenen Ruhe, 
dem immer gleichen Frieden ländlicher Einſamkeit gelebt hatte, bei der 


300 Emma's Pilgerfahrt. 


in der Mutter Haus nie ein Stuhl anders geſtanden war, als ſie 
ihn von früheſter Kindheit an geſehen, ward ganz ſchwindlig und ſie 
ging herum wie im Traume, bis ſie ſich in dieſen ruheloſen Wechſel 
nur etwas gefunden hatte. 

Ihre jungen Vetter und Bäschen ſah ſie gar ſelten; die Tante 
hatte ihre Kinder im allgemeinen lieb, wenn fie ihr gerade einfielen; 
aber für gewöhnlich waren ſie ihr höchſt unbequem und immer im 
Wege. Die Knaben waren zwiſchen den Schulſtunden zu einem Leh⸗ 
rer vermiethet, der ihre Arbeiten leitete und ſie in Ordnung hielt; 
Abends nahm ſie der Turnlehrer in Empfang, der ſie auch in's Bad 
begleitete, — ſie kamen höchſtens zum Schlafen nach Hauſe. Die 
Mädchen gingen in's Inſtitut bis zum Abend, dann machten ſie 
einen franzöſiſchen Spaziergang mit einer Sprachlehrerin und brach⸗ 
ten den Abend bei einer Miß zu, die engliſche Leſeabende hielt. Der 
Vater meinte, fie ſollten wenigſtens etwas von den häuslichen Talenten 
ihrer Mama profitiren; aber dieſe fand es gar zu ungeſchickt, fie zu 
unterrichten; ſie that Alles in der Hälfte Zeit viel beſſer, als es die 
Mädchen unter Anleitung ausführten, und ſo war es bis jetzt noch zu 
keinem Curſus in der Häuslichkeit gekommen. Emma, ſo wenig ſie an 
ſolche gewaltige Thätigkeit gewöhnt war, hatte doch eine geſchickte, 
flinke Hand und ein aufmerkſames Auge, zu ſehen, wo es fehlte, 
daneben den herzlichen guten Willen, ſich nützlich zu machen; ſo er⸗ 
langte ſie bald die Gunſt der Tante, die überhaupt eine gutmüthige 
Frau war, und wurde viel mehr als die eigenen Töchter von ihr 
verwendet. | 

Der Onkel aber hielt für nöthig, daß fie etwas Tüchtiges lerne, 
um als Erzieherin ſelbſt ihr Fortkommen ſuchen zu können; er mochte 


Emma's Pilgerfahrt. 201 


oft fürchten, fein Haus könne nicht auf die Länge eine ſichere Hei- 
math für ſie bleiben, — ſo wurde ſie noch in eine höhere Töchter— 
ſchule geſchickt. Am Lernen fand Emma große Freude, ſo viel ſie 
auch noch nachzuholen hatte; ihr Unterricht, ihre Bücher waren ihr 
der einzige Ruhepunkt inmitten des raſtloſen Treibens, das fie um- 
gab; ihr Geiſt war ein gutes, rein gehaltenes Land; in einfachen 
Freuden und der Uebung einfacher Pflichten aufgewachſen, nicht zer— 
ſtreut durch eine endloſe Folge ſtets neuer Unterhaltungsbücher, war 
ſie gewohnt, was ſie für recht hielt, auch ganz und mit voller Seele 
zu thun. So waren ihre Fortſchritte überraſchend, und die Schule 
Hund ihre Aufgaben wurden ihr nicht zur Laſt, nein, zu einer Quelle 
des Glücks. | 

Wenn ſie nur auch etwas von der alten Heimath gewußt hätte! 
Es gab tauſend kleine Dinge, die ſie intereſſirt hätten, und Arthur 
vor Allem; o wie verlangte ſie's zu wiſſen, wie es ihm erging, ob 
ſeine Seele wieder in die alte Nacht zurückgefallen oder ob es dem 
Geiſtlichen gelungen ſei, ſie zu wecken. 

Was ſie dem Onkel darüber ſagte, das hielt der für kindiſche 
Einbildung. Den Baron überlaß Du immerhin ſeinen Verwandten,“ 
meinte er; „die werden ſchon wiſſen, was mit ihm anzufangen, in 
unſerer Zeit gibt es Anſtalten für Alles; ein kleines Mädchen wie 
Du hat noch nie einen Kretin geſcheidt gemacht!“ 

„Aber, Onkel, wenn nun ſeinen n gerade daran liegt, 
ihn unmündig zu erhalten?“ . 

„Ach was, das machen wir nicht aus; das find 
Geſchichten, wie ſie in Büchern ſtehen, und wenn et 


übertriebene 
18 Wahres 


202 Emma's Pilgerfahrt. 


daran iſt, ſo wär's erſt ſchlimm, ſich darein zu miſchen; ich will 
davon nichts.“ 9 

Das Beſitzthum ihrer Mutter war verkauft worden, und ſie 
hörte, daß der Pfarrer auf eine andere Stelle verſetzt ſei; — ſo 
war ſie wie mit der Wurzel ausgeriſſen aus der Heimath ihrer 
Kindheit, und nur noch wie ein Traum ſchwebte ihr oft und oft das 
ferne Mutterhaus vor, das Plätzchen im Erlenſchatten und der ſtille 
Knabe, der ſie mit ſo herzlicher Freude begrüßt hatte. 

Beinahe zwei Jahre brachte Emma im Hauſe des Onkels zu, 
recht übungsreiche Jahre: die Tante wußte ihre Freiſtunden gehörig 
auszunützen, Vetter und Bäschen machten ſich ihre Gefälligkeit zu 
nütze, und faſt ſchien es, als ob Bäschen Emma nicht eine Perſon 
für ſich, ſondern nur zum Ausfüllen aller denkbaren Lücken da ſei. 

Es ſchadete ihr aber nichts; das viele Umtreiben im Haus und 
Garten erhielt ihre Wangen friſch und roth, die allzu eifriges Stu⸗ 
dium vielleicht gebleicht hätte. Sie hatte die goldene Regel ihrer 
Mutter nicht vergeſſen: „Gib lieber Alles auf, als eine Liebe, die du 
Andern erweiſen kannſt!“ Sie beſann ſich nie, ob dieſes oder jenes 
Geſchäft unter ihrer Würde ſei, — ihre Gefälligkeit wurde vielleicht 
hie und da mißbraucht, aber ſie wurde geſucht und vermißt, ſie wurde 
geliebt, und es iſt ſchon viel werth, ſich auf der Welt nöthig zu 
wiſſen. 

Bei dem Unternehmungsgeiſte der Tante waren natürlich ihre 
Beſchäftigungen gar mannigfaltig; Emma wußte ihnen meiſt eine 
heitere Seite abzugewinnen. 

„Emma, Kind, ich laſſe diesmal meinen Flachs ſelbſt hecheln, es iſt 
viel vortheilhafter; du ſollteſt aber dabei bleiben, damit mir der Hechler 


Emma’s Pilgerfahrt. 203 


keinen Flachs ſtiehlt,“ ſagte einmal die Tante, — nun, Emma ſetzte 
ſich gutwillig mit ihrem Strickzeuge zum Hechler, der ſehr verdrieß— 
lich über dieſe Aufſichtsbehörde war, und ließ ſich von ihm von feiner 
Frau und Kindern, von ſeinem Gewerbe und Lebenslauf erzählen, bis 
er ganz munter und zutraulich wurde und nachher ſagte, das ſei die 
bräpſte Jungfer, die er noch geſehen. Sie wachte die Nacht durch 
bei der Obſtdörre, weil die Nacht vorher die Magd hatte den ganzen 
Obſtſegen verbrennen laſſen, und ſie fand es ſchön, die mondhelle 
Sommernacht auch einmal ganz und voll zu genießen, obſchon ſie 
gegen Morgen bedeutend fröſtelte; auch copirte ſie dem Onkel unend⸗ 
lich langweilige Handelsbriefe, als ein Commis krank war. Sie war 
zu Allem willig und war Allen lieb, aber — daheim war ſie doch nicht, 
ſie konnte nicht recht mit dem Herzen anwachſen; es war dazu gar 
nicht Raum und Zeit in dem endloſen Getriebe von Geſchäften, 
Unternehmungen und Vergnügen, wenn man die ſteifen Geſell— 
ſchaften, bei denen alle Pracht des Hauſes entfaltet wurde, ſo nennen 
konnte. 

Nach zwei Jahren ſagte ihr der Onkel, daß er bei einem Ge⸗ 
ſchäftsfreunde in der franzöſiſchen Schweiz eine Stelle als Bonne für 
ſie erfahren habe, wo fie vollſtändig des Franzöſiſchen mächtig wer- 
den könnte; im Gedanken an ihre Zukunft halte er für Pflicht, ſie 
davon nicht zurückzuhalten. Emma nahm die Stelle an und machte 
ſich im Stillen Vorwürfe, daß ihr die Trennung von ihren einzigen 
Verwandten nicht ſchwerer werde; aber es war einmal ſo, ſie ſah 
die Fremde noch ganz im lockenden Reize einer jugendlichen Phantaſie; 
recht zur Heimath war ihr das Haus des Onkels nie geworden, und 
die Schweiz war von jeher das Land ihrer Sehnſucht geweſen, das 


204 Emma's Pilgerfahrt. 


herrliche, majeſtätiſche Schweizerland mit ſeinen ſilberhellen Gletſchern 
und tiefblauen Seen, ſeinen freien, kräftigen, treuherzigen Menſchen. 
Viel, viel leichter verließ ſie des Onkels Haus, als ihre erſte Heimath. 


Erſte Probe. 


So war denn Emma in dem ſchönen Schweizerland; recht ver- 
wundert, daß nicht von allen Seiten ewige Schneeberge auf ſie herab⸗ 
ſchauten, daß nicht da und dort Lawinen niederdonnerten und Gemſen 
und Steinböcke vorüber ſprangen. 

Die Stadt, wo ſie eine Stelle in einer reichen Kaufmannsfamilie 
hatte, war noch nicht ſo tief im Herzen der Schweiz gelegen; doch 
war die Gegend immer noch ſchön für ein offnes Auge und ein ge⸗ 
nügſames Herz. 

Auch die Menſchen fand Emma etwas anders als ſie ſich vor⸗ 
geſtellt; ſie hatte lauter ganz biedere, treuherzige Menſchen erwartet, 
die ihr überall mit Gruß und Handſchlag entgegenkämen. So war's 
denn doch nicht, und fie fand bald, daß wenn nicht der Rang, jo 
doch der Reichthum hier einen bedeutenden Unterſchied machten. 

Dann mußte Emma zum erſtenmal hier lernen, was dien en 
heißt; bei Onkels war ſie doch Verwandte im Hauſe geweſen, — die 
gute Emma, die ſich eben in der Stille beklagte, daß man ſo großen 
Unterſchied unter den Menſchen mache, fühlte ſich dann ihrerſeits 


Emma's Pilgerfahrt. 205 


wieder bitter gekränkt, daß ſie mit der übrigen Dienerſchaft in der 
Küche ſpeiſen ſollte. 

Die Küche war hübſch und reinlich, viel ſchöner als manche 
Stube, die ſie daheim in Kühlenbronn geſehen hatte, die Dienerſchaft 
des Hauſes anſtändig; ſie hatten die Leichtigkeit und den natürlichen 
Anſtand, der ſie als Stammverwandte des nahen Frankreichs bezeich— 
net, — aber es wollte Emma zu Anfang doch ſchwer werden, ſich 
ganz den Dienſtboten gleich zu ſtellen. Sie trat mit der Miene einer 
beleidigten Königin unter die muntre Dienerſchaft, ſo oft ſie zu Tiſche 
gerufen wurde. Die Leute aber lachten das kleine deutſche Mädchen 
aus, die ſich ſo hoch über ſie denken wollte, und ſo fühlte ſich Emma 
weder im Zimmer noch in der Küche recht daheim. Mit den ältern 
Kindern hatte ſie faſt nichts zu thun, als ſie anzukleiden und ein 
wenig deutſch mit ihnen zu leſen; fie hatte geglaubt, Lehrerin, Erzie- 
herin zu werden, — jetzt war ſie nur Kindermädchen. Die Beſor⸗ 
gung des kleinſten Kindes, das man ihr übergab, wurde ihr ſchwer; 
ſie hatte darin keine Erfahrung; ſie verging faſt vor Angſt, wenn 
Madame Brochat, die Dame des Hauſes, einmal dabei war, wenn 
ſie das Kind wuſch und ankleidete; auch ſchrie bei ſolchen Gelegen— 
heiten der kleine Aimé gerade wie beſeſſen. Ihr Liebling, ihr ein- 
ziger Troſt und ihre Freude war die kleine Suzon, ein allerliebſtes 
Schwarzköpfchen von zwei Jahren. Wie oft, wenn ſie ſich ſo ganz 
verlaſſen und zurückgeſetzt fühlte, nahm ſie das Kind auf den Schooß, 
ſah in ſeine wunderbaren dunklen Augen, ließ ſich von dem weichen 
Sammthändchen ſtreicheln und weinte bitterſüße Thränen des Heim— 
wehs nach dem lieben Mutterhauſe. Suzon war ein ſtilles Kind, 
keine kleine Plaudertaſche wie die meiſten jungen Französlein; aber 


206 Emma’s Pilgerfahrt. 


fie hatte jo tiefe, ſtille Augen, daß es Emma war, als könnte das 
Kind ſie ganz verſtehen, und ſie erzählte ihr Alles von dem ſtillen 
Dörfchen ihrer Kindheit, von ihrer guten Mutter, von dem armen 
Arthur, den ſie hatte verlaſſen müſſen, — vielleicht verſtand das 
Kind nichts als ihre naſſen Augen; aber Emma war ſchon getröſtet, 
wenn fie die Kleine liebkoste und leiſe ſagte: „arme Emma.“ 

Aber Suzon wurde krank, während Herr und Madame Brochat 
mit den ältern Kindern auf einer Reiſe nach Italien abweſend waren. 
Eines Abends, als Emma mit ihr und dem Kleinen vom Spazier⸗ 
gang zurückkehrte, legte Suzon das Köpfchen an ihre Bruſt und ſagte 
leiſe: „Emma, mein Kopf thut mir ſo weh und mein Herzlein, aber 
ſag's der Mutter nicht, ſonſt wird ſie traurig.“ Emma brachte das 
Kind zu Bette, bei dem bald heftiges Fieber und ein betäubter, be⸗ 
wußtloſer Zuſtand eintrat. Viele Tage und Nächte dauerte das Lei⸗ 
den, und Emma war in großer Herzensnoth, da man nicht genau 
wußte, wo die Eltern zu finden ſeien; ſie pflegte das Kind mit großer 
Treue, und wenn ſie ſich einmal auf den Befehl des Arztes zur Ruhe 
legte, ſo rückte ſie ihr Bett dicht an das der Kleinen und hielt ihr 
heißes Händchen in der ihren. Suzon litt nicht viel und war immer 
ſtill und geduldig, meiſt in einem ſchlummerähnlichen Zuſtande; es 
war eine gar ſtille Zeit. Auf Anordnung des Arztes war der kleine 
Aimé mit einer beſonderen Wärterin in ein Hinterzimmer gebracht 
worden, ſo war Emma ganz allein mit der Kranken. Wie vieles 
lernt man anders anſehen in der Stille eines Krankenzimmers, wie 
unbedeutend erſchienen Emma all die kleinen Aergerniſſe und Krän⸗ 
kungen ihres Alltagslebens, wie innig ward ihr jetzt in der tiefſten 
Einſamkeit die Nähe und Liebe Deſſen kund, der verheißen hat: „Ich 


Emma’ Pilgerfahrt. 207 


will Euch tröſten, wie Einen ſeine Mutter tröſtet.“ Arbeiten konnte 
ſie wenig neben der Kranken; auch Bücher, ſonſt ihr liebſter Genuß, 
ſprachen fie nicht an in der innern Sorge und Bangigkeit ihres Her- 
zens, ihre Bibel war ihr einziger Troſt, und wie Vieles lernte ſie jetzt 
erſt verſtehen! „Des Menſchen Sohn iſt nicht gekommen, daß er 
ihm dienen laſſe, ſondern daß er diene,“ wie bedeutſam wurde ihr 
dieſe Stelle, die noch von der Mutter Hand beſonders bezeichnet war. 
O, wenn nur ihre liebe kleine Suzon wieder geſund würde, wie gern 
wollte ſie ſich dann in Alles fügen, wie zufrieden ſein inmitten aller 
Einſamkeit und Entbehrung! 

Es ſollte nicht ſo ſein. Früh am Morgen, als Emma ſich über 
das Bettchen des meiſt ſchlummernden Kindes beugte, ſchlug dieß 
ſeine großen, dunklen Augen wieder klar und voll zu ihr auf und 
lächelte: „Liebe Emma.“ Emma hielt das für Geneſung und um⸗ 
ſchlang das Kind mit Freude; das Köpfchen aber ſank ſchwer auf ihre 
Schulter, der Athem wurde kurz und heiß, und als der Arzt eintrat, 
hielt Emma eine Leiche in den Armen. 

Sie legte leiſe, leiſe das Kind auf's Kiſſen, ein ſo heiliger, 
tiefer Friede lag auf den lieblichen Zügen; ſie konnte nicht weinen 
und jammern, ihr war, als habe ſie mit der ganzen Welt abgeſchloſſen 
und möchte immer und immer hier Wache halten bei dem fchlum- 
mernden Engel. 

Die Eltern, die ſie ſo angſtvoll und ſchmerzlich herbeigeſehnt 
hatte, hatten endlich einen der vielen abgeſandten Briefe erhalten und 
kamen in großer Eile, eben noch recht, um die Leiche ihres Kindes zu 
ſehen. Es war Emma in dieſen letzten Tagen geweſen, als ob das 
Kind ihr ganz allein gehöre: ſie fühlte eine ſchmerzliche Eiferſucht, 


208 Emma’s Pilgerfahrt. 


als nun Mutter und Vater allein noch mit ihrem Jammer bei der 
Leiche weilten. Die Mutter wollte ſich nicht tröſten laſſen; wäre ſie 
da geweſen, Emma würde ihr durch ihre treue Pflege des Kindes 
lieb geworden und näher gekommen ſein; jetzt, ſo ſehr auch der Arzt 
Emma's Sorgfalt und Aufopferung rühmte, brach ſie doch immer 
wieder in den Jammerruf aus: „O mein armes Kind, und deine 
Mutter hat dich nicht einmal pflegen können! unter Fremden biſt du 
geſtorben!“ und Emma fühlte ſich bitter gekränkt. 

Die Leiche war vorüber, und Alles im Hauſe fing wieder an, 
feinen gewohnten Gang zu gehen. Emma verſuchte ihre Pflichten mit 
Freudigkeit zu erfüllen, aber es wurde ihr unbeſchreiblich ſchwer, es 
war ihr, als ſei alle Freude ihres Lebens mit dem Kinde fort. 


Ueber's Meer. 


Auf ihren Spaziergängen mit den Kindern war ſie manchmal 
mit drei Damen zuſammengetroffen, die gewöhnlich auf derſelben 
Promenade ausruhten, die der Spielplatz der Kinder war, — es war 
eine Engländerin mit zwei Töchtern. Die eine der jungen Damen, 
die beide etwas lang und ſchmal waren, zeichnete beſtändig, die andere 
las, die alte Dame that gar nichts, und ſo unterhielten ſie ſich in 
großer Stille zuſammen; die Leſende allein ſah hie und da vom Buche 
auf, wenn ſie Emma mit den Kindern deutſch reden hörte. Einmal 


Emma’s Pilgerfahrt. 209 


ließ fie eines ihrer Bücher liegen, Emma brachte es ihr nach, und 
da fie gejehen, daß es ein deutſches Buch war, jo übergab fie es ihr 
mit einigen deutſchen Worten; die Miß verneigte ſich graziös und 
ſagte: „danke.“ 

Emma hatte jenen kleinen Zufall lange vergeſſen, zumal da die 
Damen abgereist waren und ſie nichts mehr von ihnen hörte, als 
eines Tages Herr Brochat gebeten wurde, in dem erſten Gaſthofe 
des Ortes eine fremde Dame zu beſuchen. Es war die Engländerin, 
die ihn für einen Deutſchen hielt und ihn fragte, ob er die „deutſcher 
Görl“ ) in feinen Dienſten nicht mit ihr und ihren Töchtern nach 
England laſſen wolle? Herr Brochat wußte lange nicht, was er für 
einen deutſchen Kerl habe; als er endlich erfuhr, daß damit Emma 
gemeint ſei, willigte er ſehr gern ein, ſie zu entlaſſen. Seine Frau 
wünſchte zu dem Kleinen eine Kindsfrau, zu den größeren Mädchen 
eine Gouvernante, die aus einer Penſion käme; und ſo erfuhr Emma, 
daß fie als Geſellſchafterin und deutſche Vorleſerin bei Miß Glad- 
ſtone angeſtellt ſei, noch ehe man ſie recht befragt hatte, ob die neue 
Verwendung auch nach ihren Wünſchen ſei. 

Es that ihr weh, daß man ſich ſo leicht von ihr trennte und 
über ſie verfügte, wie über eine Sache; aber doch freute ſie ſich 
mit der Freude der Jugend über einen Wechſel der Scene, ein 
neues Land, eine neue Sprache, und ſie ſah es als Erlöſung an, 
von hier fortzukommen, wo ſie verloren hatte, was allein ihr Herz 
erfreute. 


) girl, görl ausgeſprochen, heißt Mädchen auf engliſch. 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. x 14 


210 Emma's Pilgerfahrt. 


Emma hatte ſich vorgeſtellt, daß alle reiſenden Engländer Lords 
und Ladies ſeien von unermeßlichem Reichthum und in prächtigen 
Schlöſſern und Landhäuſern wohnten. Sie war etwas enttäuſcht, 
als ſie fand, daß Mrs. Gladſtone die Wittwe eines Apothekers von 
mäßigem Vermögen ſei. Sie war gereist, um zu erſparen, und 
hatte eben deßhalb länger in einer unbedeutenden Gegend der Schweiz 
zugebracht, weil es dort wohlfeiler zu leben war, und doch immer 
noch die Schweiz. 

Die Cottage“), wo fie mit ihren Töchtern lebte, war ſehr klein, 
ſtand aber in einem anmuthigen Dorfe, das Emma an ihre liebe 
Heimath erinnerte. Von all den Wundern und Herrlichkeiten, die ſie 
ſich in dem fremden Lande vorgeſtellt, ſah ſie nun freilich nichts; 
doch war es eine friedliche, freundliche Umgebung, nur langweilig, 
unendlich langweilig; ſie kam nie zu dem Gefühl, einen rechten Beruf 
zu haben und ſehnte ſich oft nach dem ſchreienden kleinen Aims; das 
war doch noch Leben geweſen! Im Hauſe der Mrs. Gladſtone ging 
Alles nach der Uhr, Alles auf die Minute, ſo genau, daß Emma 
ſich ſelbſt nur wie ein Uhrwerk vorkam. Punkt neun Uhr wurde 
gefrühſtückt; in den früheren Morgenſtunden wurde erwartet, daß 
Emma nicht ihr Zimmer verlaſſe, weil es den Morgenſchlummer der 
Mrs. Gladſtone ſtören könnte, die Großes leiſtete im Schlafen. 
Punkt zehn Uhr ſtand man vom Frühſtückstiſche auf; Miß Jane 
zeichnete und Miß Ellen nahm eine deutſche Lection bei Emma; um 
elf Uhr nahm Jane die Lection und Ellen ſpielte Klavier; um zwölf 
Uhr ſpielte Jane und Ellen zeichnete; um ein Uhr ging man ſpazieren 


*) Hütte, kleines Landhaus. 


Emma’s Pilgerfahrt. 211 


unter allen Umſtänden und bei jeder Witterung, mußte aber Punkt 
drei Uhr zu Hauſe ſein, wo die beiden Schweſtern franzöſiſche Lection 
hatten; um vier wurde geſpeist, gerade bis fünf Uhr, wo dann Emma 
deutſch vorleſen, aber mitten im Satze das Buch ſchließen mußte, 
wenn es ſechs ſchlug. Nun ſpielten die zwei Schweſtern zuſammen, 
hörten auch inmitten eines Taktes auf, wenn es ſieben war; die 
übrigen Stunden bis zum Thee waren regelmäßig in das Studium 
verſchiedener Wiſſenſchaften getheilt, von denen Emma kaum den Na⸗ 
men wußte. So lange die Schweſtern allein beſchäftigt waren, hatte 
Emma die Verpflichtung, der Mama Geſellſchaft zu leiſten; die Un- 
terhaltung war nicht ſchwer, wenn Mrs. Gladſtone nicht mehr ſelbſt 
ſprach, ſo ſchlief ſie meiſtens ein. 

Die Schweſtern befanden ſich gut bei dieſer regelmäßigen Tages⸗ 
ordnung; auf Emma laſtete ſie wie Blei. Sie wurde nicht ungütig 
behandelt, aber kühl und fremd; es fehlte ihr das Gefühl, ſich nöthig 
und nützlich zu wiſſen; ſie wußte, daß ſie bei den Mädchen war, weil 
es jetzt für faſhionabel galt, deutſch zu ſtudiren, daß aber die Schwe— 
ſtern gerade ſo mit einander leſen könnten wie jetzt, wenn ſie nicht 
mehr da wäre. 

Eine große Erleichterung kam in dieß regelmäßige Leben in der 


Geſtalt eines langen, dünnen Couſins, eine noch größere, als dieſer 


ſich als Bräutigam der Miß Jane herausſtellte. Die angenehmſte 
Abwechslung von Allem aber dünkte es Emma, als ihr Mrs. Glad— 
ſtone mit aller möglichen Rückſicht eröffnete, daß Ellen der Sym- 
metrie wegen einen andern Couſin heirathen werde, daß ihre Dienſte 
deßhalb entbehrlich ſeien, daß ſie aber, wenn ſie Luſt habe, bei Mrs. 
Brown als Lehrerin und Aufſeherin ihrer Kinder eintreten könne. a 


— 


212 Emma's Pilgerfahrt. 


Emma war ſich ſeither undankbar erſchienen, daß ſie ſich in 
einem ſo geregelten Hauſe nicht glücklich fühle; jetzt erſt, an der 
überſchwenglichen Freude und Dankbarkeit, mit der ſie die neue Aus⸗ 
ſicht erfüllte, ſah ſie doch, daß ſie kein undankbares Herz hatte. 


Im Miſſionshauſe. 


Zu der Mrs. Brown hatte ſie von jeher eine ſtille Liebe ge⸗ 
habt. Der Garten der alten Dame grenzte an die langweilige 
ſteinerne Terraſſe, auf der Mrs. Gladſtone und ihre Töchter jeden 
Tag eine gemeſſene halbe Stunde zubrachten, und mit leiſem Neide 
hatte Emma oft das fröhliche Treiben der Enkel und die heitere alte 
Großmama geſehen. 

Mrs. Brown hatte nämlich eine bunte Sammlung von Enkel⸗ 
chen um ſich. Einer ihrer Söhne war Offizier in Indien, eine 
Tochter war an einen Militärarzt in China verheirathet, die andere 
hatte einen deutſchen Miſſionär in Afrika, die dritte einen Schiffs⸗ 
kapitän in Auſtralien; der jüngſte Sohn war Pfarrer in England 
geweſen und hatte ein feines blondes Töchterlein hinterlaſſen. i 

All die Kinder dieſer Söhne und Töchter hatte Frau Brown zu 
ſich genommen; Enkelchen aus allen fünf Welttheilen: kleine Chineſen, 
Indier und Afrikaner; es war ein Gewimmel ohne Gleichen, und 


Emma's Pilgerfahrt. 213 


Emma hatte ſich nicht über zu große Regelmäßigkeit zu beklagen, ſie 
wußte oft gar nicht, wo ihr der Kopf ſtand unter den kleinen Browns, 
Walters, Fizgeralds und wie ſie alle hießen. Aber der unverwüſt⸗ 
liche gute Humor der Großmama half ihr glücklich durch, wo ihre 
eigene Kraft erliegen wollte. 

Viel regelmäßigen Unterricht konnte freilich Emma hier nicht 
ertheilen; es waren der Kinder gar zu vielerlei an Alter und Faſ— 
ſungskraft, und wenn die kleinen Walters, die Kinder des Deutſchen, 
Renald Brown und Richard Fizgerald ordentlich zum Unterrichte bei- 
getrieben waren, jo mußte man Roger und Samuel, die kleinen wil- 
den Indier von einem Baume ſchütteln, und waren dieſe zum Sitzen 
gebracht, ſo kam Joſeph Blairwell geſprungen und ſchrie: der wilde 
Georg wolle das kleine blonde Aennchen, den Liebling Aller, ſelbſt 
im Boote fahren und werde ſie bei dieſer Gelegenheit wahrſcheinlich 
in's Waſſer werfen. So hatte Emma, die Großmutter und zwei 
Mägde faſt den ganzen Tag zu laufen und zu rennen, bis man nur 
das kleine Volk zuſammenbrachte; dann gab es wieder ſo viel zu 
nähen und auszubeſſern, daß alle Hände dazu nöthig waren, und für 
den Unterricht blieb wenig Zeit übrig. 

So lange die Mehrzahl der Kinder jung und klein war, ging 
das ſchon. Die Großmutter war eine verſtändige, heitere und fromme 

Frau, die aus dem Schatze ihrer reichen Lebenserfahrung vieles zu 
guter Stunde den Kindern mittheilte, was die Bücherweisheit aufwog; 
daneben ward der Körper der Kleinen ſtark und geſund in dem fri— 
ſchen, freien Leben in Garten und Feld. Emma ſah ſich von Anfang 
ganz wie die älteſte Tochter des Hauſes behandelt; alle Geſchäfte 


214 Emma's Pilgerfahrt. 


wurden gemeinſam berathen und gethan, und wie einer guten Tochter 
nichts ſchwer wird, das ſie der Mutter zu Liebe und Hülfe thun 
kann, ſo blieb ſie auch hier unverdroſſen bei einem oft wirklich ſchwe⸗ 
ren Tagewerk. | | 

Da kam aber eines Tages Walter, der Miffionär, der Mann 
von der Tochter der Frau Brown, aus Afrika zurück, — allein, in 
Trauer; ſeine Frau war den Beſchwerden des Klima's erlegen, ſeine 
Geſundheit ſelbſt war fo leidend, daß er in fein Vaterland zurück⸗ 
kehren wollte, um dort eine Pfarrſtelle anzunehmen. Frau Brown 
hatte von ihrer Tochter Abſchied für's Leben genommen, als ſie ſie 
mit dem Manne ihrer Wahl in jene glühende Zone ziehen ließ, — 
ihr Schmerz war ein ſanfter. 

Marie und Lydia, die zwei Töchterlein, die ihre Mutter kaum 
gekannt, waren ſo reich im neuen Beſitze des Vaters, daß ſie kaum 
begriffen, was der Tod der Mutter bedeute; — ſie ſuchten nun 
eben die Heimath der Mama am Sternenhimmel, ſtatt wie bisher 
| auf der Landkarte. Aber Herr Walter ſah bald, daß die Erziehung 
dieſes gemiſchten Kinderhäufchens, darunter fünf wilde Knaben, kein 
Werk für eine alte Frau und ein junges Mädchen ſei. Er brachte 
die vier größten Jungen in eine Koſtſchule unter; Emma bat er, 
wenn er ſeine Heimath in Deutſchland gegründet habe, ſeine Kinder 
hinüber zu begleiten und als Erzieherin bei ihnen zu bleiben. 

Frau Brown mußte dem Schwiegerſohne Recht geben; ihr ſelbſt 
war mehr die Verantwortung als die Laſt, die ihr durch die Kinder 
erwuchs, oft ſchwer aufgelegen, und ſie freute ſich, Emma wieder gut 
und ſicher unterzubringen, wenn auch ihr und Emma das Scheiden 
ſchwer wurde, und ſie mit herzlichem Leid die Auflöſung ihres bunten 


1 


Emma's Pilgerfahrt. 215 


Haushaltes anſah. Blieben ihr doch noch drei Mägdlein und ein 
kleiner dicker Chineſe zu Freude und Sorge. 


Im Pfarrhauſe. 


So ſah ſich denn Emma wieder im deutſchen Vaterlande, wo 
ſie glücklich mit ihren zwei Pfleglingen ankam. Herr Walter kam 
ihnen entgegen; er hatte die gewünſchte Stelle erhalten und führte 
ſie in ein altes, großes Pfarrhaus, deſſen äußere Umgebung freund— 
licher war als das Haus ſelbſt, das mit allerlei zuſammengekauften 
Möbelſtücken nicht halb ausgefüllt war. | ß 

Ein großer Garten lag vor dem Haufe, und Emma konnte 
ihre alten Gartenkünſte, die ſie daheim bei der Mutter gelernt hatte, 
nun nach Herzensluſt ausüben; es war eine Luſt, ſie und die Mäd— 
chen ſo eifrig pflanzen, begießen, jäten und graben zu ſehen. | 

Ueberhaupt war ſie hier faſt mehr Haushälterin als Lehrerin, 
und ſie befand ſich gut dabei. Den Unterricht der Töchter über— 
nahm zum großen Theile der Vater ſelbſt, und Emma, obwohl nun 
lange über die Schuljahre hinaus, freute ſich, hier auch wieder 
Schülerin ſein zu dürfen. 

Sie hatte nur ein junges, unerfahrenes Mädchen aus dem Dorfe 
zur Hülfe und ſegnete jetzt tauſendmal die Schule der Tante, ohne 
die es ihr nicht möglich geweſen wäre, ſich auf einmal wieder in 


216 Emma's Pilgerfahrt. 


Haushaltungsgeſchäfte zu finden. Sie fand bald wieder Freude an 
dieſem natürlichſten Elemente der Frauen, machte große Kochſtudien 
mit den Mädchen, ließ ſich von erfahrenen Bäuerinnen im Brodbacken 
unterrichten, und zweifelte gar nicht, mit ihrer Luſt und Liebe zur 
Sache ſich einmal noch als vollendete Haushälterin zu ſehen. Nur 
die Beſorgung der Wäſche fiel ihr ſchwer. Zum Glücke war der 
Pfarrer hier nachſichtig und wurde nicht ungeduldig und nicht un⸗ 
glücklich über ein ſchlecht gefaltetes und gebügeltes Hemd; aber Emma 
wurde es oft ſiedend heiß, wenn Frau Pfarrer Sommer aus der 
Nachbarſchaft, die hie und da zum Beſuche kam, ihren ſcharfen, prü- 
fenden Blick durch alle Räume des Hauſes ſchweifen ließ. 

Die Kinder hingen mit großer Liebe an ihr, und ſie lebte wie⸗ 
der auf im Gefühle, eine Heimath zu haben, wo ſie nöthig und nütz⸗ 

lich war, wo man ſich freute, wenn ſie kam, und ſie vermißte, wenn 
fie ging, — fie ward wieder jung mit den Kindern und forderte 
nichts von der Zukunft. 

Eines Morgens ſaß ſie in der Laube und ſtudirte emſig in 
einem Kochbuche, das fie ſich von ihren Erſparniſſen gekauft hatte 
als der Pfarrer, von einer kleinen Reiſe zurückgekehrt, zu ihr trat., 
„Ich habe Ihnen etwas zu ſagen, liebe Fräulein Emma,“ hub er 
an; „etwas, das Sie, die treue Freundin meiner Kinder, das nächſte 
Recht haben zu wiſſen.“ Etwas erſtaunt, mit dem Herzklopfen, das 
uns bei jedem feierlichen Eingange einer Rede befällt, hörte Emma 
ihn an. „Ich habe beſchloſſen, meinen Kindern wieder eine Mutter 
zu geben, eine Pflegerin für meine ſchwache Geſundheit zu gewinnen,“ 
fuhr er fort; „Fräulein Louiſe Stahl, die Pflegetochter des Herrn 
Pfarrers Sommer, will dieſe Aufgabe übernehmen, und in drei 


Emma's Pilgerfahrt. 21T 


Tagen hoffe ich fie den Mädchen als meine Braut vorftellen zu 
können. Ich zweifle nicht, daß Sie mir darin beiſtehen werden, der 
Kinder Herz der neuen Mutter geneigt zu machen, da Kinder oft 
ſeltſame Vorſtellungen von einer Stiefmutter haben.“ 

„Gewiß,“ ſagte Emma ernſtlich und bot ihm glückwünſchend 
die Hand; doch war ſie froh, daß er ging, da ſie nicht gern gezeigt 
hätte, wie ſchmerzlich ihr wieder klar wurde, daß ſie fremd und 
heimathlos auf Erden ſei. 

Sie war ſo zufrieden und glücklich hier geweſen! ſie hatte ſich 
gar keine andere Zukunft denken können, als daß ſie aus der Lehrerin 
allmälig die Freundin und Gefährtin ihrer Zöglinge werde, und daß 
ſie ſo in ſchweſterlicher Eintracht mit einander hinleben werden. Wie 
hübſche Plane hatten ſie und die Kinder zuſammen gemacht, wie ſie 
noch einmal die Großmama Brown in England beſuchen und nach 
Deutſchland holen wollten! Nun war Alles aus und ſie mußte 
den Wanderſtab wieder zur Hand nehmen und eine neue Stätte 
ſuchen. 

Ihr Herz war ſo voll und ſchwer, ſie hätte ſich nur bitterlich 
ausweinen mögen; und als ſie von ferne die Mädchen kommen ſah, 
da fühlte ſie ſich recht geneigt, ihnen jetzt gleich zu ſagen, daß ſie 
ſich trennen müßten, und all ihr Herzeleid in die weichen Kinderſeelen 
aus zuſchütten. Schon wollte ſie ſie mit wehmüthigem, ſchmerzlichem 
Tone zu ſich rufen, da fiel ihr ein, ob ſie wohl ſo die Bitte des 
Vaters erfülle, die jungen Herzen der neuen Mutter geneigt zu machen? 
Sie nahm ſich zuſammen, ſie wollte lieber ihr Kämmerlein ſuchen, 
um ſich zu faſſen, und da fand ſie den Einen Freund, dem wir 
jederzeit unſer Herz ausſchütten dürfen, das heilige Wort in dem 


218 Emma's Pilgerfahrt. 


für jedes Leid im Voraus Troſt bereit liegt: das alte, ſchöne Bibel⸗ 
buch mit den Bildern, die ihr einſt die Mutter gezeigt, mit denen 
ſie dem Armen Arthur einſt die verſchloſſene Heimath aufzuthun ver⸗ 
ſucht hatte; — ſie hatte es noch nie vergeblich geöffnet. 

Zwei Sprüche waren es dießmal, die ſie im Sinn und im 
Herzen trug, als ſie mit klaren Augen wieder herabſtieg zu den 
Kindern: „Wir haben hier keine bleibende Statt, aber die zukünftige 
ſuchen wir,“ und: „Nun ſuchet man Nichts an den Haushaltern, 
denn daß ſie treu erfunden werden,“ und in dieſen beiden fand ſie, 
was ſie brauchte, Troſt und Kraft. 

Mit ſelbſtvergeſſener Freundlichkeit ſuchte ſie den Kindern den 
Gedanken an die zweite Mutter lieb und ſchön zu machen; und ſo 
wohl ihr die Thränen thaten, die ſie beim Gedanken der Trennung 
an ſie vergoſſen, ſo hielt ſie ſich feſt und ließ ihr Herz nicht weich 
werden. Sie verſicherte ſie heiter, ſie ſei gewiß, daß es ihr gut 
gehen werde; auch hoffe ſie, ſie ſpäter wieder beſuchen zu können, um 
zu ſehen, ob ſie ihr Ehre machen. Sie ließ ſie hübſche Arbeiten an⸗ 
fangen, um die neue Mutter damit zu überraſchen; ſie ſelbſt that 
ihr Beſtes, das Haus und die Kindergarderobe in guten, ordentlichen 
Stand zu ſetzen, um der neuen Frau einen freundlichen Eindruck 
zu geben. 

Der Pfarrer brachte ſeine Braut, und Emma konnte ſich 
freuen, in ihrer freundlichen Weiſe neben großer Beſtimmtheit und 
Klarheit die Bürgſchaft zu finden, daß ſie ihre Lieblinge in gute 
Hände gebe. Die Braut war freundlich und rückſichtsvoll gegen ſie; 
niemand ſagte ihr eine Sylbe, daß ſie um eine andere Stelle zu 
ſehen hätte, aber nur, weil das ſich eigentlich von ſelbſt verſtand. 


Emma's Pilgerfahrt. 219 


Ihr Onkel war geſtorben, die Verwaltung ihres kleinen Erb- 
guts war in die Hände eines fremden Vormunds übergegangen, der 
ihr nur durch Briefe bekannt war; da ſie aber niemand ſonſt kannte, 
bat ſie dieſen ſchriftlich, ihr für eine Stelle zu ſorgen. Er ſchrieb 
ihr alsbald, wie er ſich freue, ſo bald ihren Wunſch erfüllen zu 
können; er habe durch die Zeitung eine ſehr gute Verwendung für 
ſie gefunden, eine Stelle als Erzieherin bei der jüngſten Tochter der 
Baroneſſe v. W., die für gewöhnlich einen hübſchen Landſitz in 
Schleſien bewohne. Emma zweifelte, ob fie die zu dieſer Stelle er— 
forderlichen Eigenſchaften und Kenntniſſe habe; aber die guten Zeug⸗ 
niſſe, die fie von ihren verſchiedenen früheren Stellen einſandte, ent- 
ſchieden die Baroneſſe zu ihren Gunſten. | 

Die Einladung, mit zu der Hochzeit zu fahren, lehnte fie dan- 
kend ab; aber ſie ſchmückte die kleinen Brautjungfern, ſo lieblich ſie 
konnte, mit weißen Kleidern und Roſenknoſpen. So lange der 
Pfarrer und ſeine junge Frau auf der Reiſe waren, ordnete ſie das 
ganze Haus und räumte zu großem Vergnügen der Kinder die hüb— 
ſchen neuen Geräthe ein, die vorausgeſchickt worden waren. Am 
letzten Tage ſchmückte ſie noch alle Zimmer mit Roſenguirlanden 
und Blumenſträußen, dann legte ſie ein paar herzliche, ſchriftliche 
Abſchiedsworte an den Pfarrer und die Schlüſſel, die ſie treu ver— 
waltet, in die Hand des älteſten Töchterleins. Beim Abſchiede von 
ihren Zöglingen durfte ſie ja wohl ihren Thränen den Lauf laſſen; 
ſie wußte, daß der große Abſchiedsjammer der Kinder bald geſtillt 
ſein würde; aber es that ihr wohl, ſo geliebt worden zu ſein. 

So ſchied ſie ſtill von dem Orte, der ihr zur Heimath ge— 
worden war; ſie hatte zu viel Wechſel erfahren, um noch mit der Luſt 


220 Emma’s Pilgerfahrt. 


und Hoffnung der Jugend der neuen Lage entgegengehen zu können, 
ſie hatte nur Eine Hoffnung in der Seele, die Eine, die nicht trügt: 
Der Herr wird's wohl machen. 


Neue Proben. 


Ein anderes Stück Leben war es, das ſich jetzt vor Emma's 
Blicken aufrollte, und ein Glück für ſie, daß ſie nicht mit glänzen⸗ 
den Hoffnungen in die neue Stelle eingetreten war, denn hier am 
wenigſten fand ſie, was ſie verlaſſen hatte, und was ſie am ſehn⸗ 
lichſten ſuchte, — eine Heimath für ihr Herz. 

Die Familie beſtand aus der Baroneſſe, einer etwas mageren, 
ältlichen Dame, die den Sommer auf einem Landgute zubrachte, das 
ihr ein reicher Vetter unentgeltlich vermiethete, nur um ſo viel zu 
erſparen, daß ſie den Winter anſtändig in der Stadt leben konnte. 
Julie und Valerie, die beiden älteren Fräulein, von denen eine hübſch 
und einfältig, die andere häßlich und geſcheidt war, waren in gewiſſer 
Art ſehr genügſam: ſie zehrten an einem Gedanken durch's ganze 
Jahr, und dieſer Eine Gedanke waren — ſie ſelbſt. Pauline, Em⸗ 
ma's Zögling (keine wurde mit einem deutſchen Namen genannt), 1 
war einfältig, träge und ein verzogenes Mutterkind. Wie oft dachte 
Emma mit Seufzen an den einfachen Unterricht, den fie einſt dem 
blödſinnigen Arthur gegeben! Dort war ihr doch eine herzliche Be⸗ 


Emma's Pilgerfahrt. 221 


gierde, ein kindlicher guter Wille entgegengekommen, während Paulinens 

langweiliges, verdroſſenes Geſicht all ihren Lehreifer lähmte. Sie 
verſuchte anfangs was ſie konnte, um den Eifer des Mädchens zu 
beleben, aber ſie fand für alle Fächer dieſelbe ſchläfrige Verdrießlich— 
keit; ſchon die langſame, unwillige Bewegung, mit der Pauline ihren 
Atlas oder ihr Buch hervorzog und ihren Stuhl zurecht rückte, machte 
fie ſelbſt müde, und die Lectionen, von denen fie auch nicht die min- 
deſte Frucht ſah, wurden ihr zur täglichen Qual. 

Dieſe Qual wurde vielfach erleichtert, da Pauline faſt jeden 
Tag ein anderes Leiden hatte. Einmal ſtand ſie mit Kopfweh auf, 
den andern meinte ſie, es ſei ihr faſt wie wenn ihr Zahnweh wieder 
kommen könnte, am dritten war ihr ſchlecht im Allgemeinen und den 
vierten Tag eröffnete ſie mit der Bemerkung: „ich weiß eigentlich 
gar nicht, wie mir's heute iſt;“ für alle dieſe großen Leiden und 
Beſchwerden ſuchte ſie bei der Mutter um einen Ferientag nach, der 
auch meiſt ohne Anſtand bewilligt wurde. 

So hätte Emma viel freie Zeit gehabt, wenn ſich's nicht bald 
gezeigt hätte, daß ſie faſt mehr zur Kammerjungfer der älteren 
Fräulein als zur Gouvernante der jüngſten berufen war. Eine Gou— 
vernante mußte man haben, das erforderte der Anſtand; da es aber 
bei den ſehr beſchränkten Mitteln der Baroneſſe nicht möglich war, 
die ſonſt erforderliche Anzahl von Dienſtboten zu halten, ſo mußte 
auf eine gedacht werden, die noch andere Aemter in ſich vereinigen 

„könne, und da aus Emma's Zeugniſſen hervorging, daß fie in ver— 
ſchiedenen Leiſtungen erfahren war, ſo erhielt dieſe den Vorzug, da 
ſie auch keine hohen Anſprüche an Gehalt machte. 

Beim Eintritt in das Landhaus der Baroneſſe war zur Seite 


222 Emma's Pilgerfahrt. 


der verſchloſſenen Thüre ein Klingelzug mit der vornehmen Inſchrift: 
„Domeſtiken-Glocke“; wer aber daran zog, der bekam unter allen 
Umſtänden nur Einen Domeſtiken zu Geſicht: beſtehend in einer alten 
Magd, die Köchin und Zimmerjungfer zugleich war, auch nebenher 
die Geſchäfte des Gärtners verſah, vom ganzen Hauſe gefürchtet, ob⸗ 
gleich wegen ihrer nützlichen Eigenſchaften ſehr geſchont und geſchätzt. 
Da war es natürlich ſehr erwünſcht, daß Emma auch bei allen 
häuslichen Geſchäften, Bügeln, Kleidermachen ꝛc. hilfreiche Hand 
leiſten konnte. Sie hätte es gerne gethan, ſie war ja daran gewöhnt, 
wenn ſie nur durch einige Güte und Vertraulichkeit ermuntert wor⸗ 
den wäre. Aber die Baronin hatte ihren Töchtern ſtreng eingeſchärft: 
„Perſonen unſeres Standes in beſchränkten Vermögensverhältniſſen 
können ſich gar nicht genug hüten, ihrem Range nichts zu vergeben; 
heben ſich dann die Glücksumſtände, ſo braucht man nicht erſt wieder 
mühſam ſeine Stellung wieder einzunehmen und ſich loszumachen von 
unpaſſender Vertraulichkeit.“ So bewahrten denn die Fräulein ihre 
Stellung, zumal ſeit ſie gehört, daß Emma vom Dorfe und eine 
Schulmeiſterstochter ſei; wenn ſie mit ihnen und für ſie arbeitete, ſo 
war ihr Platz an einem entfernten Tiſchchen, nie wurde ein Wort an 
ſie gerichtet außer den nöthigen Anweiſungen; freilich war die Unter⸗ 
haltung der Schweſtern oft leer und geiſtlos genug, um ſie nicht 
lüſtern darnach zu machen. Aber allein war ſie eben wieder, fo 
allein, wie faſt nie in ihrem Leben; ſelbſt in dem einförmigen Tage⸗ 
werk bei der Mrs. Gladſtone hatte fie doch alle Tage Ein Gebet mit 
der Familie vereinigt; hier hielt es die Dame des Hauſes für See⸗ 
lenadel, wenn ſie bei jeder unbezahlten Rechnung immer hochmüthiger 
wurde, und die arme Emma dachte, wie ſie ſchon manchmal gedacht: 


Emma's Pilgerfahrt. . 223 


dieß iſt jetzt die ſchwerſte Prüfung, die mir vorgekommen. Sie 
kämpfte aber ritterlich, aufrecht zu bleiben in gutem Muthe, und 
wenn die Kälte, der ſie begegnete, auch ihr Herz zu verkühlen drohte, 
ſo dachte ſie an ein Wort der ſeligen Mutter, der ſie einmal bei 
einem Kinderzwiſte geklagt hatte: „aber, Mutter, das kann ich wirk— 
lich nicht wiſſen, ob ich meine Feinde liebe, wie der Heiland will.“ 
„Verſuch' zuerſt, ob Du aufrichtig für ſie beten kannſt!“ hatte ihr 
die Mutter geſagt, „die Liebe kommt dann wohl ſchon.“ So ver— 
ſuchte ſie denn für die zu beten, die nicht mit ihr beten wollten; ihr 
Herz war dadurch ruhiger, ſie fühlte ſich nicht mehr erniedrigt und 
wurde ſich wieder inniger ihres Kindesrechts an eine Heimath be— 
wußt, die für jede Einſamkeit auf Erden tröſten kann. 

Eines Tages war große Bewegung im Hauſe: ein Brief einer 
Couſine war angekommen, die ſich vor zwei Jahren verheirathet hatte, 
und die nun die beiden älteren Fräulein zu ſich auf ihr Schloß 
einlud. 

Das Schloß der Couſine war ziemlich entlegen und die Reiſe 
etwas umſtändlich; aber die Couſine war ſehr reich, die Gelegenheit, 
dort neue, vornehme Bekanntſchaften zu machen, war ſehr lockend, die 
Einladung wurde mit Freuden angenommen, nur fragte ſich, wie man 
ein recht anſtändiges Auftreten dort möglich machen ſollte; denn es 
verſtand ſich von ſelbſt, die jungen Fräulein mußten als ſehr wohl— 
habend gelten. Da wurde denn die ganze Garderobe auf den Platz 
geſchafft, man beſchrieb Kleiderſtoffe von neuen Kaufleuten, die noch 
gern Kredit gaben, die Mama opferte ihr ſchweres Seidenkleid und 
gab eine Blondenhaube zu Manſchetten her; „wir müſſen nur bald 
erklären, daß wir Geſchmack für's Einfache haben,“ ſagte Valerie, 


224 Emma's Pilgerfahrt. 


„natürliche Blumen im Haar tragen und Morgenſpaziergänge machen, 
das läßt gut, und man erwartet dann weniger Eleganz.“ Emma 
erhielt aus der Beute, die man von dem neuetablirten Kaufmanne 
machte, ein hübſches Mouſſelinkleid; überhaupt wurde die Familie 
mit Einemmale viel freundlicher und artiger, und Emma kannte nun 
die Welt genug, um zu vermuthen, daß das ſeine beſonderen Gründe 
haben könnte. f 

„Was würden Sie dazu ſagen, Mademoiſelle Emma“ (Fräu⸗ 
lein wollte nicht heraus gegen eine Schulmeiſterstochter) fragte die 
Baronin, „meine Kinder nach Schloß Krausniz zu begleiten? es 
wäre eine ſehr angenehme Reiſe und ein reizender Aufenthalt dort.“ 

„Aber Pauline?“ fragte Emma ganz verblüfft über die uner⸗ 
wartete Ehre. 

„O, die arme Kleine,“ ſagte die Mutter, „iſt wieder jo ange⸗ 

griffen (die arme Kleine wälzte ſich allerdings jetzt um acht Uhr 
noch in tiefem Negligs auf dem Sopha), ein wenig Ferien wird ihr 
nicht ſchaden.“ | 

Mit halb böſem Gewiſſen dachte Emma, daß ſie ſeither faſt 
lauter Ferien gehabt. „Aber — ich bin nicht eingeladen,“ ſtam⸗ 
melte ſie. 

„O, das kommt nicht in Frage,“ ſagte die Dame mit vorneh⸗ 
mem Lächeln, „es iſt meinen Töchtern freigeſtellt, Begleitung mitzu⸗ 
bringen; rüſten Sie ſich nur, meine Liebe, brauchen Sie etwas von 
Ihrem Gehalte?“ Emma hatte nämlich in neun Monaten, ſeit ſie hier 
war, noch keinen Gehalt eingenommen; da ſie aber noch einen kleinen 
Vorrath von dem Abſchiedsgeſchenke des Pfarrers her hatte, ſo wagte 
ſie nicht, es zu ſagen und meinte, ſie reiche wohl noch. So ward 


Emma’s Pilgerfahrt. 225 


nun ohne Weiteres angenommen, daß fie mitreife, obwohl fie ſich 
noch nicht ſo recht in die Ehre finden konnte. 

Die Sache war, daß die Couſine den Fräulein geſchrieben, ſie 
würden wohl thun, ihre eigene Bedienung mitzubringen, da ſie viele 
Gäſte erwarte; da ſie nun nicht im Beſitze einer Kammerjungfer 
waren, ſollte Emma in der Geſchwindigkeit aus der Erzieherin in 
eine ſolche verwandelt werden. „Für eine Schulmeiſterstochter noch 
Ehre genug,“ meinte die Baronin, „man ſagt ihr jedoch vorher nichts 
davon, das gibt ſich von ſelbſt.“ 


Am Ziele. 


Früh am Morgen, eh die Schloßbewohner ſich erhoben hatten, 
ſaß Emma in der Laube des ſchönen Gartens, der Schloß Krausniz 
umgab. All die verſchiedenen Bilder ihres wechſelvollen Lebens zogen 
an ihr vorüber, wie ſie ſo allein, allein mitten in einem Hauſe voll 
fröhlicher Menſchen in der thauigen Morgenfriſche daſaß. Sechszehn 
Jahre waren es, ſeit ſie die ſtille Heimath zu Kühlenbronn verlaſſen; 
eine irdiſche Heimath hatte ſie ſeit der Mutter Tode nicht mehr ge— 
funden, und ſie fühlte ſich oft ſo innerlich müde, daß ihr das Leben 
manchmal nur als eine Aufgabe, nicht als eine Gabe erſchien. 


Allein und doch nicht ganz allein, wie es in dem alten Liede 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 15 


226 Emma's Pilgerfahrt. 


heißt, war ſie hier; ihren treueſten Begleiter, das alte Bibelbuch des 
Ahnherrn, hatte ſie bei ſich, ſo ſehr auch die jungen Baroneſſen 
über den großen läſtigen Band gelächelt und geſpottet hatten. Sie 
wußte ja wohl, der Segen des Gotteswortes war nicht gerade an 
dieſes Buch gebunden; aber für ſie lag ſo unendlich viel in dem alten 
Buche mit den einfältigen Bildern: die dunkle Erinnerung an den 
Vater aus den früheſten Kindertagen, an die ſtillen Feierſtunden mit 
der Mutter, die lichten Morgenſtunden mit dem armen Arthur, an 
all die herrlichen troſtreichen Stellen, die ihr oft in den trübſten 
Stunden Troſt gebracht; — der goldene Faden der treuen Führung 
Gottes, der ſich durch ihr ganzes Leben zog. 

Sie fühlte ſich auch jetzt wieder mehr als je des Troſtes und 
der Stärke bedürftig, auch jetzt wieder hatte ſie einen ſtillen Kampf 
mit ſich zu kämpfen. | | 

| Die Reife hatte fie mit den jungen Damen auf verfchiedene 
Weiſe, in immer auffteigender Linie gemacht. Von dem Landhauſe 
aus waren ſie in einem ſchauerlichen Rumpelkaſten von Kutſche, die 
in einer alten Remiſe verfaulte, mit Ackergäulen bis zur nächſten 
Station gefahren; von dort mit dem Eilwagen bis auf eine Stunde 
vor Schloß Krausniz, wo ſie der elegante Wagen des Gutsherrn 
abholte. 

Beim Einſteigen hatte Valerie der Julie zugeflüſtert: „Setz Dich 
breit hin!“ hatte in Eile den Rückſitz mit Schachteln, Shawls und 
den runden Morgenhüten bedeckt und ſagte nun ſehr freundlich zu 
Emma: „Liebe Emma, Sie würden gewiß auf dem Bocke Platz 
nehmen; es iſt wirklich kaum der Mühe werth, die Sachen da noch 
zu packen, und auf dem Kutſcherſitz iſt es ſo luftig, ſo angenehm.“ 


Emma’s Pilgerfahrt. 227 


Emma fand dieſe Reiſeweiſe nicht ſehr nach ihrem Geſchmacke, doch 
fügte ſie ſich darein. 

Als ihnen bei der Ankunft die Dame des Hauſes entgegenkam, 
war ſie etwas ſchüchtern und geſpannt, wie man ſie denn vorſtellen 
werde. Sie hätte ſich die Sorge erſparen können, man ſtellte ſie gar 
nicht vor. Die jungen Damen hüpften herab und umarmten die 
Couſine; im Hineingehen in's Haus drehte Valerie noch den Kopf 
und rief gnädig: „Bitte, Emma, ſorgen Sie für das Gepäck!“ Emma 
hörte noch, wie ſie zu der Couſine ſagte: „Sie ſind wohl ſo gut und 
laſſen unſerem Mädchen unſer Zimmer anweiſen.“ So wußte ſie 
alſo mit einemmale, wozu man ſie mitgenommen, und wurde mit 
dieſem Anfang jo gänzlich zu dem Geſinde gewieſen, daß jeder DVer- 
ſuch, ſich eine andere Stellung zu geben, unmöglich geweſen wäre. 
Sie war gewöhnt, Dienſte aller Art zu leiſten; ſie hätte ſich auch zu 
dieſem verſtanden, wenn man ſie darum gebeten, ihr die Verlegenheit 
vorgeſtellt hätte, in der ſich die Damen wirklich befanden. Aber das 
falſche Spiel, das man mit ihr getrieben, brachte ſie auf; all ihr 
Selbſtgefühl empörte ſich, und als ſie Nachts, nachdem ſie tauſend 
kleine Demüthigungen von den impertinenten Kammerzofen anderer 
fremden Damen erlitten, nachdem ſie in ſchweigender Herzensbitterkeit 
den Fräulein beim Entkleiden geholfen, endlich in dem ſchmalen Käm⸗ 
merlein, das man ihr angewieſen, zur Ruhe kam: da brach der Sturm 
ihrer Gefühle los, und ſie beſchloß, dießmal ſich nicht Alles gefallen 
zu laſſen. Sie machte verſchiedene Plane, wie ſie ſich rächen wollte 
für die Täuſchung, mit der man ſie als Freundin und Geſellſchaf— 
terin hieher gelockt, um ſie nun als Magd zu mißbrauchen. Sie 
dachte daran, in die verſammelte Geſellſchaft zu treten und den Da— 


228 | Emma's Pilgerfahrt. 


men die Wahrheit zu ſagen, indem ſie ihnen für immer ihre Dienſte 
aufſagte; — ſie dachte ſich die ſchönſten Briefe aus, die ſie ſchreiben 
wollte, voll von beleidigter Würde. Aber dazwiſchen fiel ihr ein, was 
oft die Mutter geſagt, wenn ſie im Begriffe war, einen raſchen 
Schritt zu thun: „Kind, ſchlaf vorher drüber.“ Müde genug war 
ſie, um darüber ſchlafen zu können, und im Entſchlummern ſchwebte 
ihr ein ſanftes, holdſeliges Angeſicht vor, deſſen mildes Lächeln wie 
Balſam in die Wogen ihres empörten Gefühles fiel. 

Dieß ſchöne, ſanfte Angeſicht, das ſie heute zum erſtenmal ge⸗ 
ſehen, war das der Dame des Schloſſes. Emma hatte ſie nur einen 
Augenblick bei der Ankunft erblickt und ſpäter, als ſie im Vorüber⸗ 
gehen einige freundliche Worte zu ihr ſprach; aber dieſer kurze Anblick 
hatte ihr das Ideal einer Edelfrau gezeigt, wie es von Kindheit auf 
vor ihrer Seele geſchwebt hatte. Die Dame war jünger als Emma, 
und die durchſichtige Zartheit ihrer Geſichtsfarbe, ihre weiche, bieg⸗ 
ſame Geſtalt gab ihr ein faſt kindliches Ausſehen, und doch fühlte 
Emma, daß ſie vor dieſer Frau ſich freudig neigen, in williger 
Demuth ihr jeden Dienſt erweiſen könnte; — der Adel auf dieſer 
Stirn war der ächte Adel von Gottes Gnaden, der Adel einer reinen, 
fleckenloſen Seele, rein und hoch im demüthigen Gefühle ihres Kindes⸗ 
rechts zu dem Herrn aller Herren. Und mit der natürlichen, ſanften 
Freundlichkeit ihres Weſens paarte ſich die Anmuth, die Leichtigkeit 
der Formen, welche die Gewöhnung an edle Sitte, die rechte Bildung 
gibt; wenn die bloße Erſcheinung dieſes edlen Bildes Emma ſanfter 
ſtimmte, ſo war ihr auf der andern Seite wieder doppelt ſchmerzlich, 
daß ſie durch die Stellung, die man ihr angewieſen, von jedem nähe⸗ 


Emma's Pilgerfahrt. 229 


ren Umgange mit ihr ausgeſchloſſen war: — ihr Zorn zerfloß in 
Thränen, in denen ſie bald einſchlummerte. 

Ein ſchräger Sonnenſtrahl aus dem ſchmalen Fenſterſpalt, der 
von hoch oben ihrem Kämmerlein das einzige Licht zuführte, erweckte 
Emma zu neuem Gefühl des Unrechts, das ihr geſchehen war. Sie 
ſtieg auf einen Stuhl, um das Luftloch zu öffnen; ein herrlicher 
Strom friſcher Morgenluft quoll ihr entgegen und lockte ſie in's Freie. 

Im Hauſe war Alles noch todtenſtill, bis auf einen alten 
Diener, der die Thüre öffnete und Emma verwundert anſtarrte, wie 
fie, mit ihrer großen Bibel unter dem Arme, in den Garten hinaus- 
ſchlüpfte, den fie ſchon geſtern auf der Rückſeite des Schloſſes ent- 
deckt hatte. 

Es war ein herrlicher Garten mit laubigen Gängen, weichen, 
grünen Grasplätzen und reichen Blumenbeeten; Emma fand bald eine 
offene Laube, in die ſie ſich mit ihrem Kleinod ſetzte, um hier im 
Freien die Andacht zu halten, die ſie in der Aufregung des Abends 
verſäumt hatte. So ſchön und hell wie der Morgen war's noch 
nicht in ihrem Herzen: es wogten trübe, bittere Gefühle darin. Wenn 
ſie dachte, welche Demüthigungen ihr der Tag noch bringen konnte, 
wie ihr vielleicht ſelbſt dieſer ſtille Genuß der Frühſtunde im Garten 
als Anmaßung aufgerechnet werde; ſo brachte ſie eben nicht den 
rechten Sinn mit zum Bibelleſen. Aber die Mutter hatte ſie einmal 
ſo herzlich ermahnt: „Thu's doch, Kind, thu's auch mit unwilligem 
Herzen! je ferner du dem Vater biſt, deſto nöthiger haſt du ihn zu 
ſuchen.“ | 

So ſuchte fie ihn denn, und er ließ fich finden; fie verſenkte ihre 
Seele in das heilige Bild Deſſen, der nicht gekommen, daß er ihm 


230 Emma's Pilgerfahrt. 


dienen laſſe, ſondern daß er diene. Ihr Herz wurde ſtille und ihr 
Auge klar, wenn ſie in ſeinem Dienſte war; was lag daran, welche 
Dienſte ſie den Menſchen leiſtete, konnte nicht der geringſte edel wer⸗ 
den durch den Sinn, in dem ſie ihn that? In dieſem Augenblicke 
ſchien ihr die Pilgerfahrt nicht ſo mühſam, das Ziel nicht mehr ſo 
hoch und ſchwer erreichbar. Aber weil ſie die Schwäche ihres eigenen 
Herzens kannte, ſo bat ſie Gott zuverſichtlich und kindlich, ihr auch 
noch eine Stätte auf Erden anzuweiſen, wo ihr Herz ſich daheim 
fühlen könnte, und auf's Neue tauchte das liebliche I ie der 
ſchönen Herrin des Schloſſes vor ihr auf. 

Sie erhob ſich, um durch den immer noch ſehr ſtillen Garten 
einen Gang zu machen. Köſtlich erquickend umwehte ſie die Frühluft, 
umdufteten ſie die Blumen, und ſie hatte noch einmal zu kämpfen mit 
einer leiſen Regung von Neid gegen die Glücklichen, denen all dieſe 
Herrlichkeit zu eigen gehörte, die ſie nur verſtohlen genießen durfte. 
Der Ton einer Glocke weckte ſie aus ihren Träumen; ſie fürch⸗ 
tete, ſich ſehr verſpätet zu haben, und wollte eilig in das Haus 
zurückkehren. Aber es brauchte lange, ehe ſie in den verſchlungenen 
Gängen die Laube wieder fand, wo ſie ihre Bibel gelaſſen hatte. 
Sie erſchrack, als ſie in der Laube einen Mann ſitzen ſah, über das 
Buch gebeugt, deſſen Blätter er mit höchſter Aufmerkſamkeit durch⸗ 
ſah. Er erhob ſich, als er Emma's Schritte hörte — es war ein 
ſchöner, fein gekleideter Mann. „Gehört Ihnen dieß Buch?“ fragte 
er Emma, indem er ihr entgegentrat mit einer Lebhaftigkeit, die ſie 
überraſchte. 

„Es iſt mein Buch,“ ſagte ſie etwas befangen. 

„So ſind Sie Emma!“ rief er tief bewegt, „die Freundin, die 


Emma's Pilgerfahrt. 231 


Lehrerin meiner Kindheit, mein Schutzengel, der mich zum Leben 
aufweckte, dem ich alles danke, was ich bin und habe!“ 

„Arthur?“ fragte Emma in höchſtem Erſtaunen; ſie konnte es 
nicht faſſen, und doch war ihr, als ſie ihre Augen zu ihm erhob, 
ſie erkenne in dieſem männlichen Geſichte die Züge des blöden Kna— 
ben wieder. 

Ein leichter Schritt rauſchte hinter ihnen, und im blendend 
weißen Morgengewande trat die ſchöne Schloßfrau mit freundlichem 
Morgengruß in die Laube. | 

„Weißt Du, liebe Luzie, daß dies Emma iſt?“ rief ihr Arthur, 
denn er war der Gebieter des Hauſes, freudig zu; „meine Emma, 
unſere Emma, von der ich Dir ſo viel erzählte?“ und mit ſchweſter— 
lichem Gruß umarmte Luzie die noch immer halb betäubte und er— 
ſtaunte Emma, die nicht wußte wie. 

„Luzie, Liebe, laß das Frühſtück hieher bringen!“ bat Arthur, 
„Emma begreift noch nicht, wie Alles zugeht, — ſo können wir ihr 
in Ruhe erzählen.“ 

„Aber meine Fräulein?“ fragte Emma ängſtlich. 

„Ah jo, die Couſinen!“ ſagte lächelnd Luzie, „o, die müſſen 
ſich gedulden,“ und ſie gab dem Diener, der das Frühſtück bringen 
mußte, den Auftrag, den Baroneſſen zu ſagen, Fräulein Emma ſei 
bei ihr beſchäftigt, ſie möchten ſich von Liſette, ihrer Kammerjungfer, 
bedienen laſſen. 

Es war wie ein Traum für Emma, als ſie, die lange Zurück— 
geſetzte, nun wie eine liebe, langgeſuchte Schweſter zwiſchen dem 
Schloßherrn und feiner Frau ſaß; das zierliche Tiſchchen mit jilber- 
nem Frühſtücksgeräthe vor ſich, aus dem Luzie, die Dame des 


232 5 Emma's Pilgerfahrt. 


Hauſes ſelbſt, ſie bediente, während Arthur ihr ſeine Lebensgeſchichte 
erzählte. f n 

Es war jo, wie Emma in früheren Jahren ſich oft gedacht: — 
nur Ein Band war noch zu ſprengen geweſen, um ſeinem gebundenen 
Geiſte zur Freiheit zu helfen, und es ſchien, daß der tiefe Schmerz 
der Trennung von Emma, dem einzigen Weſen, zu dem er gehörte, 
dies Band geſprengt hatte. | 

Als damals nach Emma's Scheiden der gute Pfarrer ihn 
gefunden in ſeinem Jammer und, um ihn zu tröſten, ihm von 
Emma erzählte, da war ſeine Scheu geſchwunden. Der Geiſtliche 
fand bald, daß Emma recht gehabt; er machte es zur Aufgabe 
ſeines ſtillen Lebens, ihr Werk fortzuſetzen und der ſchlummernden 
Seele, die ſie in ihrer ſchlichten Kindesweiſe geweckt, zum vollen 
Leben zu verhelfen. 

Bald wurde ihm klar, daß der Onkel, in deſſen Intereſſe es 
natürlich lag, daß Arthur nicht zur Herrſchaft komme, ſchlecht genug 
war, abſichtlich den Knaben zu vernachläſſigen, um ſeine geiſtige Ent⸗ 
wickelung, die durch frühe Krankheit auf ſo räthſelhafte Weiſe ge⸗ 
hemmt worden war, zurückzuhalten. Er hatte ihm einen Hofmeiſter 
gehalten, um der Behörde ſagen zu können, es ſei Alles für die Er⸗ 
ziehung des Knaben geſchehen. Ob dieſer Hofmeiſter nur leichtſinnig 
und gewiſſenlos war, ob er mit Wiſſen die verbrecheriſche Abſicht des 
Onkels unterſtützt hatte, — der Pfarrer wollte das nicht entjcheiden; 
aber er ſetzte bei dem Onkel, den das böſe Gewiſſen ſcheu machte, 
durch, daß Arthur ihm übergeben wurde; er nahm ihn mit ſich auf 
ſeine neue, von Kühlenbronn weit entlegene Stelle, und ſeiner raſt⸗ 
loſen Bemühung, mit all den Hülfsmitteln unterſtützt, die das große 


Emma's Pilgerfahrt. 233 


Vermögen des jungen Barons bot, gelang es, den ſpät erwachten 
Geiſt noch zu voller Entwickelung und Reife zu bringen. 

„Zum Gelehrten hat er mich mit aller Mühe nicht machen 
können,“ ſchloß Arthur ſeinen langen Bericht; „aber mit Gottes 
Hülfe ward mir ſo viel Licht und Kraft, daß ich mich des Lebens 
und ſeiner Schönheit freuen, daß ich meinem Beſitze mit Ehren vor⸗ 
ſtehen kann und daß ich mir ein Herz gewinnen konnte, das mir das 
Leben unausſprechlich ſchön macht.“ Er faßte innig die Hand ſeiner 
lieblichen Frau. 

„Und Dein, — Ihr Onkel?“ fragte S 

„Ich habe ihn nur einmal wieder geſehen, als er mir den Beſitz 
der Güter und ſeine Rechnungen als Vormund übergeben mußte. 
Er dankte Gott, daß ich ſchwieg, — ſeit vier Jahren iſt er todt; 
mir iſt in den alten Umgebungen, die mich als den blöden Arthur 
gekannt, immer eine gewiſſe Scheu geblieben; darum bezog ich das 
Gut, das mir hier zu Lande zufiel, und gewann hier mein liebes 
Weib.“ 

„Und der gute Pfarrer?“ 

„Auch er iſt heimgegangen, ich konnte ihm bei ſeinem einfachen, 
bedürfnißloſen Leben nichts zu Liebe thun; nur meinen een 
Segen konnte ich ihm in's Grab geben. 

„Wie oft habe ich gewünſcht, auch Dir, liebe Emma, danken zu 
können! (ich kann nicht anders als Du zu Dir ſagen); aber auf die 
Forſchung nach Dir, die ich und meine Luzie anſtellten, konnten wir 
nur erfahren, daß Du von der Schweiz nach England gegangen und 
von dort noch nicht zurückgekehrt ſeieſt.“ 

„Lange aber iſt beſchloſſen,“ ſagte Luzie, „daß Sie, wenn Sie 


234 Emma's Pilgerfahrt. 


einmal aufgefunden würden und nicht einen eigenen Herd gegründet 
hätten, als Schweſter mit uns leben müſſen.“ 

„Kannſt uns helfen den kleinen Arthur erziehen,“ ſagte lächelnd 
der Baron; „er wird Dir, will's Gott, nicht ſo viel Mühe machen 
wie ſein Papa.“ | 

Nun hätte auch Emma ihre Geſchichte erzählen ſollen; aber es 
war ſpät geworden. Die Gäſte oben, beſonders die zwei Couſinen 
Luzien's vergingen faſt vor Neugierde zu wiſſen, was das zu bedeuten 
habe, daß Emma, die obſcure Schulmeiſterstochter, mit der Schloß⸗ 
herrſchaft allein im Garten frühſtücke. 

Das Räthſel wurde ihnen nicht gelöst, als Arthur bei Tiſche 
Fräulein Emma Nägelbach als feine Adoptivſchweſter vorſtellte. Das 
war doch ein wunderlicher Titel! von Adoptivkindern hatte man ſchon 
gehört, von Adoptivſchweſtern nie. — Sie konnten es durchaus 
nicht begreifen, ging es doch faſt Emma ſelbſt ſo. Es war ihr zu 
Muthe wie im Traume, als Luzie, ihre neue anmuthige Schweſter, 
ſie mit ſich nahm und ſie bat, unter ihren Kleidern zu wählen, bis 
ſie ſich ſelbſt neue ausſuchen könne; als Luzie ſelbſt ſie Abends, ſtatt 
in das enge Schlafkämmerlein mit dem Luftloche am Giebel, in zwei 
allerliebſte, zierlich eingerichtete Zimmer führte, mit allem ausgeſtattet, 
was ihr das Gefühl einer behaglichen Heimath geben konnte: mit 
Büchern, Arbeitsgeräthen, Blumen. — Es ward ihr nur wieder 
leicht, als ſie in der Einſamkeit ihr dankbares Herz vor Gott aus⸗ 
ſchütten konnte, der das Gebet ihrer Kindheit weit über ihr Bitten 
und Verſtehen erhört hatte. 

Es war wirklich nicht möglich, den wißbegierigen Güſten klar 
zu machen, warum Arthur eine ſo brüderliche Liebe und Dankbarkeit 


Emma's Pilgerfahrt. 235 


für die arme, unbeachtete Emma fühlte; fie mußten ſich damit be- 
gnügen, daß man ihnen ſagte, der Baron habe in ſeiner Kindheit 
von Emma und ihrer Mutter viel Freundſchaftsdienſte erhalten. 

Mit dieſer ungenügenden Auskunft mußten die Fräulein endlich 
ohne Kammerjungfer abziehen und konnten auch der verwunderten 
Mutter daheim nichts erzählen, als daß Emma in Wahrheit im Hauſe 
des Barons wie eine Schweſter geliebt und geehrt ſei; daß der kleine 
Knabe Tante zu ihr ſage, und daß zwiſchen ihr und Couſine Luzie 
das herzlichſte, liebevollſte Verhältniß beſtehe. Auch die Mutter, ſo 
geſcheid ſie ſonſt war, konnte es nicht herausbringen, und ſie beſinnen 
ſich alle Vier noch bis auf den heutigen Tag darüber. 

Und Emma, die einſame, heimathloſe Emma, die ſich nun mit 
einemmale in eine Heimath voll Liebe und Frieden, voll Fülle und 
Ueberfluß verſetzt ſah? — Man ſagt, es ſei ſchwer, ſich an das Glück 
zu gewöhnen in der rechten Weiſe. Das mag wohl ſein; doch dürfen 
wir ſagen, daß Emma ihr Glück mit demüthigem, dankbarem Herzen 
trug und durch ſchweſterliche Treue, durch liebevolle Thätigkeit ſich 
zu der alten Dankbarkeit neue Liebe gewann. 

Sie konnte eigentlich nie recht begreifen, daß der ſchöne kraftvolle | 
Mann, der zwar in einfacher Weiſe, aber mit Klarheit und Umſicht 
feine Stellung im Leben ausfüllte, und Arthur, der arme, blöde, un- 
wiſſende Arthur, ihr Zögling, ein und derſelbe ſei, — der Uebergang 
war zu plötzlich; ſie grübelte nicht darüber, ſie nahm das Glück und 
den Frieden ihres neuen Lebens, die reiche goldene Ernte, die ihr 
erwachſen war aus der Saat, die ihre ſelbſtloſe Herzensfreundlichkeit 
einſt unbewußt ausgeſtreut, ſie nahm ſie hin als eine unverdiente 
Gottesgabe. 


236 Emma's Pilgerfahrt. 


Man erzählte mir, die ſchöne freundliche Heimath des Bruders 
ſei nicht Emma's letztes Reiſeziel geblieben; der Pfarrer des Gutes, 
ein edler, würdiger Mann, habe ſie an den eigenen Herd geführt, 
und Arthurs Kinder ſeien im Pfarrhauſe der Tante Emma heimiſch 
geworden wie im väterlichen Schloſſe. Ganz ſicher konnte ich das 
nicht erfahren; gewiß aber iſt, daß ſie gefunden, um was ſie Gott 
fo innig gebeten, — eine Herzensheimath, und daß ihre wechſelvolle 
Pilgerfahrt ein heiteres Ziel gefunden hat. 


Die Waller im Jahr 1824, 


oder: 


Irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten. 


Unter die fröhlichen Erinnerungen aus meiner Kinderzeit gehört 
der Verkehr mit den Kindern benachbarter Pfarrhäuſer, mit deren 
Eltern die unſrigen gut befreundet waren, vor allem mit den Vettern 
und Bäschen gleichen Alters, deren Vater in einem Dorf an der 
Murr, nur eine kleine Stunde von meinem Heimathsort entfernt, 
Pfarrer war. | 

Wir machten uns gar häufige Beſuche und Gegenbeſuche. Ich 
wollte einmal als Kind den erſten Brief, den ich dem kleinen Bäschen 
geſchrieben, gleich ſelbſt hinüber tragen, damit ſie ihn gewiß bekomme; 
es führte nach Steinheim ein ſchöner luſtiger Weg über die Höhe, 
von der man weit hinaus in's Land ſah; mit einigem Grauſen eilte 
man an der Stätte vorüber, wo vor Zeiten der Galgen geſtanden 
war, und äußerſt fröhlich ging es in luſtigen Sprüngen den letzten 
Hügel hinunter, wo man das Dorf vor ſich liegen ſah, über die 
Brücke, unter der die Murr, ein ziemlich zahmes und ſtilles Waſſer, 
vorüberfließt, durch die wohlbekannten Gaſſen dem ſtattlichen Pfarr— 
hauſe zu mit dem traulichen Plauderbänkchen vor dem Hauſe und 
dem zierlich gepflegten Blumengärtchen an der Seite. 

Inm Pfarrhaus war immer reiche Waide für die Jugend, volle 


240 Die Waſſer im Jahr 1824. 


Obſtgärten, luſtige Tummelplätze im Freien und auf der Wieſe. Wir 
hatten einander immer etwas zu erzählen und zu zeigen, neue Spiele 
zu lehren, neue Bücher auszutauſchen, und gar häufig begleiteten uns 
am Abend Vetter und Bäschen bis nach Haus, um gleich warm den 
Beſuch wieder heimzugeben. | 

Im Sommer des Jahrs 1824 war ich auch als kleines Mäd⸗ 
chen von ſieben Jahren auf Beſuch bei Onkels. Es war aber kein 
luſtiger Sommer zu einem Beſuch auf dem Lande: Regen den ganzen 
lieben langen Tag; wenn es ausgeregnet hatte, ſo kam gleich wieder 
ein Gewitter, das neuen Regen brachte. 8 

Wir Kinder verſtanden freilich den Jammer und die ſorgen⸗ 
vollen Geſichter nicht, mit dem die Dorfleute, die häufig zu Onkel und 
Tante kamen, das böſe Wetter beklagten; wir wußten nur, daß wir 
nicht auf die Gaſſe konnten, und nachdem wir uns mit Puppenſpielen 
erſchöpft, ſtanden wir oft Viertelſtundenlang am Fenſter und ſchauten 
zu, wie ſich auf der Straße Bächlein bildeten und die Bächlein zu 
einem Bach wurden, in dem die Jungen Schifflein hinunter ſegeln 
ließen. Einmal aber, da wurde es zu gewaltig mit dem Regen; es 
goß wie mit Strömen, von allen Hügeln ſchoßen die Bäche nieder 
und die Murr, die ſonſt nur ſo ſtill und heimlich durch die Wieſen 
ſchleicht, trat plötzlich unvorhergeſehen über ihre Ufer, ſo daß mit 
einemmale das untere Dorf unter Waſſer ſtand. f 

Für dieſen Fall, der damals nicht ſo ſelten war, hatte man ſich 
aber ſchon vorgeſehen; im Schuppen des Rathhauſes war das große 
Fleckenſchiff bereit; da ruderten zwei ſtarke Männer zu allen Häuſern, 
welche im Waſſer ſtanden, die bedrängten Leute zu retten. Man bot 
ihnen zuerſt die Kindlein heraus; die fürchteten ſich oft vor dem 


Die Waſſer im Jahr 1824, 241 


großen Waſſer und wollten nicht gehen; oft wollten ſich zu viele Leute 
auf das Schiff drängen. Einer warf ſeinen Kornſack heraus; ein 
Andrer wollte, daß man zuerſt ſeine Kuh retten ſoll: — es war ein 
Geſchrei, ein Klagen, dazwiſchen Viehgebrülle, daß man faſt hätte 
glauben ſollen, die große Sündfluth ſei wieder hereingebrochen. 

Und doch ging kein Menſchenleben verloren. Die wackern Fergen 
ſchafften nach und nach Alle an ſichre trockne Orte. Die Leute, deren 
Häuſer verſchont und nicht in Gefahr waren, thaten freundlich ihre 
Stuben auf für die armen Vertriebnen, ihre Ställe für das kläglich 
brüllende Vieh; und wir leichtſinnigen Kinder ergötzten uns wieder 
an den wachſenden Bächlein, an drei Mäuſen, die ſich im Garten auf 
einen Stein geflüchtet hatten, an einem blauen Pantoffel, der wie 
ein Schifflein herumſchwamm. 

Das Pfarrhaus ſtand ſicher, aber in den Keller war auch Waſſer 
gedrungen; man hatte die Fäſſer feſtgemacht, damit ſie das Waſſer 
nicht lüpfen konnte. Da ließ uns der dickkopfige Chriſtoph des 
Nachbars Eiſele zu einer Luſtfahrt im Keller einladen, er wolle uns 
in einem Zuber ſchifffahren. 

Heute noch wundert mich's, daß die Tante, die ſonſt ſehr vor— 
ſichtig war, ihre Einwilligung zu dieſer gefährlichen Fahrt gegeben 
hat, die uns Kinder höchlich beluſtigte. Das dunkle Kellergewölbe mit 
trübem Waſſer gefüllt, kam mir wie eine Zauberhöhle aus einem 
Märchen vor; das ſeltſame Fahrzeug, dem man uns anvertraute, 
ſchwankte heftig hin und her, während der Chriſtoph mit einem 
langen Kehrbeſen als Ruderſtange gewaltig herumſchiffte. Bäschen 


Mathilde fing an zu weinen, Vetter Franz und ich ſchlugen in die 
Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 16 


242 Die Waſſer im Jahr 1824. 


Hände vor Freude über die ſeltſame Fahrt, waren vielleicht aber doch 
heimlich froh, als uns der Chriſtoph an all den ſchauerlichen Ecken 
des Kellers vorüber wieder glücklich an den Stufen abgeſetzt hatte. 

Das Waſſer im Dorfe ſtieg nicht mehr; aus der Kirche, die 
auch rings umfluthet war, konnte man das Waſſer ausſchöpfen und 
wir hatten die große Freude, am Sonntag mit dem Onkel zu Schiff 
in die Kirche fahren zu dürfen, wohin das Fleckenſchiff nach und nach 
die Gemeinde brachte. 

Es kamen gar betrübte Geſichter auf dem Schifflein e 
wenn auch die Leute ihr Leben gerettet, ſo hatten ſie doch viel ver⸗ 
loren auf ihren Aeckern und Wieſen, und wußten noch nicht, wie es 
in ihren Häuſern ausſah, die unter dem Waſſer ſtanden. Ein Weib 
ſagte: Heute ſollte der Herr Pfarrer über den Text predigen: „An 
den Waſſern zu Babel ſaßen wir und weineten.“ Der Onkel aber 
predigte über den Pſalm: „Gott iſt unſre Zuverſicht, eine Hilfe in 
den großen Nöthen, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir 
uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge und die Berge mitten in's 
Meer ſänken ꝛc.“ Gar viele Augen wurden naß, und viele Herzen 
gingen getröſtet aus der Kirche. | 

Die Waſſer verliefen, und die Kunde des Unglücks hatte viele 
Herzen aufgethan; es kamen aus der Gegend ganze Wagen voll Korn, 
Stroh und Heu, Beiträge an Geld, Betten, Kleider, Lebensmittel. 
Des Onkels obere Stube wurde ein förmliches Magazin von Vor⸗ 
räthen und wir Kinder freuten uns königlich, als es zur Vertheilung 
kam und die armen Leute mit den neugeſchenkten Kleidern glückſelig 
abzogen, weil ſie in manchen Stücken reicher geworden waren, als ſie 
vorher geweſen. 


Die Waſſer im Jahr 1824. 243 


Der Onkel aber bemühte ſich nachher eifrig um Abhilfe; das 
Bett der Murr wurde auf ſeine Verwendung abgegraben, ſo daß ſie 
auch beim ſtärkſten Regen nie mehr ſo austreten konnte. 

Wer jetzt an der weißen Kirchenmauer ziemlich hoch oben ein 
Schifflein gemalt ſieht mit der Inſchrift: „Anno 1824 iſt das 
Waſſer ſo hoch geſtiegen,“ der wird kaum für möglich halten, daß es 
ſo weit hatte dringen können. Solche Waſſerzeichen von dieſem Jahr 
ſieht man noch faſt allerorten in unſrem Vaterlande. 

In demſelben Sommer, in dem wir in Onkels Keller ſchifffah— 
ren durften, hat ſich an einem andern Ort des Landes eine eigen— 
thümliche Geſchichte zugetragen, die uns den Spruch, den ich über 
dieſe Geſchichte geſchrieben, in ergreifender Weiſe in die Seele ruft. 


Die Nagold iſt ein Fluß am Fuß des württembergiſchen Schwarz⸗ 
walds, nicht viel größer als die Murr; ein ſchöner kleiner Fluß, 
deſſen klare, dunkelblaue Waſſer zwiſchen waldigen Bergen durch 


ſanftgrüne Wieſen ziehen; ein harmloſes Flüßchen, dem niemand an- 


ſieht, wie gefährlich und bedrohlich es zu Zeiten werden kann. 

Im Frühling, wenn der Schnee auf den Bergen ſchmilzt und 
die Waſſer von allen Seiten ſich ſammeln im Thal, oder im Sommer 
wenn heftige Gewitterregen niederſtürzen, dann ſchwillt die kleine 
Nagold zum gewaltigen Strom und reißt mit ſich fort, was ihr im 
Wege liegt, verderblich für Häuſer und Gärten. 

Am Eingange eines kleinen, wohlhabenden Dorfs im Nagoldthale 
ſteht eine ſtattliche Mühle, deren helle Fenſter dem Reiſenden noch 


244 Die Waſſer im Jahr 1824. 


lockender winken als der goldne Löwe des Gaſthauſes, das ihr gegen⸗ 
über ſteht. Raſtlos wie unten das Klappern und Klopfen der Mühl⸗ 
gänge gingen oben die fleißige Hand und die flinken Füße der Frau 
und der Töchter des Müllers. Die Müllerleute hatten das Haus 
mit Schulden übernommen, aber im Vertrauen auf den Segen des 
Herrn, der ihnen auch nicht fehlte. Das Gebot der Schrift: bete 
und arbeite, hielten ſie treulich in Acht. Jeden Morgen und jeden 
Abend hörte man aus der Mühle einen frommen Choralgeſang, und 
der Hausvater betete mit den Seinigen den Morgenſegen, mochte 
das Geſchäft ſo groß ſein als es wollte; den Mühlkunden, die da 
waren, um ihr Korn mahlen zu laſſen, rief der Müller auch herein: 
„Kommt nur, ſchadet Euch nicht, wenn Ihr ein gutes Wort auf 
den Weg nehmt!“ und Mancher war darunter, dem dies herzliche 
Gebet wie eine Mahnung aus der verlaſſenen Heimath in die Seele 
klang, und ihn begleitete auf ſeinen Alltagswegen. 

Einer aber war unter den Mühlkunden, der ſich nie bewegen 
ließ, an der Hausandacht theilzunehmen, ein roher und frecher Geſell, 
der Holzmarte genannt, der in einer zerfallenen Hütte außerhalb 
des Dorfes wohnte. Wenn ihn der Müller einlud: „Marte, komm 
mit herauf, es kommt ja doch noch nicht an Dein Korn,“ ſo rief er 
hohnlachend: „Ich halt' mich an den Starken,“ und ſetzte ſich im 
Löwen mit einem Glas Branntwein an das Fenſter. 

So kam's denn freilich, daß er bald ein viel häufigerer Gaſt 
in dem Wirthshaus als in der Mühle wurde. Seine wenigen, ſchlecht 
gebauten Güter mußten ein's um das andre wegen Schulden verkauft 
werden; da gab es nichts mehr zu mahlen; einen Kreuzer aber, um 
ihn in Branntwein zu vertrinken, konnte er immer noch verdienen. 


Die Waſſer im Jahr 1824. 245 


Martin war Holzhauer und ein ſolcher findet in der waldigen 
Gegend immer guten Verdienſt; aber er arbeitete nur, wenn er mußte. 
Sein liebſtes Geſchäft war die Wilddieberei und was er jo auf ver- 
botnen Wegen endlich mit Mühe und Noth erjagt und heimlich ver— 
kauft hatte, das wurde in wenigen Stunden im Wirthshauſe ver— 
trunken. Sein armes Weib ſuchte indeß mühſam mit Waſchen und 
Taglöhnen das Brod für ſich und ihr einziges Büblein zu verdienen; 
vom Vater hatten ſie nichts als Mißhandlungen, rauhe Worte und 
Flüche. Denn an Flüchen war das Wörterbuch des Martin beſon— 
ders reich; es war in der Gegend ſprichwörtlich geworden: „Er flucht 
wie der Holzmarte.“ Unter andern rohen und läſterlichen Aedens- 
arten brauchte er beſonders häufig als Betheurung: „d'Fiſch ſollen 
mich freſſen!“ Niemand wußte, woher er den Ausdruck hatte, der 
ſonſt nirgends und bei Niemand gebräuchlich war. 

Der regneriſche Sommer 1824 ſchwellte auch die Flüſſe im 
Schwarzwald ſo ſtark wie die im Unterlande. 

Unter denen, für die die Waſſerfluthen Sorge und Schrecken 
brachten, gehörte auch der Müller im Nagoldthale. Die Nagold war 
furchtbar angeſchwollen, und als an einem ſchwülen Tage nach einem 
heftigen Gewitter ein gewaltiger Wolkenbruch niederrauſchte, da tobte 
das wilde Waſſer über alle Schranken, überfluthete das ganze Thal 
und wälzte ſich in mächtigen Wellen gerade auf die Mühle zu. 

Nie zuvor und nie hernach, bis auf den heutigen Tag, hat das 
Waſſer mehr eine ſolche Höhe erreicht. Der Müller hatte in der 
Mühle alle Vorſichtsmaßregeln getroffen, die eine Ueberſchwemmung 
nöthig macht. Aber die Familie hatte nicht daran gedacht, ſich zu 
flüchten. Nun war es zu ſpät. Alle Räume der Mühle waren von 


246 Die Waſſer im Jahr 1824. 


den toſenden Waſſern erfüllt, die Fluth plätſcherte auf der Treppe, 
ſie drang in's Zimmer, höher, immer höher. Der Müller mit Weib 
und Kindern und Geſinde hatte ſich bis auf den oberſten Boden ge⸗ 
flüchtet. „Die Welt geht unter, Meiſter!“ rief entſetzt eine der Mägde. 
„Die Welt geht nicht unter,“ ſagte mit feſtem Tone der Müller; 
„der Herr hat ſein Wort gegeben, daß er die Erde nicht mehr durch 
Waſſer verderben will; ob aber wir unſern Tod in dieſem Gewäſſer 
finden ſollen, das weiß Gott allein; machet Eure Seele bereit.“ 

An Rettung war nicht zu denken, obwohl das Wirthshaus, von 
dem die Strömung ablief, faſt im Trocknen ſtand; die Fluth war 
viel zu hoch und gewaltig um die Mühle, als daß ein Schiff hätte 
durchkommen können, ſelbſt wenn eins in der Nähe geweſen wäre. 

Im Löwen waren alle Fenſter voll Zuſchauer, Leute, die ſich 
theils vor dem Waſſer hergeflüchtet und die zum Theil die Neugierde 
getrieben, das große Gewäſſer zu ſehen. Droben in der Mühle waren 
auf der Heubühne die großen Laden weit offen und mit Mitleid und 
Entſetzen ſahen ſie die Bewohner dort mit angſtbleichen Geſichtern 
zuſammengedrängt. Ein tiefes Erbarmen drang durch die roheſten 
Herzen; nur der Holzmartin ſtellte ſich mit frechem Lachen, das ge⸗ 
füllte Branntweinglas in der Hand, an's offene Fenſter und rief 
denen drüben zu, indem er ihnen zutrank: „Müßt Euch nur an den 
Starken halten!“ 

Alle erbebten über dieſer Rohheit. Der Löwenwirth, ſonſt wohl 
ein leichtſinniger Mann, dachte mit heimlichem Grauen: „Ich wollte, 
ich hätte den gottloſen Gaſt aus dem Hauſe; es iſt nicht gut, zu 
ſolcher Stunde mit ſolchem Menſchen unter Einem Dache zu ſein.“ 

Der Müller drüben aber rief: „Ja, das wollen wir, wir hal⸗ 


Die Waſſer im Jahr 1824. 247 


ten uns an den Starken!“ und er fiel mit all den Seinigen auf die 
Kniee und betete mit lauter und gewaltiger Stimme, die das Rau⸗ 
ſchen des Waſſers faſt übertönte: „Herr, allmächtiger Gott, der Du 
auf dem Meere gewandelt biſt und haſt Wind und See bedroht, daß 
es ſtille war, Du kannſt uns auch jetzt noch aus den Fluthen er— 
retten, ſo es Dein heiliger Wille iſt; haſt Du aber beſchloſſen, daß wir 
darin unſer Ende finden ſollen, ſo führe uns durch Noth und Tod 
in Dein ewiges Reich!“ „Amen!“ tönte leiſe nach von bleichen 
Lippen. 

Mittlerweile hatte die Fluth einen ungeheuren Baumſtamm her- 
beigewälzt, der wohl zu einem ſtattlichen Maſtbaum beſtimmt geweſen; 
durch die Gewalt des Waſſers wurde er quer vor die Mühle geſpannt 
und eine Maſſe von kleinerem Holz, Heu, Stroh, Geräthe, was alles 
der Strom mit ſich führte, hängte ſich daran und bildete ſo in wenig 
Augenblicken einen Damm. 

Dadurch wendete ſich plötzlich der Lauf des Waſſers; die ganze 
Gewalt des Stromes brauste auf das Wirthshaus zu, das Waſſer 
drang zur vordern Hausthüre ein und mit dem Schreckensruf: „Rette 
ſich wer kann!“ ſtürzte der Wirth, der ſich einen Augenblick entfernt 
hatte, in's Zimmer. Angſtvoll drängten ſich alle hinaus. An der 
Hinterſeite des Hauſes lehnte eine Leiter; wer konnte, rettete ſich auf 
dieſer; Andre kletterten über das Dach und bald war Niemand mehr 
im Löwen als der Martin, der halb betrunken, an keine Gefahr 
glauben wollte, und er machte ſich daran, alle die noch halb gefüllten 
Gläſer der Gäſte auszutrinken, hob immer wieder das Branntwein— 
glas in die Höhe und wiederholte mit lallender Zunge den gottes 
läſterlichen Ruf: „Nur an den Starken halten!“ 


248 Die Waſſer im Jahr 1824, 


Da trieben auf's Neue die mächtigen Waſſer eine Maſſe ſtarker 
Baumſtämme daher; mit aller Gewalt der immer wilder tobenden 
Fluth ſtießen ſie an die Ecke des leichtgebauten Wirthshauſes: mit 
furchtbarem Krachen brach ein Theil der Wände ein und der Strom 
drang in alle Räume. ! 

In der Mühle drüben, von der ſich die Waſſer allmählich ver⸗ 
liefen, lagen Alle noch in ſtillem Dankgebet auf den Knieen. 


* * 
* 


Noch vielfach verheerend war der Strom durch's Thal gezogen, 
und als er ſich nach einigen Tagen verlaufen hatte, brauchte es lang, 
bis die armen Leute nur überſehen konnten, wieviel er ihnen geraubt 
und verwüſtet. Doch war in dem ganzen Thal kein Menſchenopfer 
zu beklagen, ſo plötzlich und unerwartet auch die Fluth an manchen 
Orten hereingebrochen war. Nur der Holzmartin war und blieb ver⸗ 
ſchwunden. Viele Leute wollten nicht an ſeinen Tod glauben nach 
dem alten Sprichwort: „Unkraut verdirbt nicht!“ und ſie dachten, er 
treibe ſich irgendwo auf ſchlimmen Wegen herum. Der Müller nahm 
das arme Weib als Taglöhnerin in's Haus mitſammt ihrem Büb⸗ 
lein, das er hoffte auf beſſere Wege zu leiten, als ſein Vater gegangen. 

Viele Wochen nach der Ueberſchwemmung kam ein Fiſcher an 
eine ganz abgelegene Stelle der Nagold; es fiel ihm auf, wie ſich an 
einer ſeichten Stelle des Waſſers große Schaaren von Fiſchen ſam⸗ 
melten und er fuhr auf dem kleinen Nachen näher hin. Da ſah er 
mit Grauſen und Entſetzen den Leichnam eines Mannes, der beinahe 
ganz von den Fiſchen aufgezehrt und nicht mehr zu erkennen war. 

Ihm ſchauderte vor dem Fund. Er ging weiter und erzählte im 


Die Waſſer im Jahr 1824, 249 


nächſten Wirthshauſe, was er geſehen. „Das iſt der Holzmarte, 
den haben die Fiſche gefreſſen!“ rief einer der Zechgäſte, der aus 
Martins Dorfe war. Die Kunde verbreitete ſich; es kamen mehr 
Leute aus ſeinem Dorf, auch Martins Weib; als die zerſtörte Leiche 
an's Ufer gezogen war, erkannte ſie ihren Mann an den Stiefeln, 
die er noch anhatte. Sie wollten ihn am Ufer einſcharren, aber 
das arme Weib bat um Gotteswillen, ihm doch ein Plätzchen auf 
dem Kirchhof zu gönnen. Dort gruben ſie ihn dann in einer Ecke 
ein, ſein Grab iſt nicht mehr zu finden. 

Die Mühle iſt faſt unverſehrt geblieben, und ſo lang der Müller 
und ſein Weib darin wohnte, hörte man nach wie vor die Stimme 
des Dankes und Lobes zu dem Herrn, der ſich hier im Beſchirmen 
wie im Beſtrafen als ein lebendiger Gott bewieſen hat. 

4 Manch verhärtetes Herz aber wurde durch den Tod des Martins 
erſchüttert und gemahnt an den tiefen Ernſt der gewaltigen Worte: 
Irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten. 


Das freundlich gelegene Dorf B. am Neckar zieht ſich am Fuß 
eines ziemlich hohen ſteilen Hügels hin; hoch auf dem Berge ſind 
Kirche und Pfarrhaus gelegen und ſchauen recht väterlich hinab auf 
das Dorf und weit hinaus über den Neckar in das freundliche, ge— 
ſegnete Land. 

Der ſchöne Garten des Pfarrhauſes ging bis dicht an den ſteilen 
Abhang des Berges hin, und war der Stolz der Dorfbewohner; 
denn ſchöner war kein Pfarrgarten weit und breit. Er war des 
Pfarrers Schoßkind, ſeine liebſte Freude und Erholung und man 
wußte nicht, zu welcher Zeit er ſchöner in Blüthe ſtand, ob im 
Frühling, wo vielfarbig blühende Krokus und dunkelſammtne Aurikeln 
die Beete zierten, oder zu der Roſenzeit, wo weiße und roſenrothe, 
geſtreifte und tiefdunkle Roſen in herrlichſter Fülle durcheinander blüh⸗ 
ten, bis zum Herbſt, wo nach den duftenden farbenreichen Nelken die 
ſchönen bunten Aſtern und Georginen den freundlichen Abſchiedsgruß 
boten. 

Das Leben in der Natur und mit der Natur macht ſtill und fried⸗ 
lich; ſo war auch der Pfarrer ein freundlicher, wohlwollender Mann, 
der ſich ſeiner Pfarrkinder liebevoll annahm und immer und überall 
zum Frieden rieth; nur feinen Garten durfte man ihm nicht verder— 


254 Balthaſars Aepfelbäume. 


ben! das hätte er ſchwer verziehen. Nicht einmal ſeiner lieben Frau 
erlaubte er gern, daß ſie im Garten Blumen brach; er ſelbſt brachte 
ihr jeden Samſtag Abend einen duftigen, ſchönen Blumenſtrauß, um 
für den Sonntag die Zimmer damit feſtlich zu ſchmücken; auch durf⸗ 
ten am Abend vor der Konfirmation alle die Kinder, die eingeſegnet 
werden ſollten, noch herauf kommen in den Pfarrgarten; da hatte die 
Frau Pfarrerin für jedes ein liebliches Sträußchen gebunden, aus 
Immergrün, frühen Roſenknöspchen, Aurikeln und Gartenvergißmein⸗ 
nicht; der Pfarrer ſprach dazu mit jedem ein paar herzliche Worte, 
die ihnen ſo tief zu Herzen gingen, als der Segen in der Kirche, 
weil er da mehr als es vor der ganzen Gemeinde anging, auf die 
beſondre Herzensſtellung und häusliche Lage jedes Kindes Bedacht 
nehmen konnte. Es waren viele Männer und Frauen im Dorfe, die 
noch in ihrer Bibel ſorgfältig getrocknet das Konfirmationsſträußchen 
von der Hand des Herrn Pfarrers aufbewahrten. 
| Der getreue Beiſtand und Gehilfe des Pfarrers bei feinen Gar⸗ 
tenarbeiten war der alte Balthes, fein Nachbar, deſſen Häuschen 
noch am Abhang des Hügels dem Pfarrhaus zunächſt ſtand. Bal⸗ 
thaſar war ein geſchickter Weingärtner geweſen, hatte aber jetzt ſeine 
Güter und Weinberge einem Sohn abgetreten und arbeitete nun, wie 
er ſagte, „nur zum Plaiſir.“ Sein Plaiſir war aber, recht fleißig 
zu arbeiten; er hatte eine beſonders geſchickte Hand in Behandlung 
und Veredlung der Obſtbäume; dieſes Gebiet war ihm denn im 
Pfarrgarten ganz überlaſſen, und es war ſeines Herzens Freude, 
wenn der Herr Pfarrer im Herbſt auf einem Tiſch im Garten all 
die prächtigen Obſtſorten auslegte, die er mit Hilfe des Balthaſars 
in ſeinem Garten gezogen hatte. Da lagen die dunkelrothen Calvil, 


Balthaſars Aepfelbäume. 255 


goldgelbe Reinetten, fein geſtreifte Nelkenäpfel, dazu ganz neue feine 
Sorten mit wunderbarlichen Namen: Götterapfel aus der Moldau, 
Sommertaubenapfel und ähnliche. Auch die ſeltnen Roſenbäumchen 
durfte er mit andern Roſen veredlen, und es erſchien den Leuten 
ein wahres Wunder, wenn auf einem Stämmchen rothe und gelbe 
Roſen wuchſen. Nur in Einem Punkte hatten der Pfarrer und Balthes 
manchmal Streit miteinander: der Pfarrer wollte alles recht hübſch 
gleich vertheilt, immer paſſende Blumen, Sträuche und Bäume einan⸗ 
der gegenüber; des Balthes Grundſatz aber war: „nur nichts um⸗ 
kommen laſſen!“ und er pflanzte ſeine jungen Schößlinge oder Roſen⸗ 
ableger oft an recht ungeſchickte Orte, nur damit ſie doch ja nicht 
verderben ſollten. 

Einmal waren auch neue, ſchöne Aepfelſtämmchen angekommen; 
der Pfarrer mußte zu ſeinem Bedauern zu einer Disputation in die 
Stadt und konnte nicht ſelbſt bei der Anpflanzung ſein, er gab aber 
dem Balthes genaueſte Anweiſung, wohin er die Bäumchen ſetzen 
müſſe. 

„Iſt alles richtig?“ fragte er Abends bei der Heimkunft; „alles 
im Stande,“ ſagte Balthes, der in ſeiner Jugend Soldat geweſen 
war, im Tone eines militäriſchen Rapports. 

„Sind alle zwölf auf die rechten Plätze gekommen?“ 

„Alle zwölf!“ berichtete Balthes; „'s ſind aber mit des Herrn 
Pfarrers Erlaubniß fünfzehn geweſen.“ 

„Fünfzehn!“ rief erſchrocken der Pfarrer; „da habt Ihr mir 
gewiß die drei recht ungeſchickt herumgeſetzt!“ 

„Hab' ſie mit des Herrn Pfarrers Erlaubniß auf den Burzbühl 
geſetzt, damit ſie dem Herrn Pfarrer gewiß nicht im Wege ſein ſollen.“ 


256 Balthaſars Aepfelbäume. 


„Auf den Burzbühl!“ rief halb lachend, halb ärgerlich der 
Pfarrer; „aber, Balthes, da hinauf kommt ja niemand und wenn 
die Bäume einmal Aepfel tragen, ſo fallen ſie alle den Berg hinunter!“ 

Der ſogenannte Burzbühl war nämlich die höchſte Stelle im 
Garten, von der aus es ganz ſteil den Berg hinab ging; damit nie⸗ 
mand zu Schaden komme, hatte der Pfarrer vor derſelben niedriges 
Geſträuch gepflanzt und jedermann verboten, in dieſe Gegend des 
Gartens zu gehen; außerhalb dieſer Geſträuche nun, am äußerſten 
Rand des Abhangs hatte Balthes die drei Bäumchen gepflanzt, aus 
lauter Reſpekt vor dem Ordnungsſinn des Herrn Pfarrers. 

„Mit des Herrn Pfarrers Erlaubniß,“ ſagte er, „da oben hin⸗ 
dern fie niemand; nutzt's nichts, jo ſchadt's nichts; nur nichts um⸗ 
kommen laſſen!“ | 

„Nun in Gottes Namen! fie ftehen auch wohl da oben,“ ſagte 
der Pfarrer, der ſeinen alten Nachbar und Gehilfen ja nicht betrüben 
wollte. So blieben die Bäumchen ſtehen, wuchſen und gediehen, ob⸗ 
gleich ſie ſparſameres Erdreich hatten als die andern; die Früchte 
waren zum Glück grün und unſcheinbar, ſo daß ſich wohl die Buben 
im Thal unten ergötzten, wenn hie und da ein Apfel herunterrollte, 
aber niemand ſich angetrieben fühlte, ſein Leben zu wagen, um die 
grünen Aepfelein zu holen. | 


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Der Pfarrer und feine Frau waren nicht mit Kindern geſegnet; 
ſie hatten aber darum doch ein weites, offnes Herz für die Kinder⸗ 
welt, und eine fröhlichere Ferienheimath als beim Onkel Pfarrer 
konnte es in der ganzen Welt nicht geben. So hatte denn auch 


Balthaſars Aepfelbäume. 257 


Ludwig, der Sohn von des Pfarrers jüngſter Schweſter, ſeine Herbſt⸗ 
vakanz äußerſt glückſelig im Pfarrhauſe zugebracht. Ludwigs Eltern 
wohnten in der Stadt; da ſah man die freie Natur und grüne Bäume 
nur, wenn man etwa Abends oder Sonntags ſpazieren ging; Obſt 
zum Vesper holte man um einige Kreuzer bei der Apfelfrau an der 
Ecke und vertheilte es ſorgfältig ſtückweiſe unter die Kleinen. Hier 
aber auf dem Lande ſaß Ludwig in aller Hülle und Fülle eines ge⸗ 
ſegneten Herbſtes. Der Onkel hatte neben dem Ertrag des eignen 
Gartens noch den Obſtzehnten; da kamen tagtäglich ganze Körbe voll 
der ſchönſten Aepfel, von denen ſich Ludwig die allerſchönſten aus⸗ 
wählte; dann wurde er täglich in einen andern Weinberg geladen, wo 
er Trauben aß, nicht nur ſo viel er mochte, ſondern ſo viel er 
konnte. Mit Balthaſars Enkeln, ein paar ordentlichen, rothbackigen 
Buben, zog er auf ihres Vaters Baumgut, wo ſie mit langen Stan⸗ 
gen prüchtige Wallnüſſe von den Bäumen ſchlagen durften, oder ging 
er hinunter zum Fergen, mit dem er lange ſchon befreundet war; 
er legte ſich in das Schifflein und ſchaute zum blauen Himmel auf, 
während es fein ſachte über den Neckar hinüber und herüber fuhr. 

Auch am Abend war's ſchön; da ſaß er zwiſchen der guten 
Tante und dem freundlichen Onkel bei der Lampe am Tiſch und 
durfte die ſeltnen alten Bilderbibeln ſehen, von denen der Onkel eine 
ſchöne Sammlung hatte. 

Aber alles nimmt ein Ende, und ſo auch dieſe ſchöne Herbſt⸗ 
vakanz. Der Vater ſchrieb, Ludwig ſolle von B. zu Fuß zu ſeinem 
Freunde, dem Amtmann zu M. gehen, der ihm verſprochen, den 
Ludwig auf ſeinem Wägelein ſelbſt zur Stadt zu bringen. 

Wildermuth, Aus Schloß und Hütte. 2. Aufl. 17 


258 Balthaſars Aepfelbäume. 


„Es thut mir leid, Ludwig,“ ſagte Onkel Pfarrer, „daß ich 
eben heute in's Pfarrkränzchen nach J. muß; ich hätte dich ſonſt 
gern zum Herrn Amtmann begleitet; geh' mir nicht zu ſpät, damit 
Du noch bei guter Tageszeit nach M. kommſt; behüt' Dich Gott 
und grüß' mir Deine Eltern; wir haben Dich gern gehabt.“ 

Ludwig konnte dem Onkel nur die Hand geben; er hätte weinen 
müſſen, wenn er zu ſprechen verſucht hätte, ſo ſchwer war ihm das 
Herz; der Onkel verſtand es wohl und wußte, daß Ludwig nicht 
undankbar war. „Halt Dich gut und lern' fleißig,“ ſagte er, indem 
er ihm liebreich auf den Kopf klopfte, „dann kommſt Du zu Oſtern 
wieder mit Deiner Schweſter und ſiehſt, was der Haſe gelegt hat.“ 
Dieſe tröſtliche Ausſicht machte Ludwig wirklich das Scheiden leichter. 

Die gute Tante wußte gar nicht, was alles ſie dem Kleinen 
noch zu Lieb thun ſollte. Sie machte ihm ſüße Eiermilch, ſtopfte 
ſein Ränzchen voll mit Dampfnudeln, Aepfeln und Bergamottbirnen. 
„Trauben ſchicke ich euch,“ vertröſtete ſie ihn; „die könnteſt Du nicht 
tragen; aber jetzt, Ludwig, ſollteſt Du wirklich machen, daß Du fort⸗ 
kommſt; der Tag iſt ſchon kurz, und auf dem Weg zwiſchen den 
Weinbergen kann man gar leicht irre gehen.“ 

Ludwig hatte aber noch allerlei zu beſorgen, ehe er ſich auf bi 
Weg machte: er mußte ſich draußen im Gehölz noch einen Wander⸗ 
ſtab ſchneiden für die Reiſe; er hatte ſchöne Blumen getrocknet für 
die Mutter, die damit hübſche Arbeiten machte, und ſein Freund 
Gottfried hatte ihm warmen Flammkuchen verſprochen und ein Aepfel⸗ 
laiblein, da heute Brodbacken war. 

Endlich war er doch bereit und reiſefertig, nahm ſich ritterlich 
zuſammen, um der Tante zu danken und auch der alten Katherine, 


259 


ten, Lebewohl zu jagen; und nun ging er mit einem ftattlichen Ge⸗ 
leite der Dorfjungen hinunter, am Fergen vorüber, da er nach M. 
nicht nöthig hatte über den Neckar zu fahren, durch die Wieſen bis 
zu den Weinbergen, wo ſeine Kameraden von ihm ſchieden. 

Zuerſt war dem Ludwig ganz betrüblich zu Muthe, wie er ſo 
allein ſeines Weges zog; dann aber dachte er an Vater und Mutter 
daheim, an ſein Schweſterlein und an den netten dicken kleinen Bru⸗ 

der, an all ſeine Kameraden und ihre Spiele, daß er ſich auch wieder 
| recht von Herzen freuen konnte auf's Heimkommen. Ob er ſich auch 
auf ſeinen Herrn Präzeptor freute und auf die Schule, das hat mir 
der Ludwig nie erzählt; ich hoffe aber es war ſo, da er doch ein 
braver, fleißiger Bube war. a 
Aber ſpät war er fortgekommen; das merkte er jetzt erſt, wo 
es ſo bald dunkel wurde auf ſeinem Wege; keine Seele begegnete 
ihm, da hier Weinberge und Bäume ſchon abgeleſen waren und alle 
Leute auf einer ganz andern Seite im Felde waren; ſein Ränzchen 
drückte ihn, er beſchloß es zu erleichtern, ſuchte ſich ein ordentliches 
Plätzchen zum Sitzen und verzehrte ein paar Birnen und Dampf⸗ 
nudeln, was wirklich verwunderlich war, nach all dem, was er ſchon 
im Pfarrhaus geleiſtet hatte. 

Als er fertig war und ſein Ränzchen wieder zugeſchnallt hatte, 
dunkelte es bereits ziemlich und in der tiefen Stille ringsum ward 
dem guten Ludwig gar bänglich um's Herz. Allerlei ſchauerliche 
Geſchichten fielen ihm ein, die ihm die Buben erzählt von geſpenſti⸗ 
ſchen Erſcheinungen gerade auf dieſem Wege; nach M. hatte er wenig— 
ſtens noch eine Stunde. Da wurde es ſtockfinſter Nacht; der Himmel 


260 Balthaſars Aepfelbäume. 


war trübe; es kam ihm immer gefährlicher und unheimlicher vor. 
Da erinnerte er ſich, daß die Tante ihm nachgerufen: „Wenn's zu 
ſpät wird, Ludwig, ſo kehr lieber wieder um.“ Dieſer Rath, den 
er im vollen Tageslichte ſtolz verſchmäht hatte, kam ihm jetzt in 
der bänglichen, tiefen Abendſtille immer einleuchtender vor, und er 
beſchloß plötzlich, ihm zu folgen. Er wußte, daß oben durch die 
Weinberge ein näherer Weg gerade zum Pfarrhaus führte; den be⸗ 
ſchloß er unverdroſſen einzuſchlagen, wenn man ihn auch dort ein 
Bischen auslachte, — die Stube des Onkels beim Lampenſchein war 
gar zu gemüthlich, der einſam nächtliche Weg nach M. ſo gar un⸗ 
heimlich. Zum Helden war ſcheints der Ludwig nicht berufen; es 
iſt aber ein rechter, tüchtiger Pfarrherr aus ihm geworden, der ge⸗ 
lernt hat auch dunkle Wege ohne Furcht zu gehen. 

Geſagt, gethan! Ludwig machte ſich auf und lief ein gut Theil 
ſchneller zurück, als er hergekommen war; aber er fand, daß Wein⸗ 
bergwege nicht ſo leicht zu finden ſind, wie er ſich gedacht; bald kam 
er hinunter, bald herauf, es wurde immer dunkler und zuletzt wußte 
er gar nicht mehr, wo er war. Die Angſt der Verirrten kam über 
ihn; bange rief er in die Dunkelheit hinaus und fürchtete ſich faſt 
vor ſeiner eignen Stimme, auf die niemand Antwort gab. 

Jetzt lernte Ludwig was beten heißt; aus tiefſter Herzensnoth 
bat er Gott um Hilfe, daß er ihn nicht möge die lange ſchaurige 
Nacht einſam laſſen oder hinabſtürzen über die Felſen, die, wie er 
wohl wußte, in den Weinbergen waren. 

Da war ihm, als ſähe er über ſich ein Lichtlein, wenn das vom 
Pfarrhaus wäre! Um ihn her war es ſtockfinſter; er krabbelte ſeinen 
Weg und klimmte aufwärts; es war nicht mehr das holperige Ge⸗ 


Balthaſars Aepfelbäume. i 261 


ſtäffel der Weinberge; der Boden war abſchüſſig, mühſam ging's 
immer aufwärts; Erde und kleine Steine rutſchten beſtändig unter 
ſeinen Füßen. Endlich meinte er oben zu ſein, da wich der Boden 
unter ihm; er wäre rücklings hinabgeſtürzt, wenn er nicht in höchſter 
Noth mit beiden Händen etwas Feſtſtehendes erfaßt hätte. Es ſchien 
ein Baumſtamm zu ſein; mit unſäglicher Mühe arbeitete er ſich an 
dieſem Halt hinauf, richtete ſich auf und fühlte endlich wieder feſten 
Grund unter den Füßen; es ging durch Geſträuch, das ihm die 
Hände zerkratzte; er achtete es nicht, — da ſah er das Licht wieder; — 
der Himmel war in dem Augenblick etwas heller; er täuſchte ſich 
nicht, das Licht war aus des Onkels Studierſtube! Nun nahm er 
ſeine letzten Kräfte zuſammen, lief bis zu der Gartenthür, die war 
verſchloſſen. „Tante, Onkel!“ rief er, ſo laut er konnte, dann aber 
ſank der arme Junge übermüdet ganz erſchöpft zur Erde. 

Da fand ihn die Katherine, die zum Glück noch im Hof war 
und ſeinen Nothruf vernommen hatte, die brachte ihn hinauf und 
großer Jammer war bei Onkel und Tante, als ihr liebes Büblein 
ſo todtmüde mit zeriſſenen Kleidern und zerkratzten Händen ohne 
Mütze und Ränzchen hereingebracht wurde. | 

Auf dem Sopha von der freundlichen Tante gepflegt, gewaschen, 
mit warmem Thee erquickt, erholte ſich Ludwig bald wieder jo, daß 
er ſein Abenteuer erzählen konnte; er wurde von der Tante gehörig 
bedauert und ſchlief bald in dem weichen Bett des traulichen Gaſt⸗ 
ſtübchens feſt und ſüß, nachdem er aus voller Seele Gott gedankt 
für ſeine Hülfe. 

Am andern Tag ſah man die Stätte ein, wo Ludwig aus ſo 
großer Gefahr gerettet worden war. Er war wirklich von den Wein⸗ 


262 Balthaſars Aepfelbäume. 


bergen auf den ſteilen abſchüſſigen Hügel gekommen, auf dem das 
Pfarrhaus ſtand, und wäre ohne allen Zweifel hinunter geſtürzt auf 
das Steingerölle, wo man jetzt ſein Ränzchen und ſeine Mütze liegen | 
ſah, wenn er fich nicht an den Aepfelbäumen hätte halten und em- 
porarbeiten können. 

„Das ſind Balthaſars Bäume!“ rief der Pfarrer mit Rührung; 
man mußte den Alten holen, und erzählte ihm die wunderbare Ge⸗ 
ſchichte. „Gott ſegnet das Werk der redlichen Hand, die auch das 
Kleinſte zu Rathe hält,“ ſagte der Pfarrer, indem er ſeinem alten 
Freunde die Hand drückte. f 

Ludwig wurde mit ſicherem Geleite am klaren Tage zum Herrn 
Amtmann und zu ſeinen Eltern nach Hauſe befördert. Die Ge⸗ 
ſchichte ſeiner nächtlichen Verirrung und der Rettung durch Baltha⸗ 
ſars Aepfelbäume wurde bei Eltern, Geſchwiſtern und Schulkameraden 
gründlich und reichlich erzählt und ſeine Mama ſchickte dem alten 
Balthes eine ſchöne Doſe zum Geſchenk. 

Der Onkel Pfarrer und ſeine gute Frau liegen nun lange 
„ auf dem Kirchhof, wohin noch vor ihnen der alte Nachbar 
gebettet wurde; die Aepfelbäume aber, obſchon nicht eben ſchlank und 
gerade gewachſen, biegen ſich noch ſtark und vieläſtig über den Ab⸗ 
hang, und laſſen ihre Früchte zum Beſten durſtiger Wanderer den 
Berg hinab rollen. Ludwig zeigt ſie ſeinen Kindern, ſo oft er einen 
Ausflug mit ihnen macht zu der Stätte ſeiner Jugendfreuden und 
gedenkt dann immer mit dankbarer Rührung des alten Balthaſar, 
der nichts wollte umkommen laſſen. | 


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